Publikationen / vorgänge / vorgänge 191: Wie wir arbeiten werden

Ein neues Grundrecht für die Armen

Was das Bundesverfassungsgericht zum Anspruch auf ein Existenzminimum sagt,

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 102-110

„Karlsruhe schafft neues Grundrecht für die Armen“ – so titelte eine überregionale Zeitung am Tag nach der Verkündung des Urteils, mit dem das Bundesverfassungsgericht ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ begründete.[1] Dieses Grundrecht ist in der Tat neu. Lange Zeit war es so, dass schon ein einfachgesetzlicher Anspruch des Armen auf Unterstützung eine befremdliche, ja ungehörige Vorstellung war. Denn im herkömmlichen Fürsorgerecht war der Arme nicht Subjekt eines Anspruchs, sondern Objekt einer Pflicht des Staates: Die Armenunterstützung – so lautete eine schneidige Begründung aus dem 19. Jahrhundert – werde nicht um des Armen willen gewährt, sondern um öffentlicher Zwecke willen, „damit nicht Hunger, Not und Verwahrlosung die niederen Bevölkerungsklassen zur Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treibe und ein staatsgefährliches Proletariat aufkommen lasse“ (Nachweise bei Neumann 1995: 427f.). Mit dieser armenpolizeilichen Tradition brach erst die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unter dem Grundgesetz. Eine der ersten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts begründete den Anspruch des Armen auf Hilfe mit der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes und den Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, die über die Gewährung materieller Leistungen hinaus die Anerkennung aller Bürger als „Teilnehmer der Gemeinschaft“ und „Träger eigener Rechte“ erzwingen (BVerwGE 1, 159). Dieser Anspruch auf eine Mindestsicherung war wohlweislich kein unmittelbar aus dem Verfassungsrecht abgeleitetes Recht, sondern ein durch verfassungskonforme Auslegung der Fürsorgepflichtverordnung gewonnener einfachgesetzlicher Anspruch. Der Gesetzgeber nahm 1961 sowohl diesen Anspruch als auch die Verpflichtung auf die Menschenwürde in das Bundessozialhilfegesetz auf: „Auf Sozialhilfe besteht ein Anspruch, soweit dieses Gesetz bestimmt, dass die Hilfe zu gewähren ist“ (§ 4 Abs. 1 BSHG). „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Abs. 2 BSHG).

Von einer verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zur Hilfe oder gar einem Recht des Bedürftigen auf Hilfe war bis dahin und auch einige Zeit danach nicht die Rede. Das begann sich erst Mitte der 1970er Jahre langsam zu ändern, als das Bundesverfassungsgericht von einer Pflicht des Staates zur Sicherung der „Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins“ zu sprechen begann, die es mit der Verbindung der Menschenwürdenorm (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) begründete (seit BVerfGE 40, 121, 133). Anfang der 1990er Jahre erstreckte das Gericht diesen Ansatz auf das Steuerrecht: Ebenso wie der Staat verpflichtet sei, dem mittellosen Bürger das Existenzminimum erforderlichenfalls durch Sozialhilfeleistungen zu gewähren, dürfe er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag nicht entziehen (BVerfGE 82, 60, 85). Wohl gemerkt, es ging bis hierher immer nur um eine Pflicht des Staates, aber nicht um ein entsprechendes Recht des Bürgers. Die Frage, „ob Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung begründen könnte“, wurde ausdrücklich offen gelassen (BVerfGE 75, 348, 360).

Das änderte sich mit dem Urteil vom 9. 2. 2010, in dem das Bundesverfassungsgericht einerseits seine Rechtsprechung zum Existenzminimum bestätigt, andererseits aber der Pflicht des Staates zur Gewährung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens den Anspruch des einzelnen Bürgers auf die Erfüllung eben dieser Pflicht hinzufügt. Die Verbindung von Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip ergibt somit das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ (Rn. 133[2]). Dieser grundrechtliche Anspruch ist zwar neu, überrascht aber nicht, weil er in der verfassungsrechtlichen Literatur seit vielen Jahren gefordert wird (Neumann 2009: 1 f.; Wallerath 2008: 163 f.; Koenemann 2005: 90 f.; Sun 2005: 84; Martinez Soria 2005: 654; Bieritz-Harder 2001: 267 f.; Neumann 1995: 429 f.).

