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Arbeits­markt­po­litik und Arbeits­markt

Eine Bilanz der letzten zehn Jahre

aus: Vorgänge 191 ( Heft 3/2010), S.18-26

Ausgangslage

Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind seit Langem durch technische, sozioökonomische und organisatorische Strukturveränderungen im Zuge des internationalen Wettbewerbs und der weltweiten Arbeitsteilung gekennzeichnet. Diese bedingen in Deutschland einen Wegfall einfacher Tätigkeiten vorwiegend im Industriesektor, sie erhöhen die Kompetenzanforderungen und sie verschärfen die strukturelle Arbeitslosigkeit. Lange Zeit stieg die Sockelarbeitslosigkeit. Vor diesem Hintergrund hat sich eine nachfrageorientierte Wirtscharts- und eine auf Lohnersatzleistungen orientierte passive Arbeitsmarktpolitik als nicht hinreichend herausgestellt, um die Beschäftigungssituation und damit die Produktivität der Volkswirtschaft zu verbessern.

Die jüngsten Arbeitsmarktreformen sind durch Angebotsorientierung kennzeichnet. Grundsätzlich ist ein solcher Ansatz Erfolg versprechend, einerseits um dem stetigen Strukturwandel Rechnung zu tragen, anderseits um eine wirtschafts- und strukturpolitische Gesamtstrategie für eine sozial und ökologisch nachhaltige Produktivitätsentwicklung unterstützen zu können. Voraussetzung hierfür wiederum ist, dass Qualifikationen und Kompetenzen gesteigert sowie Zeitspielräume für Anpassungen geschaffen werden. Sie dienen als Flexibilitätspotential und sind notwendig, um Strukturveränderungsprozesse ergiebig und kreativ gestalten zu können. Dies gilt umso mehr, wenn ein hohes berufsfachliches Niveau bzw. gut ausgebildete Facharbeit als eine wichtige Basis für ein qualitatives Wachstum erhalten werden soll.

Entwick­lungen am Arbeits­markt und in der Arbeits­markt­po­litik

Ein solcher Weg ist steinig. Dies wird deutlich, wenn wir uns die Entwicklungen am Arbeitsmarkt im zurückliegenden Jahrzehnt betrachten.

Erstens blicken wir auf eine gestiegene weltwirtschaftliche Integration und einen zunehmenden Wettbewerbsdruck zwischen und im Inneren von Unternehmen sowie auf eine erhöhte Abhängigkeit von konjunkturellen Zyklen und Krisen mit weltweiten Folgewirkungen, wie etwa im Falle der Dotcom-Krise 2000, der Anschläge vom 11.9. 2001 und der Immobilien- und Finanzkrise ab 2007. Damit verbunden waren in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts leichte Beschäftigungsrückgänge, steigende Arbeitslosigkeit und eine stärkere Substitution von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

Zweitens lässt sich eine Fortsetzung des Ausbaus der Dienstleistungswirtschaft konstatieren. Dieser korrespondiert einerseits mit einer weiter steigenden Erwerbsintegration von Frauen und geht anderseits mit einer deutlichen Zunahme gering entlohnter Beschäftigung einher. Darüber hinaus sanken insbesondere in diesem Sektor seit den 1990er Jahren – und bei Kontrolle soziodemographischer und konjunktureller Effekte – die durchschnittlichen betrieblichen Beschäftigungsdauern (Struck 2006). Ursächlich hierfür sind unter anderem die geringeren betriebsspezifischen Qualifikationserfordernisse in den Dienstleistungsberufen. In allen Wirtschaftssektoren wurden auf Grund von Wettbewerb und zeitflexiblen Kundenwünschen zudem die Nutzung flexibler Arbeitsformen wie insbesondere Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit intensiviert und Arbeitszeiten sowie die Entlohnung flexibilisiert (Seifen/Strack 2009).

