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Die Gewerk­schaften im Epoche­wandel der Arbeits­ge­sell­schaft

„Wir befinden uns heute mitten in einer jener geschichtlich immer wieder auftretenden Situation, in der nichts mehr realistisch ist, was sich nur auf die Erhaltung der bestehende Verhältnisse richtet.“ Oskar Negt

Einleitung
Die Gewerkschaften stehen vor einem Epochenwandel der Arbeitsgesellschaft. Arbeit und Leben verändern sich in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Die Arbeitsgesellschaft ist nicht am Ende, sie hat gerade neu begonnen. Vor Einbruch der Wirtschaftskrise 2008 waren mehr Menschen in Deutschland lohnabhängig beschäftigt als jemals zuvor. Immer mehr Menschen sind so frei, arbeiten zu müssen.

Prekarität ist eine, vielleicht sogar die Zukunftsfrage für die Gewerkschaften. Das für die Gewerkschaften zentrale Normalarbeitsverhältnis hat in den letzten Jahren rapide abgenommen. 1998 arbeiten noch fast 72,6 Prozent der Erwerbstätigen in einem Normalarbeitsverhältnis, 2008 waren es nur noch 66,0 Prozent. Der Anteil atypischer Beschäftigungsformen stieg im gleichen Zeitraum von 16,2 Prozent auf 22,2 Prozent. Fast jeder zweite atypisch Beschäftigte erhielt einen Stundenlohn unter der Niedriglohngrenze (Statistisches Bundesamt 2009).

Im folgenden Text wird argumentiert, dass die Gewerkschaften weitgehend einem Handlungsmodell folgen, das sich in der fordistischen Ära des sozialen Kapitalismus herausgebildet hat. Jedoch haben sich in den letzten Dekaden die Grundlagen eben dieses Handlungsmodells verflüchtigt. Die Gewerkschaften, in die Defensive gebracht, bleiben jedoch ihrem überlieferten Modell in vielen Teilen noch verhaftet und versuchen die institutionellen Schutzmechanismen des Nachkriegskapitalismus zu stabilisieren. Zwar können sie dadurch kurzfristig Sicherheit erzeugen, doch nicht verhindern, dass die Substanz dieser Institutionen weiter erodiert.

Hierfür werden zuerst die Grundlagen des sozialen Kapitalismus und das gewerkschaftliche Modell der Nachkriegszeit skizziert. Im nächsten Schritt wird die Erosion dieses Modells beschrieben und analysiert, wie die Gewerkschaften dieser Erosion begegnen. Anschließend werden die jüngsten Anstrengungen zur gewerkschaftlichen Revitalisierung beleuchtet und Perspektiven der Gewerkschaften im Epochenwandel der Arbeitsgesellschaft diskutiert.

Gewerk­schaften im sozialen Kapita­lismus

Das „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus war – auf das 20. Jahrhundert bezogen – eine Ausnahmeerscheinung. In der Nachkriegsära, dem fordistischen Kapitalismus, führten stetiges Wirtschaftswachstum und ein sozialer Elitenkonsens zu einer Konstellation, die als „organisierte Moderne“ (Wagner 1995) bis heute als Folie der guten Gesellschaft dient, obgleich sie nur die relativ kurze Zeitspanne von 1945 bis 1973 umfasste. Eine gemischte Wirtschaft, eine legitime hohe staatliche Aktivität und vor allem der Ausbau des Wohlfahrtsstaates trugen zu einem bislang nicht gekannten Grad an „Dekommodifizierung“ bei (Esping-Andersen 1998). Arbeit als Mechanismus sozialer Integration veränderte ihren Charakter. Mit ihr wurden Sicherungsmechanismen verbunden, die jene Unsicherheiten bekämpften, die durch ihre Verausgabung hervorgerufen wurden. Durch Erwerbsarbeit wurden weitere Rechte und Zugänge zu sozialstaatlichen Leistungen erworben, ein erweiterter Konsum ermöglicht, ja insgesamt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befördert. Der französische Soziologe Robert Castel nennt den Komplex aus Anrechten auf soziale Sicherungsleistungen, wie Rentenansprüche, öffentliche Güter und Dienstleistungen „Sozialeigentum“ (Castel 2000). Der Ausschluss vom Privateigentum an den Produktionsmitteln, den Marx als charakteristisch für Lohnarbeiter gesehen hatte, wird durch eine „Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen“ kompensiert, die nicht nach der Logik des Marktes, sondern durch die „Vergesellschaftung des Lohns“ organisiert werden (Castel 2005). Durch soziale Sicherungen, Regulierungen und Teilhaberechte bedeutet der Wohlfahrtsstaat die Etablierung von „sozialen Staatsbürgerrechten“ (Marshall 1992).