Würde, Eigen­ver­ant­wor­tung, Selbsthilfe

Der grundrechtliche Anspruch auf Gewährung des Existenzminimums entsteht, wenn einem Menschen die für ein würdiges Dasein notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem eigenen Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann (Rz. 134). Der grundrechtliche Schutz ist also nachrangig, d. h. er setzt zwingend voraus, dass der Einzelne nicht in der Lage ist, zumutbare Selbsthilfe zu leisten oder Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Was aber ist, wenn jemand nicht bereit ist, sich durch den zumutbaren Einsatz seiner Arbeitskraft selbst zu helfen? Dann sind schlicht und einfach die Voraussetzungen des grundrechtlichen Anspruchs nicht gegeben. Eine andere Frage ist, ob der Staat in diesem Fall etwa aus sozialstaatlichen oder gefahrenabwehrrechtlichen Gründen nicht doch gehalten ist, Hilfe anzubieten. Mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums hätte eine solche Pflicht jedoch nichts zu tun. Es ist also unrichtig, im Falle einer Weigerung zumutbarer Selbsthilfe die Ablehnung von Leistungen der Sozialhilfe als „Sanktion“ oder gar als Eingriff in das Grundrecht auf das Existenzminimum zu werten.

Der Vorrang der Selbsthilfe vor der staatlichen Hilfe ist Ausdruck der mit der praktischen Philosophie Immanuel Kants verbundenen Erkenntnis, dass jeder Mensch für sein eigenes Leben und dafür verantwortlich ist, dass dieses Leben eines Menschen würdig ist. Der Staat kann und darf ihm diese Verantwortung nicht abnehmen. Die ehemals für das Sozialhilferecht zuständigen Verwaltungsgerichte hatten aus der Einsicht, dass Würde mit Autonomie und Eigenverantwortung zu tun hat, den Schluss gezogen, dass in der Arbeit und Selbsthilfe „Freiheit und Würde ihren deutlichen Ausdruck“ finden (BVerwGE 27, 58, 63; E 67, 1, 5). Deshalb muss die staatliche Hilfe zwingend Hilfe zur Selbsthilfe sein. Jedenfalls greift in Ansehung der Würde jede staatliche Maßnahme zu kurz, die sich auf die finanzielle Absicherung des Existenzminimums beschränkt (Bieritz-Harder 2001: 268). Versorgungsstaatliches Denken ist mit dem kantischen Verständnis von Würde nicht zu vereinbaren. Wenn Würde in diesem Sinne verstanden wird, dann schließt die Pflicht des Staates zur Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Obliegenheit ein, dem Bedürftigen Möglichkeiten zu eröffnen, entweder den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu sichern oder durch eine sozial nützliche Tätigkeit eine Gegenleistung für die Unterstützung zu erbringen (Neumann 1995: 431 f.). Leider gibt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Überlegung, die in diese Richtung weist, d. h. die mit Nachdruck an die arbeitsmarktpolitische Verantwortung des Staates erinnert.

