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Die fehlge­lei­tete Debatte um den Volks­ent­scheid auf Bundesebene

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 26-34

Direkte Demokratie in der Sackgasse

Direktdemokratische Verfahren sind heute auf kommunaler und Länderebene in der Bundesrepublik flächendeckend eingerichtet. Das große Ziel des an dieser Entwicklung maßgeblich mitbeteiligten Interessenvereins „Mehr Demokratie“ lautet, sie auch im Bund einzuführen. Ob das, was in Kommunen und Ländern vorhanden ist und sich anscheinend bewährt, auch auf der Bundesebene sinnvoll wäre, ist freilich nicht ausgemacht. Die Zweifel beziehen sich dabei nicht auf die direkte Demokratie insgesamt, sondern auf deren spezifische Ausprägung in der Bundesrepublik, nämlich die Volksgesetzgebung. Es geht ja bei der Frage „Mehr direkte Demokratie“ längst nicht mehr um das Ob. Diese Schlacht ist geschlagen und von den Befürwortern der direktdemokratischen Verfahren gewonnen worden. Was bleibt, ist die Frage nach der Ausgestaltung, also dem „Wie“. Die nachfolgenden Ausführungen möchten zeigen, warum hier gegenüber der so genannten „Volksgesetzgebung“ Skepsis angebracht ist.[1]

Am Anfang steht eine Rätsel frage. Auf der einen Seite beobachten wir heute ein verstärktes Interesse an der direkten Demokratie, das sich in einer immensen Publikationsflut wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema widerspiegelt. Wir stellen darüber hinaus fest, dass es in der, was die direkte Demokratie angeht, lange Zeit sehr zurückhaltenden Staatsrechtslehre, einen regelrechten Paradigmenwechsel gibt. Die proplebiszitären Stimmen sind dort mittlerweile stärker ausgeprägt als in der Politikwissenschaft. Dass die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung heute in ganzseitigen Artikeln Plädoyers für mehr direkte Demokratie publiziert, wäre vor einigen Jahren ebenfalls nicht vorstellbar gewesen. Auf der anderen Seite sind wir aber der Einführung direktdemokratischer Elemente auf der Bundesebene bei Lichte betrachtet keinen Schritt näher gekommen. Und wenn die Debatte so weiterläuft wie bisher, dürfte sich das auch in Zukunft nicht ändern.

Wie kann man diesen Widerspruch erklären? Man könnte es sich leicht machen und sagen: Der Grund liegt darin, dass CDU und CSU die notwendige Grundgesetzänderung für die Einführung von direktdemokratischen Verfahren blockieren. Dafür ist ja eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, die es in der Zeit zwischen 2005 und 2009 gegeben hätte, als im Bund eine Große Koalition regierte. Die Unionsparteien waren allerdings nicht bereit, sich in der Frage der Plebiszite zu bewegen. Zumindest was die CDU betrifft, sind sie es auch heute nicht. Also bleibt die direkte Demokratie auf der Bundesebene weiterhin auf Eis gelegt.

Diese Erklärung ist allerdings zu einfach. Denn die ablehnende Haltung der CDU stellt nur ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem dar. Dieses Problem liegt in der Fixierung des deutschen Verfassungsgesetzgebers auf die so genannte Volksgesetzgebung. Direkte Demokratie reimt sich in Deutschland auf Volksgesetzgebung. Wenn wir von direkter Demokratie, von plebiszitären Verfahren, von Abstimmungen im Sinne des Artikels 20 des Grundgesetzes sprechen, setzen wir diese also automatisch mit der Volksgesetzgebung gleich. Deshalb ist es wichtig, gleich am Anfang daran zu erinnern, dass die Volksgesetzgebung nur eine mögliche Ausprägung der direkten Demokratie darstellt. Genauer gesagt handelt es sich um eine von drei bzw. vier Varianten der direkten Demokratie, die es grundsätzlich zu unterscheiden gilt. Maßgeblich für die Unterscheidung ist dabei, wer berechtigt ist, einen Volksentscheid herbeizuführen bzw. einen solchen auszulösen.