Nicht nur mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates, sondern auch mit der Regulierung der Arbeit wuchsen die „institutionellen Machtressourcen“ von Beschäftigten und Gewerkschaften (Dörre 2010, Brinkmann/Nachtwey 2010). Tarifverträge, Gesundheitsschutz, Arbeitsrecht, Kündigungsschutz und die – im Laufe der Zeit noch erweiterten – Mitbestimmungsrechte veränderten den Status von Beschäftigten sowohl in den Unternehmen als auch in der Gesellschaft. Aus den Proletariern wurden Bürger im Betrieb. Die Staatsbürgerrechte erweiterten sich auf wirtschaftliche bzw. industrielle Bürgerrechte (Müller-Jentsch 2008b, 2010). In dieser Zeit der sozialen Sicherheit erlaubte das „Normalarbeitsverhältnis“ (Mückenberger 1985) vielen, vor allem männlichen Facharbeitern, ihr Leben zu planen und eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Prekäre Beschäftigung gab es auch zu Zeiten des sozialen Kapitalismus, allerdings erstreckte sie sich im Wesentlichen auf Zonen jenseits der großen tariflich abgesicherten Bereiche. Im Verhältnis zur Verbreitung des Normalarbeitsverhältnisses war es eine „marginale Prekarität“ (Dörre 2009b).

In dieser Periode entwickelten die Gewerkschaften ihre bis heute im Kern erhaltene Funktion im modernen Kapitalismus, die durch die Institutionalisierung des Klassenkonflikts geprägt war. Auf der einen Seite wurden sie zu Interessenorganisation der lohnabhängig Beschäftigten, auf der anderen Seite wurden sie durch „antagonistische Kooperation“ mit Unternehmen und Staat zu Verbänden, die als korporativer Ordnungsfaktor die wirtschaftliche Entwicklung mitgestalteten (Esser 2003). Als „intermediäre Gewerkschaften“ (Müller-Jentsch 2008a) konnten sie vor allem über die Tarifpolitik Mitgliederinteressen in Kompromisse mit den Unternehmen überführen.[1] Bis 1990 gelang es den deutschen Gewerkschaften, mit diesem Modell immense Reallohnsteigerungen zu erreichen. Die inflationsbereinigten Einkommen von Arbeitern stiegen um das Dreieinhalbfache, das der Angestellten um mehr als das Vierfache. Mehr als 70 Prozent der Beschäftigten waren tarifgebunden (Müller-Jentsch/Ittermann 2000). Doch trotz dieser Erfolgsgeschichte zeichneten sich einige der Gegenwartsprobleme der Gewerkschaften bereits ab. Die deutschen Gewerkschaften waren zu dieser Zeit in den alten Industrien und bei den Facharbeitern gut verankert, jedoch bereits zu dieser Zeit im Dienstleistungssektor und bei den Angestellten nur schwach vertreten (Schönhoven 2003).