Grund­rechts­schutz durch Verfahren

Schon im alten Sozialhilferecht und schon zu einer Zeit, in der an eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums noch nicht einmal gedacht wurde, musste der – wie es damals hieß – „notwendige Lebensunterhalt“ bestimmt und die Höhe der Regelsätze in Geld beziffert werden. Seit damals besteht das bis heute ungelöste Problem, wie das Existenzminimum in einer intersubjektiv nachvollziehbaren Weise berechnet und das Ergebnis am Maßstab klarer normativer Vorgaben überprüft werden kann. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass die Menschenwürde ein denkbar ungeeigneter Maßstab für die Berechnung und Überprüfung ist. Denn seit Kant wissen wir, dass Würde ein Zweck an sich selbst ist, der über allen Preis erhaben ist, „mithin kein Äquivalent verstattet“. Die Bedarfe, die das Existenzminimum ausmachen, sind jedoch Marktgüter, die Preise haben, für die also Äquivalente einsetzbar sind.

Das Bundesverfassungsgericht geht das genannte Problem mit der These an, dass der grundrechtliche Anspruch auf das Existenzminimum nur dem Grunde, aber nicht dem Umfang nach von der Verfassung vorgegeben sei. Da der Anspruch von den gesellschaftlichen Anschauungen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten abhänge, bedürfe er der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den parlamentarischen Gesetzgeber, dem dabei ein Gestaltungsspielraum zukomme (Rn. 138). Mit dem Gestaltungsspielraum haben wir den ersten tragenden Begründungsstrang des Urteils gefunden. Was die Weite dieses Spielraums anbelangt, unterscheidet das Gericht zwei Aspekte des Existenzminimums, nämlich erstens die physische Existenz, die durch die Gewährung von Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit gesichert wird, und zweitens die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Gestaltungsspielraum ist enger, soweit es um die Sicherung der physischen Existenz, und weiter, soweit es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht (zustimmend Schulz 2010: 206; ablehnend Rothkegel 2010: 143). Die Unterscheidung der genannten zwei Aspekte des Existenzminimums folgt zunächst den Vorgaben, die die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung und Literatur zum Sozialhilferecht entwickelt haben (vgl. BVerwGE 35, 178, 180; E 80, 349, 353; E 87, 212, 214). Allerdings weicht das Bundesverfassungsgericht in zweifacher Hinsicht von diesen Vorgaben ab: Erstens scheut es die Verwendung des eingeführten Begriffs „soziokulturelles Existenzminimum“ und zweitens hat die erläuterte Differenzierung der Weite des Gestaltungsspielraum kein Vorbild im alten Recht (Rn 135).

Es fällt auf, dass dem Urteil so gut wie keine Aussagen zum Inhalt der zwei Verfassungsnormen zu entnehmen sind, deren Verbindung das Grundrecht ergibt. Deshalb ist der materielle Gehalt des Grundrechts so dürftig, dass nicht erkennbar ist, wie dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers inhaltliche Grenzen gezogen werden können. Das versucht das Gericht denn auch nicht, sondern es stellt den materiellen Grundrechtsschutz um auf einen Grundrechtsschutz durch Verfahren: Der Bedarf, und zwar der tatsächliche Bedarf, muss durch ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zeitgerecht und realitätsgerecht ermittelt werden. Das Grundgesetz schreibt dem Gesetzgeber keine konkrete Methode vor, sondern lässt ihm die Freiheit, im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit die Methode selbst auszuwählen. Wenn der Gesetzgeber aber eine Methode gewählt hat, muss er Abweichungen davon sachlich rechtfertigen. Das ist das Gebot der Folgerichtigkeit (Rn.139) von dem nicht zu Unrecht gesagt wird, es sei „die am deutlichsten über den Tag hinausweisende Neuerung des Urteils“ (Rixen 2010: 81). Und das Ergebnis des gewählten Verfahrens ist fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln (Rn.140).

Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entspricht eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht, d. h. der Gestaltungsspielraum und die gerichtliche Kontrolldichte bestimmen sich nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren (Rothkegel 2010: 137). Was das Ergebnis des Verfahrens, also die Höhe der Regelleistungen anbelangt, darf nur geprüft werden, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Diese zurückhaltende Kontrolle leuchtet ein, weil ja aus den dargelegten Gründen materiale Maßstäbe für die Überprüfung so gut wie nicht vorhanden sind. Deshalb wird die Prüfung auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums sowie auf die Grundlagen und Methoden der Leistungsbemessung konzentriert. Im Einzelnen wird geprüft, ob der Gesetzgeber das Ziel der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins in einer Weise erfasst und beschrieben hat, die dem Grundrecht gerecht wird, ob er ein taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen vollständig und zutreffend ermittelt und ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat (Rn 141-143). Dabei muss der Gesetzgeber die eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen legen; das ist das Gebot der Transparenz (144).

Mit der Umstellung des materiellen Grundrechtsschutz auf einen Grundrechtsschutz durch Verfahren und den Darlegungen zur gerichtlichen Kontrolldichte betritt das Bundesverfassungsgericht kein Neuland. Es handelt sich um Grundsätze, die das Gericht schon in seiner Rechtsprechung zum steuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum entwickelt hatte (vgl. nur BVerfG, Urteil v. 13. 2. 2008 – 2 BvL 1/06, Rn. 105) und die im Großen und Ganzen den Anforderungen entsprechen, die von der Rechtsprechung und Literatur zum Sozialhilferecht an die Regelsatzfestsetzung durch den Verordnungsgeber gerichtet wurden (vgl. Wallerath 2008: 165).

Verfas­sungs­recht­liche Würdigung des SGB II

Die Anwendung der soeben erläuterten Prüfungsmaßstäbe führt zur Feststellung, dass die Regelleistungen von 345, 311 und 207 € nicht „evident unzureichend“ sind (Rn 151- 158). Das wird mit empirischen Untersuchungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und mit der Anlehnung der Regelleistungen an die Regelsätze des alten BSHG belegt. Übrigens hat die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Regelleistungen für die Kläger der Ausgangsverfahren die missliche Folge, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, die Regelleistungen rückwirkend für die Zeit ab Inkrafttreten des SGB II neu festzusetzen. Die ursprünglichen Klagen auf Gewährung höherer Regelleistungen waren deshalb als unbegründet abzuweisen (Rn 217).

Dass die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bemessung der Regelsätze mit dieser Feststellung noch nicht beendet ist, sollte für einen aufmerksamen Leser eigentlich keine Überraschung sein. Denn bis hierher wurde ja nur die Höhe der Regelleistungen, also das Ergebnis des Verfahrens, aber noch nicht das Verfahren selbst überprüft. Diese Prüfung gelangt nun gleichfalls zum Ergebnis, dass das Statistikmodell im Grundsatz eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsgerechten Bestimmung des Existenzminimums ist. Begründet wird das mit der Realitätsnähe des Modells und seiner Orientierung an tatsächlichen Verbrauchsangaben. Allerdings muss der Normgeber seinen Wertungen und Entscheidungen folgerichtig entwickeln und nachvollziehbar begründen, was in besonderer Weise für Abweichungen vom System gilt (Rn. 159-172). Damit hat das Gericht einen Prüfungsmaßstab gefunden, dessen Anwendung zum Nachweis von vier verfassungswidrigen Punkten im System der Berechnung der Regelleistungen führt.

Vier Verfas­sungs­wid­rig­keiten bei der Bemessung der Regelsätze

Die erste Verfassungswidrigkeit sind die Abschläge. Dazu muss man wissen, dass die Grundlage der Regelleistungen die statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte sind. Von diesen Verbrauchsausgaben werden dann die Anteile herausgerechnet, die nicht regelsatzrelevant sind. Diese Anteile werden Abschläge genannt. Der beschriebene Rechenschritt ist von der Systematik des Statistikmodells durchaus angezeigt, was das Beispiel der Abteilung „Bekleidung und Schuhe“ zu zeigen scheint, aus der die Ausgaben für Luxusgüter wie Maßkleidung und Pelze als Abschläge herauszurechnen sind. Nun konnte aber im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht klargestellt werden, dass diese Abschläge vorgenommen wurden, ohne dass feststand, ob das unterste Fünftel der Einpersonenhaushalte wirklich solche Luxusausgaben getätigt hat. Auch in anderen Abteilungen wurden Abschläge empirisch nicht belegt oder überhaupt nicht bzw. nicht tragfähig begründet (Rn. 174-182).