Die falsche Gleich­set­zung von Direkt­de­mo­kratie und Volks­ge­setz­ge­bung

Der Volksentscheid (oder die Volksabstimmung) steht stets am Ende eines plebiszitären Verfahrens. Er ist insofern allen Varianten der direkten Demokratie gemeinsam. Die Gegenstände der Volksentscheide sind weitgehend dieselben, über die auch in den Parlamenten entschieden wird. Meistens handelt es sich um Gesetze. Strittig ist, ob der Begriff der direkten Demokratie sich nur auf Sachentscheidungen bezieht, oder ob er darüber hinaus auch für Abstimmungen über Personen zu verwenden sei. Handelt es sich bei den Letzteren um reguläre Wahlen, die periodisch stattfinden, erscheint eine solche Begriffsverwendung nicht sinnvoll. Anders verhält es sich bei der vorzeitigen Abberufung von Amtsträgern, die in den USA unter dem Begriff recall geläufig ist. Auch in der Bundesrepublik kennen wir solche Verfahren auf der kommunalen Ebene. Soweit diese Verfahren von den Bürgern in eigener Initiative betrieben werden können, müsste man sie ebenfalls unter die direkte Demokratie subsumieren. So verstanden gehören zur direkten Demokratie also alle Abstimmungen, die außerhalb der regulären Wahlen stattfinden.

Ausgelöst werden kann eine Volksentscheidung – grob gesprochen – auf dreierlei Weise. Erstens kann die Verfassung selbst bestimmen, dass über bestimmte Dinge ein Volksentscheid stattzufinden hat. Ein möglicher Gegenstand wäre z. B. die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union. Anders als in der Bundesrepublik schreibt eine Reihe von europäischen Verfassungen hierfür ein obligatorisches, also verpflichtendes Referendum vor. Die zweite Möglichkeit, die ebenfalls in vielen europäischen Demokratien verbreitet ist, könnte man als direkte Demokratie „von oben“ bezeichnen. Hier wird das Referendum von der Regierung oder vom Parlament nach eigenem Ermessen angesetzt. Nur ausnahmsweise – etwa in Dänemark – kommt es vor, dass auch die Minderheit des Parlaments über dieses Recht verfügt. Im Normalfall handelt es sich um ein majoritäres Instrument. Ebenso wie das obligatorische Referendum ist auch das von oben anzusetzende, „einfache“ Referendum in den deutschen Länderverfassungen kaum verbreitet. Nur Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland- Pfalz sehen es vor. In der Verfassungspraxis spielt es so gut wie keine Rolle. Allerdings hat es jüngst eine interessante Ausnahme gegeben, nämlich die Volksentscheidung über den Stuttgarter Bahnhofsneubau („Stuttgart 21“) in Baden-Württemberg. Diese Entscheidung wurde von der Landesregierung selbst anberaumt, nachdem ein von ihr eingebrachtes Gesetz, das den Ausstieg des Landes aus dem Projekt vorsah, im Landtag keine Mehrheit gefunden hatte. Der Grund dafür lag in der Uneinigkeit der Regierungskoalition über den Ausstieg, der von den Grünen befürwortet, von der SPD jedoch mehrheitlich abgelehnt wurde. Auch in anderen europäischen Ländern ist das einfache Referendum häufig eingesetzt worden, wenn die Regierungspartei oder die Regierungsparteien in der zu entscheidenden Angelegenheit zerstritten waren. Die Befürworter des Instruments bewerten das positiv, weil es zur Auflösung möglicher Entscheidungsblockaden beiträgt. Die Kritiker werfen dagegen ein, dass es den Regierenden dadurch (zu) leicht gemacht werde, sich vor unbequemen und in der Bevölkerung unpopulären Entscheidungen zu drücken.

Die dritte Variante ist die direkte Demokratie „von unten“. Hier ist das Volk selbst die Instanz, die den Volksentscheid herbeiführt. Auch die Abberufung, der recall, fällt – wie gesehen – unter diese Variante, bei der es allerdings notwendig ist, nochmals zwei Typen zu unterscheiden. Maßgeblich ist hier, worüber abgestimmt werden soll. Dies kann entweder ein bereits beschlossenes Gesetz sein, das einem „plebiszitären Nachentscheid“ unterworfen wird. Der Charakter dieses Instruments lässt sich am besten mit dem Begriff „Vetoinitiative“ beschreiben. Die Initianten nutzen es, um gegen ein vorhandenes Gesetz vorzugehen und dieses zu Fall zu bringen. Diese Form der direkten Demokratie dominiert bekanntlich in der Schweiz. Sie ist dort unter dem Begriff „fakultatives Referendum“ geläufig. Kommt ein solches Referendum zustande, dann sind die Chancen relativ hoch, dass das Gesetz im Volksentscheid tatsächlich gekippt wird. In der Schweiz war das im Zeitraum 1981 bis heute bei 70 Prozent der Abstimmungen der Fall. Allerdings wird nur gegen etwa jeden zwanzigsten Parlamentsbeschluss das Referendum überhaupt ergriffen.