Preka­ri­sie­rung der Arbeits­ge­sell­schaft im Finanz­ka­pi­ta­lismus

Das „goldene Zeitalter“ währte nicht lange. Bereits 1967 gab es in Deutschland den ersten Konjunktureinbruch, es folgte die Weltwirtschaftskrise 1973. Für die Gewerkschaften entstanden in der weiteren Entwicklung gravierende Probleme. Ihr bisheriges Modell war auf die Interessenvertretung von Erwerbstätigen im Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet. Dieses Modell ist im Kern erhalten geblieben, veränderte aber – wie wir später noch sehen werden – sukzessive seinen Charakter. Der Neokorporatismus, der sich seit der Krise von 1967 entwickelt hatte, integrierte die Gewerkschaften in die gesamtwirtschaftliche Steuerung. Auf der Unternehmensebene reagierten die Gewerkschaften auf die Rationalisierungsmaßnahmen in Folge der Krise von 1973 – wie Josef Esser in einer bekannten Studie herausarbeitete -, indem sie sich auf die Interessenwahrnehmung der Stammbelegschaften konzentrierten, während die Randbelegschaften oftmals außen vor blieben (Esser 1982).

Stückweise hat seit der Krise der 1970er Jahre die fordistische Konstellation an Prägekraft verloren. Der soziale Kapitalismus mit seinem dichten Netz von staatlichen Regulierungen, einer gemischten Wirtschaft und langfristigen Unternehmensstrategien machte – mit besonderer Intensität seit den 1990er Jahren – dem Regime des Finanzkapitalismus Platz (Dörre 2009 a, Windolf 2005). Der Finanzkapitalismus wurde sowohl durch die Liberalisierung der Finanzmärkte, veränderte Unternehmensstrategien als auch durch den Wandel (sozial-)staatlicher Regulierung vorangetrieben. Es kam zu einem Rückbau Dekommodifizierender Schutzmechanismen durch den „aktivierenden“ Sozialstaat (Lessenich 2008). Auf der Ebene des Wohlfahrtsstaates bedeuten vor allem die Agenda-2010-Reformen für die Gewerkschaften zahlreiche institutionelle Schwächungen (Urban 2010b): So die Verkürzung der Bezugsdauer des ALG I, die Abschwächung des Kündigungsschutzes, die Liberalisierung in der Befristungsregelung, die eingeschränkte Beteiligung an der Bundesagentur für Arbeit sowie die Novellierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetztes. Zwar wurde mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetztes 2001 die Gründung von Betriebsräten erleichtert, doch letztendlich liefen die Reformen auf eine Reduzierung der industriellen Bürgerrechte und des Sozialeigentums hinaus.

Der Umbau des Sozialstaates ging einher mit dem Wandel der Unternehmenskultur. Die Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen führten diese in einen verschärften Wettbewerb und zu einer oftmals radikalen Politik des cost-cutting. Gerade hier sind neue Bereiche der Niedriglohnbeschäftigung entstanden.[2] Insbesondere die weltmarktorientierten Unternehmen verschrieben sich der Shareholder-Value-Steuerung und orientierten strategisch auf kurzfristige Gewinnmaximierung. Um die Unternehmen an die gewachsene Volatilität der Absatzmärkte anzupassen, setzten sie immer stärker – befördert durch die staatlichen Liberalisierungen – auf den Einsatz externer Flexibilisierungen in der Beschäftigung wie Befristungen, Werkverträge und Leiharbeit. Während im sozialen Kapitalismus prekäre Beschäftigung noch ein Randphänomen war, hat sie im Finanzmarktkapitalismus auf Unternehmensebene einen Funktionswandel erfahren. Sie dient nicht mehr dem kurzfristigen Personalersatz oder dem Abfedern von Auftragsschwankungen, sondern wurde zu einem strategischen Instrument des Managements zur Stabilisierung hoher Renditen (am Beispiel der Leiharbeit: Holst et al. 2009).