Die Anpassung und Neubemessung der Regelleistung ist an den aktuellen Rentenwert in der gesetzlichen Rentenversicherung angekoppelt (§ 20 Abs. 4 SGB II, § 68 SGB VI).[3] Dieser Wert ist nun aber offensichtlich ein sachwidriger Maßstab: Während das Statistikmodell auf Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten abstellt, hängt die Fortschreibung des aktuellen Rentenwerts von der Entwicklung der Bruttolöhne, vom Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherung und von einem Nachhaltigkeitsfaktor ab. Im Übrigen trifft der Rentenwert keine Aussage zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Rn 184). Diese Sachwidrigkeit führt zur zweiten Verfassungswidrigkeit.

Dass die Regelleistungen für Kinder, also die Sozialgelder, verfassungswidrig sind, pfiffen in Fachkreisen bereits die Spatzen von den Dächern (Rn. 190-203). Diese dritte Verfassungswidrigkeit liegt schon deshalb auf der Hand, weil der Gesetzgeber schlichtweg versäumt hat, den Bedarf eines minderjährigen Kindes zu ermitteln, obwohl Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarf hinweisen: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“. Der Bedarf hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten, wobei vor allem bei schulpflichtigen Kindern ein zusätzlicher Bedarf zu erwarten ist. Deshalb war die einheitliche Altersgruppe von Kindern bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres nicht rechtfertigungsfähig. Gerade für die Förderung von Kindern betont und verstärkt das Bundesverfassungsgericht den ehernen Grundsatz, dass die staatliche Hilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe sein muss: „Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II beziehen, besteht die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können. Dies ist mit Art. 1 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG nicht zu vereinbaren“ (Rn 192).

Das Verständnis der vierten Verfassungswidrigkeit setzt eine knappe Erläuterung der Systematik der Regelleistungen voraus: Das reformierte Sozialhilferecht hat die einstigen „einmaligen Leistungen“ weitgehend abgeschafft und die Regelleistungen entsprechend erhöht. Diese Pauschalierungen der Regelleistungen hat das Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet, da der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende und pauschalierende Regelungen treffen darf. Allerdings verlange Art. 1 I GG Regelungen, wonach besonderen, vom Durchschnitt abweichenden Bedarfen Rechnung zu tragen ist. Eine solche Regelung gibt es im SGB II für das Auftreten von einmaligen Bedarfen (§ 23 SGB II), nicht aber für unabweisbare, laufende besondere Bedarfe. In der Literatur wurde deshalb die Einfügung einer abweichenden Regelleistungsbemessung nach dem Vorbild von § 28 I 2 SGB XII gefordert: „Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf … unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht“. Die Karlsruher Richter wollen sich hingegen mit einer Härtefallregelung zufrieden geben, die diese Lücke schließen soll (Rn. 204-209).

Was sind das für besondere laufende Bedarfe, die durch eine solche Härtefallregelung abgedeckt werden sollen? Das Bundesverfassungsgericht schreibt selbst, dass ein solcher zusätzlicher Bedarf nur in seltenen Fällen entstehen werde. Schaut man in einen Kommentar zum alten BSHG, findet man diese Prognose vollauf bestätigt. In den vierzig Jahren der Geltung dieses Gesetzes wurde die Klausel höchst selten angewandt. Anwendungen waren etwa Putzhilfen für ältere Personen, die diese Arbeit nicht mehr verrichten konnten, oder das Essen im Gasthaus für Personen, die in einer teilstationären Einrichtung untergebracht waren. Beide Fallgruppen betrafen erwerbsunfähige Personen, die heute nach SGB XII und eben nicht nach SGB II anspruchsberechtigt wären.