Drittens hat sich in den Bereichen der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Tarifpolitik Wesentliches verändert. Die Tarifpolitik war im letzten Jahrzehnt gekennzeichnet durch Lohnzurückhaltung und Ergänzungen von Flexibilisierungsmöglichkeiten durch Öffnungsklauseln und Betriebsvereinbarungen. Zudem wurden im Zuge des globalen Wettbewerbs und unter (Abwanderungs-)Druck von Unternehmen die staatlichen Maßnahmen und Instrumente der sozialen Teilhabesicherung und Umverteilung zunehmend unter Rechtfertigungsdruck gestellt. Sie müssen sich an ihrem produktiven Beitrag zur nationalen oder gar europäischen Wettbewerbsorientierung messen lassen. Zugleich gelingt es der Wirtschaft, sich mit dem Argument einer bedrohten Wettbewerbsfähigkeit der Finanzierung der sozialen Infrashukturaufgaben zu entziehen. In der Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik standen in diesem Kontext die vier „Hartz-Gesetze” und die „Agenda 2010” im Vordergrund. Diese werden im Weiteren näher betrachtet.

Praxis und Wirkungen der Arbeits­markt­po­litik

Für die Evaluationen der Reformen wurde viel Zeit und Geld aufgewendet und zunehmend geeignete statistische Verfahren eingesetzt (Klaue et al. 2007; Stephan/Rässler/ Schewe 2008). Gleichwohl mangelt es immer noch an umfassenden und validen Berechnungsmöglichkeiten, etwa um indirekte Wirkungen einzelner Maßnahmen sowie makroökonomische Wirkungszusammenhänge nachzeichnen zu können. Aus diesem Grund und entsprechend der hier gebotenen Kürze lassen sich im Folgenden lediglich einzelne, doch durchaus bedeutsame Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen darlegen.Eine wesentliche Wirkung ist die Förderung der Flexibilisierung am Rand des Arbeitsmarktes. Ursächlich hierfür sind u. a. die Neuregelungen von Mini-Jobs und Leiharbeit, die staatliche Förderung von Selbstständigkeit im Rahmen der „Ich-AG” oder Existenzgründerbeihilfen sowie der Wegfall des Meisterzwangs in einigen Handwerksbereichen. Ebenfalls Flexibilität begünstigend wirken die, die Eigenaktivität fordernden (und weniger fördernden) Elemente im Bereich des Arbeitslosengeld I und ein auf Erwerbsintegration ausgerichtetes System der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II).

Reformen der Arbeitsverwaltung sowie ihrer Maßnahmen und Instrumente bewirkten erstens: Einschränkungen der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, vielfach starke finanzielle Einbußen bei einem Übergang in den Bezug des Arbeitslosengeld II, pauschalierte und vielfach knappere Regelsätze für Bedarfgemeinschaften sowie verschärfte Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und längerfristigen Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen und dementsprechend längerfristige Transferzahlungen sowie auch Frühverrentungsmaßnahmen wurden abgebaut. Neben der erwünschten Steigerung der Flexibilität führten diese Änderungen sehr häufig zu einer beschleunigten Entwertung des bisher in der Erwerbsbiographie Geleisteten, wodurch weit über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus Status- und Annerkennungsängste erzeugt wurden. Ein wesentliches Ziel war die Anreizsteigerung für schnelle Widereinstiege. So genannte „Look-in-Effekte”, die insbesondere bei ABM- und zum Teil bei längerfristigen (Um-)Schulungsmaßnahmen zu beobachten waren, sollten vermieden werden. Zugleich senkt eine Orientierung auf benachteiligte Zielgruppen bei Eingliederungszuschüssen Mitnahme- und Substitutionseffekte.