Krisen­sym­ptome und Krisen­re­ak­ti­onen der Gewerk­schaften

In diesen Prozess verwoben ist die Krise der deutschen Gewerkschaften. Zunächst: Den Unternehmen gelang es seit den 1970er Jahren, den Gewerkschaften auf äußerst subversive Weise das Terrain streitig machten. Sie nahmen die „Künstlerkritik“ der 1968erBewegung auf und ersetzen die hierarchische Kontrolle des Fordismus durch subjektivierte Formen der Arbeitsgestaltung. Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gehörten fortan zum Arsenal der Arbeitspolitik wie projektbasierte Gruppenarbeit, Tätigkeitsanreicherung, Jobrotation, flexibilisierte Arbeitszeitmodelle und der Ausweitung direkter Partizipation. Diese subjektivierte „Kontrolle durch Selbstkontrolle“ (Boltanski/Chiapello) unterminierte sowohl das kollektive Handlungsmodell der Gewerkschaften wie es auch die klassische „Sozialkritik“ der Gewerkschaften neutralisierte. Zwar läuft diese Form der Unternehmenssteuerung als „indirekte Steuerung“ (Sauer 2005) auf eine verstärkte Vermarktlichung der Arbeitsbeziehungen hinaus, doch eine organisatorische Antwort haben die Gewerkschaften bislang nicht gefunden.

Die enge Ankopplung der Unternehmenssteuerung an die Märkte und Verlagerungsdrohungen zwang zudem viele Belegschaften in betriebliche Wettbewerbspakte, in denen sie unangenehme Zugeständnisse machen mussten („concession bargaining“). Betriebsräte übten sich in der Rolle als „Co-Manager“, die nicht selten ihre – und teilweise der damit verbunden Gewerkschaften – Legitimität in Frage stellte (Rehder 2006). Steigende Arbeitslosigkeit, betriebliche Umstrukturierungen, industrieller Wandel und das Wachstum des Dienstleistungssektors sowie die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse – um nur einige Faktoren zu nennen – ließen die Organisationsgrade der deutschen Gewerkschaften seit Anfang der 1980er Jahre beständig sinken. Weniger als 30 Prozent der Beschäftigten sind noch gewerkschaftlich organisiert. Dazu kommt, dass der zentrale Pfeiler gewerkschaftlicher institutioneller Macht, das Tarifvertragssystem, zunehmend ausgehöhlt wird. Einerseits nimmt der Geltungsbereich von Tarifverträgen ab, andererseits wird auch ihre Normierungsfähigkeit ausgehöhlt (Streeck/Rehder 2005). Zwar arbeiten 2009 noch immer rund 62 Prozent aller Beschäftigten in einem Betrieb mit Tarifbindung, aber durch die Dezentralisierung des Tarifsystems sind im Westen nur noch 52 Prozent und im Osten nur noch 36 Prozent der Beschäftigten durch einen Branchentarifvertrag abgesichert.[3] Während bis in die frühen 1990er Jahre die Lohnstruktur in Deutschland relativ stabil geblieben ist, hat seitdem eine enorme Lohnspreizung eingesetzt. Durch die Dezentralisierung des Tarifvertragssystems und den Rückgang der Tarifbindung nimmt die Lohnspreizung insbesondere im unteren Drittel der Gesellschaft zu (Lehndorff 2009). Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitete 2008 für einen Stundenlohn unter der Niedriglohngrenze. Seit 1998 ist die Zahl der Niedriglohnempfänger um 2,3 Millionen gestiegen (Kalina/Weinkopf 2010). Die Gewerkschaften sind in eine verhängnisvolle Spirale geraten. Sie sind kaum noch in der Lage, über solidarische Lohnpolitik Lohndifferentiale einzudämmen, aber können gleichzeitig auch oft nicht mehr sektorale Interessen von Erwerbsgruppen integrieren. Beschäftigtengruppen in Schlüsselpositionen oder mit hoher Qualifikation – Ärzte, Piloten oder Lokführer – scheren aus den DGB-Gewerkschaften aus, weil sie ihre Interessen dort nicht gewahrt sehen.