M. E. hat die ungleiche Regelung des SGB II im Vergleich mit dem SGB XII vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand. Denn eine erwerbsfähige Person kann besondere Bedarfe wesentlich leichter durch Hilfeleistungen und Gefälligkeiten zugunsten Dritter bestreiten als dies eine Person kann, die nicht erwerbsfähig ist. Das hatte das Bundessozialgericht im Ergebnis ebenso gesehen: Da die Empfänger von Leistungen nach SGB XII keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben können, sei die stärkere Individualisierung ihrer Leistungen sachlich gerechtfertigt (BSG, Vorlagebeschluss v. 27. 1. 2009 – B 14/11b AS 9/07 R, Rn. 38 f.). Richtig erkannte das Gericht auch, dass Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres nicht erwerbstätig sein dürfen, so dass zwischen Kindern, die Sozialgeld nach SGB II beziehen, und Kindern, die Empfänger von Leistungen nach SGB XII sind, keine sachlichen Unterschiede bestehen, so dass das Fehlen einer Öffnungsklausel im SGB II für laufende Bedarfe insoweit verfassungswidrig ist. Dagegen begründet das Bundesverfassungsgericht das Erfordernis einer Härtefallregelung für besondere laufende Bedarfe mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. Ich halte das für eine Überziehung des Gedankens der Einzelfallgerechtigkeit. Der Senat richtet an die Bemessung des Existenzminimums einen Exaktheitsanspruch, dessen Rigidität schwerlich mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmt. Überdies hatte das Ausgangsverfahren keinen Anlass zur Entscheidung dieses Punktes gegeben hatte, so dass gesagt wurde, das Gericht geriere sich hier unter Überschreitung seiner Kompetenzen als „Ersatzgesetzgeber“ (Rothkegel 2010: 142).

Was ist neu und weiter­füh­rend am Urteil vom 9. 2. 2010?

Das Urteil vom 9. 2. 2010 hat wohl die meisten Fragen der Bemessung der Regelleistungen geklärt – mehr aber auch nicht. Weder das von den Verwaltungsgerichten aus der Würdenorm abgeleitete Gebot, gesellschaftliche Ausgrenzung zu verhindern, noch die mit dem Sozialstaatsprinzip begründete Pflicht zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und damit zu Umverteilung werden auch nur angesprochen. Dass jeder Bezug zu arbeitsmarktpolitischen Pflichten des Gesetzgebers fast schon ängstlich vermieden wird, wurde bereits erwähnt. Und dass die Ausführungen zum Inhalt der beiden Verfassungsnormen, deren Verbindung das Grundrecht bildet, alles andere als gehaltvoll sind, wurde auch schon gesagt. Selbst in Ansehung von Kindern findet sich kein Ansatzpunkt, der über die im engen Sinne sozialhilferechtliche Perspektive hinauszuweisen vermöchte. Kindern bleibt also das „Armutsschicksal ihrer Familie“ nicht erspart (Schnath 2010: 300).

Eines der beiden vorlegenden Gerichte, nämlich das Hessische Landessozialgericht, hatte aus dem Schutz der Familie und dem Gleichheitssatz einen Anspruch auf ein kompensatorisches familienbezogenes Mindesteinkommen abgeleitet (Urteil v. 29. 10. 2008 – L 6 AS 336/07, Rn. 40 f.). Ohne Begründung verbietet sich das Bundesverfassungsgericht jedes Nachdenken in diese Richtung: „Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen“ (Rn. 145). Aufschlussreich sind die von mir hervorgehobenen Worte „im Sozialrecht“. Bei der Bestimmung des steuerrechtlichen Existenzminimums, also „im Steuerrecht“, zieht das Gericht die beiden Grundrechte nämlich sehr wohl heran (s. nur BVerfGE 99, 216, 233). Die unterschiedliche verfassungsrechtliche Anbindung der beiden Existenzminima bestätigt, dass Karlsruhe ein Grundrecht nur für die Armen geschaffen hat.