Zweitens sollten u. a. durch Verbesserung der Betreuungsrelationen von Mitarbeitern zu Arbeitsuchenden, Wiedereingliederungspläne, differenzierte und praxisorientierte Instrumentenwahl und durch die Experimentierklausel die Integrationsmaßnahmen und Instrumente zielgenauer auf die Bedürfnisse der Beschäftigungssuchenden im Kontext der jeweiligen Arbeitsmarktsituation abgestimmt werden. Im Gegensatz zu den zu-vor genannten Pfaden ist dieser Weg (bislang) nur unvollständig beschritten worden.

Die Reformen haben Sicherheit gemindert, die Zunahme von Flexibilisierung am Arbeitsmarkt unterstützt und mit dazu beigetragen, die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Hierbei handelt es sich um einen Effekt, der sich auch bei Berücksichtigung von Veränderungen bei der Erfassung von Arbeitssuchenden sowie unter Einbezug konjunktureller oder demographischer Veränderungen zeigen lässt (Knuth 2010; Möller 2010).

Zu erklären ist ein Teil der Erhöhung der Beschäftigungsquote u. a. dadurch, dass sich im Zuge einer derart auf Aktivierung setzenden Arbeitsmarktpolitik die Erwartungshaltung von Arbeitslosen in Bezug auf finanzielle Leistungstransfers und Unterstützungsmaßnahmen seitens des Staates gemindert hat und ihre Konzessionsbereitschaft in Bezug auf Löhne und Arbeits- und Mobilitätsanforderungen stieg.

Zugleich hat sich mit den Reformen aber auch der Druck auf die Beschäftigten erhöht. Zum einen nahmen mit der Umsetzung der Reformen die Ängste vor den nunmehr schonungsloseren Folgen von Arbeitslosigkeit zu. Zum anderen können Unternehmen vielfach Beschäftigungsuchende zu teilweise deutlich verschlechterten Konditionen einstellen, so etwa zu geringeren Löhnen, befristet, als Leiharbeitnehmer etc. Vor allem in den Beschäftigungssegmenten, in denen etwa auf Grund mangelnder Exklusivität von Qualifikationen eine Konkurrenz zu Neueinsteigern besteht, finden diese Veränderungen ihren Niederschlag ebenfalls in einer höheren Konzessionsbereitschaft für Leistungsverdichtung, Höherbeanspruchung, Zeitflexibilität und Lohnzurückhaltung.Insgesamt ist die Steigerung der Beschäftigtenquote für einen größeren Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung mit einer größeren Unsicherheit, geringerer Entlohnungund hoher Flexibilität zwischen Randbeschäftigung und Transferabhängigkeit verbunden. Dies gilt umso mehr, da die ursprünglich prognostizierte „Brückenfunktion” von Niedriglohn, Leiharbeit, Mini-Jobs in „Normalarbeitsverhältnisse”, d. h. zu höherem Einkommen, stabilerer Beschäftigung und besserem Zugang zu betrieblicher Weiterbildung zu kommen, nur sehr unzureichend funktioniert.

Eine wesentliche Problematik besteht in der Segmentierung zwischen anteilig äbnehmenden stabilen und geschützten Beschäftigungssystemen einerseits und wachsenden numerisch-flexiblen Arbeitsformen, die häufig mit Arbeitslosigkeitsphasen verbunden sind, anderseits. Dieses zuletzt genannte Segment ist vielfach durch Qualifikationsverlust, unzureichende Qualifizierungschancen und dementsprechend geringe Auf stiegsmöglichkeiten gekennzeichnet. Insbesondere hier sind verstärkt Anstrengungen zu unternehmen, um Anreize und Möglichkeiten und damit verbunden Sicherheiten durch Investitionen in Bildung zu schaffen.

Alles in allem gerät somit ein wesentlicher Leitgedanke der Reformen: „Hauptsache Arbeit” – um die soziale Teilhabe über Integration in Beschäftigung sowie eine verbesserte Einahmen- und Ausgabenbilanz in den staatlichen Sozialversicherungssystemen zu ermöglichen – in Widerspruch zu einer Praxis, die gekennzeichnet ist durch eine polarisierte Struktur auf den Arbeitsmärkten, steigende Qualifikationsanforderungen, unzureichende Förderstrukturen der Sozialverwaltungen und individuelle Überbeanspruchung vieler Arbeitssuchender.