Die gewerkschaftliche Politik, in Krisen die Kernbelegschaften zu stabilisieren, wie es Esser bereits für die 1970er analysiert hat, wird seither in der einen oder anderen Form fortgeführt. In der jüngsten Krise fand sie ihren Niederschlag in der Form eines „Krisenkorporatismus“ (Urban 2010a). Die Gewerkschaften haben über Beschäftigungssicherungstarifverträge die Krise auf erstaunliche Weise erfolgreich gemeistert, dabei – nicht nur, aber in erster Linie – die Beschäftigung der Kernbelegschaften konsolidiert. Der Erfolg in der Krisenbewältigung durch Kurzarbeit und flexible Beschäftigung führt nun jedoch bei vielen Unternehmen dazu, noch vehementer auf das Flexibilisierungsinstrument prekäre Beschäftigung zu setzten. Dies verändert sukzessive die betrieblichen Machtverhältnisse. Es sinkt der Anteil der Stammbelegschaft im Verhältnis zu den Leiharbeitern oder anderen prekär Beschäftigten, die zudem oft einen deutlich geringeren Organisationsgrad und eine schwache Kampfbereitschaft aufweisen. In den Unternehmen gilt der Kündigungsschutz noch für den einzelnen Beschäftigten, für die Gesamtbelegschaft wird er aber effektiv außer Kraft gesetzt.

Schon vor der Krise hat die Flexibilisierungsfunktion prekärer Beschäftigung stark zugenommen, in der Krise hat sie sich durchgesetzt. So waren 1996 4,7 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse befristet, 2008 waren es 9,3 Prozent. In der Krise ging die Quote um 0,5 Prozentpunkte zurück, was einem Rückgang um 6 Prozent entspricht. Mittlerweile sind 47 Prozent (!) aller Neueinstellungen befristet, in Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten sogar 67 Prozent (Hohendanner 2010). Wenn heute von einem deutschen „Arbeitsmarktwunder“ gesprochen wird, dann findet der Stellenaufbau überproportional in Form prekärer Beschäftigung statt. Bereits jetzt, so jubelt die Zeitarbeitsbranche, hat die Leiharbeit wieder den alten Höchststand erreicht.[4] Ohnehin arbeitet nur noch jeder zweite Beschäftigte in einem Betrieb mit Betriebsrat. Am Beispiel der Leiharbeit lässt sich auch darüber hinaus zeigen, wie die istitutionelle Macht der Gewerkschaften ferner von innen erodiert – selbst da, wo sie formal noch existiert: Der Aufbau von Leiharbeit erhöht die Anforderungen an die Betriebsräte, unterminiert jedoch gleichzeitig ihre Ressourcenausstattung. Leiharbeiter dürfen zwar im Entleihbetrieb, sofern sie länger als drei Monate dort beschäftigt sind, den Betriebsrat mitwählen, sie werden jedoch bei der Bemessung der Mandatszahlen, Freistellungen und Ausstattungen nicht berücksichtigt. Dies hat im Organisationsbereich der IG Metall in der jüngeren Vergangenheit bereits zu einer Verschlechterung der Mitbestimmungsstrukturen in Betrieben mit Leiharbeitseinsatz geführt (Wassermann/Rudolph 2007). Mit anderen Worten: Die Handlungsfähigkeit von Betriebsräten sinkt durch den Einsatz von Leiharbeit. Nicht nur die Leiharbeiter können ihre Interessen schwer vertreten. Sie sind interessenpolitisch fragmentiert, da sie mitbestimmungspolitisch dem Verleihbetrieb zugeordnet werden. Auch den Stammbeschäftigten werden Ressourcen der Interessenvertretung entzogen, ganz abgesehen davon, dass die Betriebsräte den latenten Interessengegensatz und das durch das Management aktivierbare Konkurrenzverhältnis von Stammbeschäftigten und Leiharbeitern moderieren müssen. Kurzum: Die kurzfristigen Sicherheitsgewinne, die Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften durch Zugeständnisse nicht nur bei den Entgelten, sondern auch in der betrieblichen Nutzung von Leiharbeit zulassen, untergraben langfristig ihre eigenen Machtressourcen.