Was also ist eigentlich verfassungsrechtlich interessant und neu am Urteil vom 9. 2. 2010? Dass das Gericht von einem Anspruch auf das Existenzminimum ausgeht, ist zwar neu, „sachlich aber kein Quantensprung“ (so Berlit 2010: 147). Schließlich wird ein solcher Anspruch in der Literatur seit vielen Jahren fast unisono bejaht. Es bleibt also nur der Prüfungsmaßstab der Folgerichtigkeit, der allerdings alles andere als unproblematisch ist. Ein Merkmal demokratischer Politik ist auch im Gesetzgebungsverfahren der Kompromiss, der häufig zu Lasten der Folgerichtigkeit des ursprünglichen gesetzgeberischen Konzeptes geht. Der Prüfungsmaßstab der Folgerichtigkeit kann also dazu führen, dass der parlamentarischen Gesetzgeber an Rationalitäts- und Perfektionsansprüchen gemessen wird, die ihn überfordern müssen (Rixen 2010: 87). Das könnte der Grund sein, warum das Gericht peinlich darauf bedacht ist, jede Aussage zu der Frage zu vermeiden, welche Ermittlungs-, Bewertungs-, Begründungs- und Abwägungspflichten im Gesetzgebungsverfahren zu beachten sind (Berlit 2010: 149, 162). Also auch in dieser Hinsicht ist das Urteil nicht eben weiterführend. Immerhin halten die Richter am Grundsatz der Bedarfsdeckung fest und erteilen damit allen jenen Zeitgenossen eine Absage, die der Meinung sind, dass der Anreiz zur Arbeitsaufnahme umso stärker ist, je deutlicher die Leistungen der Sozialhilfe unterhalb des Existenzminimums liegen.

[1] BVerfG, Urteil v. 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09.

[2] Zitiert werden hier und im Folgenden Randnummern des in Fußnote 1 zitierten Urteils des Bundesverfassungsgerichts.

[3] § 68 SGB VI definiert den aktuellen Rentenwert als den Betrag, der der monatlichen Rente wegen Alters in der allgemeinen Rentenversicherung entspricht, wenn für ein Kalenderjahr Beiträge aufgrund des Durchschnittsentgelts gezahlt worden sind.

Literatur

Berlit, Uwe 2010: Paukenschlag mit Kompromisscharakter – zum SGB II-Regelleistungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, in: Kritische Justiz, S. 145-162.

Bieritz-Harder, Renate 2001: Menschenwürdig leben, Berlin.

Koenemann, Britta 2005: Der verfassungsunmittelbare Anspruch auf das Existenzminimum, Hamburg.

Martínez Soria, José 2005: Das Recht auf Sicherung des Existenzminimums, in: Juristenzeitung, S. 644-652.

Neumann, Volker 1995: Menschenwürde und Existenzminimum, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, S. 426-432.

Neumann, Volker 2009: Das medizinische Existenzminimum zwischen Sozialhilfe und Krankenversicherung, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen (RsDE), Heft 68, S. 1-16.

Rixen, Stephan 2010: Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik? „Hartz IV“ auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, in: sozialrecht aktuell, S. 81-87.

Rothkegel, Ralf 2010: Ein Danaergeschenk für den Gesetzgeber, in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch, 135-146.

Schnath, Matthias 2010: Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht, S. 297-302.

Schulz, Sönke E. 2010: Neues zum Grundrecht auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, S. 201-206.

Sun, Nai-yi 2005: Das Verhältnis zwischen Sozialversicherung und Sozialhilfe bei der Umstrukturierung des Sozialstaats, Baden-Baden.

Wallerath, Maximilian 2008: Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, in: Juristenzeitung, S. 157-168.

nach oben