Auch wenn sich das Beschäftigungsniveau erhöht hat, kann nicht davon gesprochen werden, dass die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt überwunden wurden. Vielleicht weniger die jüngste Wirtschaftskrise selbst, als vielmehr eine unzureichende aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die seit Langem ungenügenden Bildungsanstrengungen im Bereich der schulischen und beruflichen Erst- und Fortbildung – die infolge der Wirtschaftskrise in Gefahr geraten unzureichend finanziert zu werden –, wie vor allem auch die Folgen des Geburtenrückgangs und des zu erwartenden Fachkräftemangels sind geeignet, die Strukturanpassungsprobleme zukünftig noch deutlicher hervortreten zu lassen.

Die Bewältigung dieser Probleme führt über die Überwindung einer mangelnden Beschäftigungsfähigkeit einzelner Gruppen am Arbeitsmarkt. Hier ist der Blick auf die zuvor betrachteten finanziell und qualifikatorisch benachteiligten Gruppen an den Rändern der betrieblichen Arbeitsmärkte zu richten, die etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen (Alda 2006). Zu Berücksichtigen sind dabei ebenso die 17 Prozent der jungen Erwachsenen, die bis zum Alter von 29 Jahren keinen Berufsabschluss erwerben und hochgradig von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht sind. Und nicht zuletzt ist der nach wie vor hohe Anteil der Langzeitarbeitslosen einzubeziehen. Gemessen an allen Erwerbspersonen beträgt dieser Anteil seit Jahren stabil etwa 3,8 Prozent, bzw. etwa 50 Prozent aller in der Arbeitslosenstatistik geführten Menschen. Während Konjunkturschwünge die Zahlen von Kurzeitarbeitslosen in starkem Maße beeinflussen, gelingt Langzeitarbeitslosen der Übergang in Beschäftigung vorrangig in längerfristigen Aufschwungphasen. Sie benötigen mehr Zeit und zumeist eine intensive Betreuung durch Vermittlungsagenturen oder Coaches u. ä., um durch den (Neu-)Aufbau angemessener fachlicher, sozialer, kultureller und persönlicher Ressourcen ihre Benachteiligungen am Arbeitsmarkt ausgleichen zu können.

Bei allen genannten Gruppen besteht das Problem nicht ausreichender und teilweise entwerteter beruflich nutzbarer Qualifikationen, die oft eine stabile Arbeitsmarktintegration verhindern. Dabei gehen die strukturellen Probleme mit zum Teil erheblichen finanziellen, sozialen sowie persönlichen Schwierigkeiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen einher. Sie verursachen zudem unliebsame volkwirtschaftliche Folgekosten und Produktivitätseinbußen und sie fördern negative Bildungs- und Leistungsanreize, nicht nur in den so genannten „bildungsfernen Milieus”.

Ansatz­punkte einer Nachjus­tie­rungen der Arbeits­markt- und Sozial­po­litik

Systeme sozialer Sicherheit sind in national spezifischer Weise an Arbeitsmärkte und damit an Einkommen durch Erwerbsarbeit gekoppelt. Sie weisen charakteristische Finanzierungs-, Auszahlungs- und Legitimationsmuster auf, die von Interessengruppen auch unter wechselseitig akzeptierten gesamtgesellschaftlichen Effizienzkriterien aus-gehandelt werden. Das in Deutschland verfolgte und institutionell geprägte Leitmodell ist gekennzeichnet durch ein hohes berufsfachliches Ausbildungsniveau, ein Qualifikation schützendes und stimulierendes „Normalarbeitsverhältnis” und eine Lohnarbeitszentriertheit der auf Statussicherung zielenden sozialen Sicherungssysteme.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine enge Kopplung zwischen Ausbildung, Erwerbsarbeit und dem sozialen Sicherungssystem voraussetzungsvoll ist: Die Qualität der Ausbildung und Anreize zur Qualifizierungen müssen sichergestellt sein. Es müssen ausreichend Erwerbsarbeit für alle Erwerbspersonen sowie gesicherte Berufspfade vorhanden sein. Und die Erwerbseinkommen müssen ein aktuell Existenz sicherndes Mindesteinkommen überschreiten, damit die Finanzierung der Sozialversicherungen sowie die Ansprüche auf Leistungen etwa im Rentenalter, im Krankheitsfall etc, über abhängige Erwerbsarbeit sichergestellt werden können.