Während sich die direkte Demokratie in der Schweiz in der Vetoinitiative konzentriert, ist dieses Instrument in der Bundesrepublik noch weniger verbreitet als das obligatorische oder einfache Referendum. Es gibt nur zwei Bundesländer, die es in abgeschwächter Form vorsehen: Hamburg und Rheinland-Pfalz. In Rheinland-Pfalz besteht die Abschwächung darin, dass die Initiative nur vom Parlament ausgehen kann. In Hamburg greift das Instrument lediglich, wenn das Parlament volksbeschlossene Gesetze nachträglich verändert. Hamburg hat damit zugleich eine überzeugende Lösung für das Problem der Verbindlichkeit von Volksentscheiden gefunden.

Bleibt die vierte Variante: Die Volksgesetzgebung. Hier ergreift das Volk nicht die Initiative gegen ein bereits beschlossenes Gesetz, sondern es schlägt selbst das Gesetz vor. Die Volksgesetzgebung stellt insofern die weitreichendste – ihre Befürworter würden sagen: progressivste – Form der direkten Demokratie dar. Ausgerechnet diese Variante ist in allen 16 deutschen Bundesländern realisiert. Und wenn man von der direkten Demokratie auf Bundesebene spricht, ist ebenfalls nichts anderes gemeint als die Übernahme dieses bereits bestehenden Modells in das Grundgesetz. Etwas anderes gerät überhaupt nicht in das Visier des deutschen Verfassungsgesetzgebers. Wir sind also im Modell der Volksgesetzgebung befangen. Diese Befangenheit, die Fixierung auf die direkte Demokratie „von unten“, in der das Volk als Gesetzgeber nicht nur an die Seite, sondern an Stelle des Parlaments tritt, ist zumindest im westeuropäischen Vergleich absolut ungewöhnlich.

Volks­ge­setz­ge­bung versus parla­men­ta­ri­sches System

Um ihre Ursprünge zu verstehen, muss man weit in die deutsche Verfassungsgeschichte zurückgehen. Die Volksgesetzgebung wurde Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnenderweise von den Sozialisten erfunden. Auch unter den Befürwortern der direkten Demokratie dürfte der Name Moritz Rittinghausen nur wenigen geläufig sein. Für Rittinghausen, der dem Paulskirchenparlament angehörte, waren die Volksrechte eine Antwort auf die Nicht-Integration der SPD in den sich entwickelnden Parlamentarismus. Das parlamentarische Regierungssystem wurde in Deutschland bekanntlich erst im Jahre 1918 eingeführt. Die SPD war bis dahin von der Staatsmacht ausgeschlossen. Die Volksgesetzgebung sollte dafür einen Ausgleich darstellen. In der Schweiz war es übrigens ganz ähnlich. Die Volksrechte wurden als Oppositionsinstrument von denen konzipiert und gefordert, die zur Regierungsmacht keinen Zugang hatten. Die Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 war ja allein ein Projekt der Liberalen gewesen. Alle sieben Bundesräte wurden damals vom Freisinn gestellt. Die ersten, die dagegen aufbegehrten, waren die Katholiken. Später kamen die Bauern und die Arbeiter hinzu. Bei ihrer Forderung nach Beteiligung an der Herrschaft griffen die Minderheiten auf die in den Kommunen bestehenden Formen der Versammlungsdemokratie zurück. Auf kantonaler Ebene wurde die Vetoinitiative erstmals in St. Gallen eingeführt – im Jahre 1831. Die Bundesverfassung übernahm das Instrument im Jahre 1874.