Es ist verständlich, dass die Gewerkschaften die Beschäftigungssicherung und Stabilisierung der Stammbelegschaften in ihrem Fokus haben. Im Kern trägt diese Politik der Stabilisierung des überlieferten Gewerkschaftsmodells und institutioneller Macht Rechnung. Das Normalarbeitsverhältnis, für dessen Erhalt die Gewerkschaften kämpfen, erodiert jedoch nach der Krise weiter. Eine Konzentration auf die Stammbelegschaften, die sowohl durchsetzungsstark als auch einfacher organisierbar sind, führt zwar zu einer kurzfristigen Stabilisierung der Lage, aber bereits in der mittleren Frist unterminiert es Größe und Macht der Stammbelegschaften und damit der Gewerkschaften weiter. Esser hat schon in seiner Studie etwas polemisch davor gewarnt, dass die Gewerkschaften keine Organisationen für die „ganze Klasse“ mehr seien und nur für die Partikularinteressen der „Noch-Arbeitsplatzbesitzer“ einstünden (Esser 1982). Doch das Problem liegt heute auf einer anderen, grundsätzlichen Ebene: Dass Institutionen stabilisierende Politik zwar zu kurzfristiger Stabilität, langfristig jedoch zu weiterer institutioneller Destabilisierung führt (Streeck 2009).[5] Die Stabilisierung des Tarifvertragssystems geht einher mit seiner weiteren Fragmentierung. Die Stammbelegschaften werden selbst immer schwächer, denn zunehmende Prekarität löst die Trennung von Kern- und Randbelegschaften insofern auf, als dass Prekariat auf die formal abgesicherten, aber immer kleiner werdenden Kernbelegschaften übergreift und selbst normal wird (Bourdieu 1998, Hürtgen 2008).[6]

Gewerk­schaften vor der organi­sa­ti­ons­po­li­ti­schen Wende?

Das zuvor gezeichnete Bild der deutschen Gewerkschaften ist gleichwohl einseitig. Die intermediäre Gewerkschaft des deutschen Typs, der auf die Sicherung der Kernbelegschaften setzt, ist nur ein Element gewerkschaftlicher Politik.[7] Gewerkschaften sind lernfähige Organisationen, die über ihre „Machtressourcen“ – strukturelle Macht, Organisationsmacht, institutionelle Macht – strategisch handeln können (Dörre 2008, Brinkmann/Nachtwey 2010). Als Systeme „loser Koppelungen“ (Luhmann 2000) handeln sie jedoch mitunter gleichzeitig ungleichzeitig. Während sie auf der einen Seite korporatistische Lösungen anwenden, gibt es auf der anderen Seite Ansätze organisationspolitischer Revitalisierung. In vielen Gewerkschaften wird intensiv das Organizing-Konzept diskutiert, das darauf setzt, die Organisationsmacht der Gewerkschaften zu stärken (Brinkmann et al. 2008). Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hat mittlerweile mehrere Organizing-Projekte aufgelegt und z. B. am Flughafen-Komplex Berlin-Brandenburg International einen Arbeitskampf geführt, der vor allem die Niedriglohnbeschäftigten organisierte und besserstellte. In der IG Metall strebt der stellvertretende Vorsitzende Detlef Wetzel ein Modell einer „Erschließungsgewerkschaft“ an, die darauf fokussiert, aktiv neue Bereiche zu erschließen und insgesamt stärker mitglieder-, beteiligungs- und konfliktorientiert zu handeln (Wetzel 2009). Nachdem die IG Metall in den letzten Jahren spektakulär mehr als 11.000 Leiharbeiter über eine Kampagne organisiert und bessergestellt hat, wurde in der aktuellen Stahltarifrunde erstmals die Gleichstellung von Leiharbeitern zu einer Tarifforderung gemacht.