Schon in der Vergangenheit waren diese Voraussetzungen für einzelne Gruppen, darunter u. a. für viele Frauen, Ausländer und/oder Geringqualifizierte nicht erfüllt. Bei aller geäußerten Kritik wurde die zuvor beschriebene Kopplung, auf Grund ihrer positiven Leitwerte sowie Pfadabhängigkeiten in der institutionellen Praxis nicht entscheidend in Frage gestellt. Wenn jedoch Erwerbsarbeit zunehmend durch Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist, wenn sie häufiger oder längerfristiger durch Arbeitslosigkeits- und Familienphasen unterbrochen wird und (Wieder-)Einstige in Erwerbsarbeit in riskante und gering entlohnte Erwerbsarbeitsphasen münden und wenn die Unsicherheiten von berufs- und tätigkeitsspezifischen Bildungsinvestitionen steigen, weil sich Qualifikationsanforderungen schneller verändern, dann müssen verbesserte Lösungen gefunden werden.

So stellt sich die Frage, in welcher Weise Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft nach Anpassungsflexibilität und Risikobereitschaft und damit nach Sicherheit für Investitionen durch Förderung von Qualifikati-onen und Anpassungsbereitschaft gewährleisten kann. Erst in einer solchen Konstellation kann der Sozialstaat seine Funktion als Produktivkraft voll entfalten und zu einer Entlastung der angespannten Situation am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen beitragen.

Wichtig für das Verständnis der wechselseitigen Kopplung von Erwerbsarbeit und sozialen Sicherungssystemen ist dabei, dass Sozialversicherungen im Grundsatz in der Lage sind, die Bereitschaft zu Investitionen und riskanten Entscheidungen zu stärken. Insbesondere Ausbildungsinvestitionen, aber auch Arbeit bis zur geistigen und körperlichen Leistungsgrenze sowie eine Bereitschaft, Rationalisierungsmaßnahmen in Form technologischer, arbeitsorganisatorischer und unternehmensstruktureller Veränderungen gutzuheißen oder zu unterstützen und sich den Anforderungen des Arbeitsplatzes kooperativ und innovationsbereit zu stellen, können durch die Existenz sozialstaatlicher Sicherungen entfaltet und unterstützt werden.

Heute bietet der deutsche Sozialstaat jedoch weder ausreichend Schutz gegen drohende Risiken und die normalen Brüche im Erwerbsleben, noch schafft er hinreichend Anreize für den Einzelnen, sich offensiv neuen Herausforderungen zu stellen. Es mangelt an der Absicherung von Risiken in der Erwerbsarbeit. Diese bestehen insbesondere im Rahmen prekärer Beschäftigungsverhältnisse, wie etwa bei Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung, bei der Leiharbeit, bei kurz- und mittelfristigen Beschäftigungsbeziehungen sowie bei geringen und unsteten Einkommen unter dem Existenzniveau. Und Risiken bestehen bei Arbeitslosigkeit und bei Wechseln zwischen verschiedenen Beschäftigungsformen, d. h, zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung, zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit, bei Eintritten und Verläufen in zweiten oder auch dritten Bildungswegen, bei Kombinationen von Arbeit und Bildung, bei Wechseln und Verläufen zwischen Erwerbstätigkeit und Pflegezeiten von Angehörigen oder bei graduellen Übergängen in die Rentenphase.

Für eine erfolgversprechende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stehen dann zwei Ziele im Vordergrund: Zum einen die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit. Zum an-deren die Vermeidung unsteter oder Existenz gefährdender Einkommen (Struck u. a. 2009).

Beschäf­ti­gungs­fä­hig­keit: Quali­fi­ka­ti­ons- und Kompe­ten­z­ent­wick­lung

Wenn Qualifikationsanforderungen steigen sowie zunehmend mehr Erwerbsverläufe durch Diskontinuität und dem Problem des Aufbaus und des Erhalts von Qualifikationen gekennzeichnet sind, dann erhöhen sich die Anforderungen an die berufliche Erstausbildung und an eine stetige berufliche Weiterqualifizierung innerhalb und außerhalb von Betrieben. Dabei haben jene Erwerbstätigengruppen den größten Lernbedarf, die bislang am wenigsten an Qualifikationsmaßnahmen partizipieren. Dies gilt etwa für Arbeitssuchende und Geringqualifizierte oder die wachsende Zahl der Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, in Mini-Jobs oder in Leiharbeit sowie für (Einpersonen-)Selbständige und ältere Arbeitnehmer ab 45 Jahren.

Betriebe sind zumeist an der unmittelbaren eigenen Verwertung ihrer Bildungsinvestitionen interessiert. So werden Kosten der Weiterqualifizierung von Personen, bei denen Betriebsaustritte erwartet werden, vielfach nicht übernommen. Aus diesem Grund müssen bei der Erstellung des kollektiven Gutes allgemeiner und berufsfachlicher Qualifikationen die jeweiligen Arbeitnehmer sowie Unternehmen, die besondere Anstrengungen für die Förderung geringer Qualifizierter oder flexibel Beschäftigter übernehmen, durch staatliche Förderung unterstützt werden.

Wenn Mobilität und Flexibilität gefördert werden sollen, dann kann sich Bildung nicht an Anforderungen von spezifischen Arbeitsplätzen und Berufsbildern orientieren. Angefangen bei der (vor-)schulischen Bildung über die berufliche Ausbildung bis hin zur Weiterbildung sind also umfassende Strategien des lebenslangen Lernens zu verfolgen, die Flexibilität unterstützende Bildungsinhalte und Kompetenzen beinhalten. Dabei haben sich die Bemühungen in besonderer Weise auch auf die am meisten gefährdeten Gruppen zu richten. Derartige Investitionen in Humanressourcen stärken dann nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit von Erwerbspersonen, sondern zugleich auch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen.

Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass das Reflexionsvermögen, das Selbstwirksamkeitserleben und die Selbstorganisationsfähigkeit gesteigert werden und die Bildungsvermittlung an vorhandenen biographisch und dabei auch informell erworbenen Kompetenzen ansetzt. Hinzu kommen praktische Erfahrungen im beruflichen Umfeld, betriebliche und berufsfeldspezifische Verhaltensweisen sowie Verhaltensorientierungen. Folgerichtig sind es dann ja insbesondere die betriebsnahen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie Lohnkostenzuschüsse, Gründungsförderung oder betriebliche Trainingsmaßnahmen, die auf die direkte Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt setzen und dabei die Chancen der Teilnehmer auf eine Integration in Erwerbsarbeit nach Ablauf der Förderung erhöhen.