Der Epochenwandel in der Arbeitsgesellschaft, die Bedeutungsabnahme des Normalarbeitsverhältnisses, stellt die Gewerkschaften vor immense Herausforderungen: Es gibt zum einen immer mehr neue Jobs im Dienstleistungssektor, im Bereich Forschung und Entwicklung, in den neuen ökologischen Industrien. Doch sowohl in den neuen Branchen, bei den Angestellten, den weiblichen Erwerbstätigen als auch unter den prekär Beschäftigten sind die Gewerkschaften bislang nur in sehr geringem Ausmaß vertreten. Für diese Gruppen sind Gewerkschaften als Interessenvertretung (noch) wenig attraktiv. Aber hier liegt auch die Chance: Die überwiegende Mehrzahl der Beschäftigten aus der neuen Arbeitswelt sind im Prinzip bereit sich zu organisieren, zumal ihr Problemdruck wächst. Die Spaltungen zwischen Kernbelegschaften mit Normalarbeitsverhältnis und prekär Beschäftigten können mitunter manifeste Interessenkonflikte hervorrufen. Aber gleichzeitig strahlt die Prekarität auf die Kernbelegschaften aus, so dass auch neue Solidaritätspotentiale entstehen können.[8] Wenn die Gewerkschaften es schaffen, diese Gruppen zu gewinnen, können sie neue Organisationsmacht erlangen. Diese hätte in der für Ablaufstörungen anfälligen Just-In-Time-Ökonomie ein starkes Druckpotenzial. Allerdings stecken die gewerkschaftlichen Anstrengungen zur Revitalisierung noch in den Kinderschuhen. Eine organisationspolitische Wende, die mit neuen Konzepten das Schwinden gewerkschaftlicher Macht stoppen könnte, ist bislang nicht absehbar. Im Epochenwandel der Arbeitsgesellschaft werden die Gewerkschaften derzeit zwar teilweise als Problemlöser auf Betriebsebene, aber nicht als durchsetzungsstarke und konfliktfähige gesellschaftspolitische Akteure wahrgenommen. In der Gesellschaft grassiert die Kritik an der Marktwirtschaft, aber den Gewerkschaften gelingt es bislang noch nicht, sich als Gegenmacht zur Marktmacht zu präsentieren, die über die Neubelebung der sozialen Marktwirtschaft der Vergangenheit hinausgeht.

[1] Zur Kritik am Konzept der intermediären Gewerkschaft vgl. (Dörre 2010).

[2] Weshalb es auch nicht verwundert, dass gerade aus diesen Bereichen die Forderung nach einem Mindestlohn kommt.

[3] Die Daten stammen von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stifung.

[4] Vgl. IW-Zeitarbeitsindex, Bundesverband Zeitarbeit, Juli 2010.

[5] Streeck geht sogar davon aus, dass es „tipping points“ gibt, an denen Institutionen durch fortlaufende Unterhöhlung ihre Funktionsfähigkeit einbüßen oder gar ihre gesamte Funktion ändern.

[6] Die beständige Präsenz von Leiharbeitern im Arbeitsprozess wirkt disziplinierend auf die formal abgesicherten Stammbeschäftigten (Holst et al. 2009). Die, wenn auch nur auf Widerruf, dauerhaft eingesetzten Leiharbeiter bilden eine „internalisierte Reservearmee“ (Holst/Nachtwey 2010), durch die der aus der hohen Arbeitslosigkeit und der Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft resultierende Druck des externen Arbeitsmarkts in den Betrieb hineingeleitet wird. Leiharbeiter, die oftmals die gleichen Tätigkeiten wie die Stammbeschäftigten ausüben, symbolisieren für Letztere die mögliche Abstiegsdrohung. Oder sie werden eingesetzt, um Streiks zu unterlaufen. Beim Discounter Schlecker wurde jüngst der Versuch unternommen, über neue Gesellschaften ganze Belegschaften, die Betriebsräte erkämpft hatten, in Interessen vertretungsfreie Leiharbeitsbelegschaften umzuwandeln.

[7] Ein Grund für dieses Muster liegt auch in der starken Repräsentation privilegierter Gruppen – wie Festangestellte – gegenüber den unterprivilegierten Gruppen, die ihren spezifischen Interessen zu mehr Einfluss verhelfen können (Müller-Jentsch 2008a).

[8] U. a. dann, wenn auch die Festangestellten feststellen, dass auch für sie ihre „Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer“ wird (Marx 1867: 699).

Literatur

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