In diesem Zusammenhang und angesichts gestiegener Anforderungen im Erwerbsleben ist die Verkürzung und Vereinfachung der (hoch-)schulischen und der beruflichen Ausbildung — sofern sie nicht konsequent Übergänge in weitere Ausbildungsgänge vor-bereiten — ein unangemessenes Vorgehen. Große Unternehmen in innovativen Marktsegmenten kompensieren schon heute die dadurch entstehenden Schwächen durch Bildungsprogramme für Einsteiger. Doch insgesamt droht die Gefahr, dass noch mehr Unternehmen Produktionsverfahren und Arbeitsorganisation an geringer qualifizierte Gruppen anpassen. Tätigkeitsbereiche zu vereinfachen und zu standardisieren ist jedoch angesichts des internationalen Lohnstückkostenwettbewerbs ein nationalwirtschaftlich höchst problematischer Weg. Zudem wird die Segmentierung zwischen qualifizierten und gut bezahlten fachlichen, sozialen und kulturellen Leitungsaufgaben einerseits und den anteilig wachsenden Bereichen mit geringen und austauschbaren Standardqualifikationen und dementsprechend geringen Löhnen anderseits gesteigert.

Inves­ti­ti­ons­ri­siken; Einkom­mens­si­che­rung

Für Zeiten der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung ist eine finanzielle Unterstützung notwendig. Einen wichtigen Ansatzpunkt bietet die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Beschäftigungsversicherung (Schmid 2008). Eine Beschäftigungsversicherung sichert das Einkommensrisiko nicht nur bei Arbeitslosigkeit, sondern auch bei kritischen Übergängen im Lebenslauf ab. Eine solche Weiterentwicklung des sozialen Sicherungssystems ließe sich sowohl finanzieren als auch gesellschaftlich legitimieren: Sie würde bestehende staatliche Transferleistungen wie Bafög, Arbeitslosengeld, Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme, Familienförderung, Existenzgründerhilfen oder die soziale Grundsicherung etc. integrieren, womit sie (anders als Überlegungen zum bedingungslosen Grundeinkommen) realistisch und ohne Systemwechsel umsetzbar wäre.

Dabei ist der Zugriff auf Sozialleistungen durch klare und gesellschaftlich akzeptierte Regeln zu gestalten. Auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz dürften, neben dem Arbeitslosengeld und der sozialen Grundsicherung, vermutlich Kindererziehungszeiten und Phasen der Pflege von Angehörigen, (Weiter)Bildungsphasen sowie Existenzgründungsphasen treffen. Der Zugriff auf Transferleistungen bestünde dann in einer zeitlich befristeten Übergangsfinanzierung gesellschaftlich anerkannter Reproduktions- und Innovationsphasen — etwa nach einer Mindestbeschäftigungszeit in einer Rahmenfrist. Dabei wäre ein Zusammenwirken mit ggf. bestehenden betrieblichen Arbeitszeitkontensystemen möglich. Bei Qualifizierungs- und Arbeitsförderungsmaßnahmen ist eine Verbesserung der Prognosesysteme und der Beratungskapazitäten der Arbeitsagenturen (ggf. in Zusammenarbeit mit Verbänden, IHKs, Bildungsinstitutionen etc.) vorausgesetzt. Auf Grund der vielfach prekären Abfolge und Gleichzeitigkeit von Selbständigkeit und abhängiger Erwerbsarbeit wären zudem auch Selbständige in das Sozialversicherungssystem einzubeziehen. Und nicht zuletzt würde eine Stärkung lohnunabhängiger (d.h. stärker steuerfinanzierter) Sozialsysteme die Abgabenbelastung der Arbeitsverhältnisse verringern und Beschäftigungsspielräume erhöhen.

Die wichtigsten Vorteile einer solchen Weiterentwicklung liegen erstens darin, die Risikobereitschaft zu innovativem Verhalten zu stärken. Dabei zielt die Neugestaltung darauf, die Flexibilität der Arbeitszeiten im Lebenslauf, die zwischenbetriebliche Mobilität und die Weiterbildungsbereitschaft zu steigern. Gleichzeitig bietet sie Beschäftigten jedoch auch Schutz vor Abstiegen bei Entlassungen. Sie verbessert qualifikatorische und motivationale Ausgleichsprozesse auf Arbeitsmärkten vor allem durch eine effizientere Suche nach einem passgerechten Arbeitgeber. Darüber hinaus verbessert sie die Chancen, Arbeit und Familie miteinander zu vereinbaren.

Zweitens eröffnet die soziale Absicherung von Flexibilitätsansprüchen den Beschäftigten Spielräume, um ihre Erwerbsarbeitszeiten temporär zu vermindern oder für eine gewisse Zeit aus der Erwerbsarbeit auszusteigen. Die hierdurch entstehenden Phasen der Nichtarbeit bieten dabei im Übrigen zugleich Raum für die Arbeitssuche.

Eine erwünschte abgesicherte Zunahme der Arbeitsmarktmobilität setzt voraus, dass das Qualifizierungsniveau auch von bislang chancenlosen Beschäftigtengruppen durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik fortlaufend an die sich wandelnden Tätigkeitsanforderungen angepasst wird. Somit stehen die zwei Reformvorschläge zu Bildung und Einkommenssicherung in einem engen Zusammenhang.

Fazit

Die Arbeitsmarktreformen haben den Anstieg der Beschäftigungsquote unterstützt und dabei vor allem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes insbesondere im Bereich gering qualifizierter und gering entlohnter Beschäftigung erhöht. Die Mehrzahl der flexiblen Beschäftigungsverhältnisse ist durch mangelnde Qualifizierungswirkungen gekennzeichnet. Ein Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit wurde nicht erreicht. Die Förderstrukturen der Arbeitsverwaltung sind hierauf unzureichend abgestimmt und so wurde die Segmentierung am Arbeitsmarkt erhöht. Insgesamt ist damit die Angebotsorientierung der Reform unzulänglich geblieben.

Dabei gefährden die Wirkungen dieser Arbeitsmarktpolitik eine zentrale Basis eines qualitativen Wachstums. Ohne Qualifikations- und Kompetenzzuwachs können flexible Arbeitsmärkte keine produktiven Wirkungen entfalten. Eine Stärkung der Bereitschaft zu innovativen Verhaltensrisiken gerade auch durch Erhöhung einer Autonomie und Flexibilität steigernden Beschäftigungsfähigkeit durch Bildung und finanzielle Absicherung würde Chancen für Beschäftigte und Arbeitslose bieten. Zugleich könnten bessere Ausbildungsbedingungen und stetige Qualifikationsanpassungen eine produktive und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung unterstützen. Die Arbeitsmarktpolitik sollte in diese Richtung weiterentwickelt werden.

 Literatur

Alda, H. (2006): Sekundäre Arbeitsmarktintegration als Beobachtungskonzept sozioökonomischer B erichterstattung, in: SOEB (Hrsg), Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung Deutschlands, Zweiter Bericht – Zwischenbericht Teil I, Göttingen, S. 164-167.
Kluve, J. et al. (2007): Active Labour Market Policies in Europe. Performance and Perspectives. Berlin et al..
Knuth, M. (2010): Hartz: Vier. Zwischenbilanz und Reformbedarf. Manuskript. Duisburg.
Möller, J. (2010): Die deutsche Arbeitsmarktreformen: Nicht perfekt, aber unter dem Strich positiv. In: WSI Mitteilungen 63. H. 6., S. 324-327.
Schmid, G. (2008): Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung. Wege zu einer neuen B alance individueller Verantwortung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik, Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
Seifert, H./Struck, O. (2009): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik: Flexibilität benötigt Sicherheiten. In: dies. (Hg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik: Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. Wiesbaden, S. 53-75.
Stephan, G./Rässler, S./Schewe, T. (2008): Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitsmarktchancen der Geförderten. In: Sozialer Fortschritt 57, S. 66-75.
Struck, O. (2006): Flexibilität und Sicherheit. Empirische Befunde, theoretische Konzepte und institutionelle Gestaltung von Beschäftigungsstabilität, Wiesbaden.
Struck, O. u. a. (2009): Zukunftslos aktiviert oder zukunftsfähig investiert? In: WSI Mitteilungen 62. H. 10, 519-525.

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