Die Skepsis, was die Übertragbarkeit der Schweizer Direktdemokratie auf die Bundesrepublik angeht, beruht auf vier Punkten. Der erste Punkt bezieht sich auf den oppositionellen Charakter der Volksrechte. Dieser lässt sich daran ablesen, wie die Volksgesetzgebung in Deutschland auf der Länderebene eingesetzt wird, nämlich überwiegend, um gegen bereits bestehende Gesetze oder politische Zustände zu opponieren. Weil die Vetoinitiative in den Länderverfassungen – wie gesehen – nicht vorgesehen ist, springt die Volksgesetzgebung ein und übernimmt deren Part gleich mit. So stellte z. B. das erfolgreiche bayerische Volksbegehren über einen strengeren Nichtraucherschutz im Jahre 2010 eine Reaktion des Volkes auf ein nur halbherziges Gesetz des Landtags dar. Noch stärker mit Händen zu greifen ist der oppositionelle Charakter der Hamburger Abstimmung über die Schulreform im selben Jahr. Diese richtete sich unmittelbar gegen die vom damaligen schwarz-grünen Senat der Hansestadt beschlossene Einführung einer sechsjährigen Primarschule. Wertet man die rund 70 Volksbegehren, die es in der Bundesrepublik bislang gegeben hat, unter diesem Gesichtspunkt aus, so handelt es sich in etwa zwei Dritteln der Fälle um „oppositionelle“ Initiativen. Interessant ist auch, auf welche Fragen sich das übrige Drittel bezieht. Hier dominieren institutionelle Themen, die z. B. das Wahlrecht betreffen oder die direkte Demokratie selbst. Das mag vielleicht damit zusammenhängen, dass die etablierten Parteien gerade in diesen Fragen häufig eine Art Kartell bilden. Sie haben kein Interesse an einer Demokratisierung des Wahlrechts oder einer Öffnung der direkten Demokratie, weil dies ihre eigene Machtstellung gefährden würde. Insoweit erfüllt die direkte Demokratie hier tatsächlich eine innovative, nutzbringende Funktion.

In den übrigen Bereichen bleibt aber die Frage, ob sich die direkte Demokratie „von unten“ mit der Logik unserer parlamentarischen Parteiendemokratien verträgt. Diese basieren ja auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition. Der regierenden Mehrheit gebührt dabei das Monopol der politischen Initiative bzw. Gestaltung, während die Opposition als Minderheit ganz auf ihre Alternativ bzw. Kritikfunktion zurückgeworfen bleibt. Diese nimmt sie mit dem Ziel wahr, die Regierung nach der nächsten Wahl abzulösen.

Das Alternierungsprinzip des parlamentarischen Systems wird berührt, um nicht zu sagen gestört, wenn man der Opposition die Möglichkeit gibt, über die Hintertür der plebiszitären Verfahren die Regierungspolitik zu konterkarieren. Beide Prinzipien beißen sich. Eigentlich passt die Volksgesetzgebung, wenn man sie als oppositionelles Instrument betrachtet, eher in ein System strenger Gewaltentrennung, wie wir es etwa in den USA finden oder auch in der Schweiz. Die Schweiz ist von ihrer Grundstruktur her eben kein parlamentarisches Regierungssystem. Die Oppositionsrechte werden hier tatsächlich vom Volk ausgeübt. Die Kehrseite dieses Systems (nicht im negativen Sinne verstanden) ist die Konkordanz. Indem man möglichst alle relevanten politischen Kräfte in die Regierung einbezieht, trifft man Vorsorge, dass das Referendum nicht ergriffen wird. Der Charakter des schweizerischen Regierungssystems wird insofern entscheidend von den Vorab-Wirkungen der direkten Demokratie geprägt.

Wären die direktdemokratischen Verfahren in der Bundesrepublik genauso leicht anwendbar wie in der Schweiz, dann könnten wir irgendwann in eine ähnliche Situation kommen. Die Regierung müsste dann schon frühzeitig den Schulterschluss mit den anderen politischen Kräften suchen, da sie ansonsten Gefahr laufen würde, sich eine Volksinitiative einzuhandeln. Das auf dem Dualismus von Regierung und Opposition beruhende System würde so allmählich in Richtung eines Konkordanzsystems transformiert. Man kann darüber streiten, ob dies nicht die bessere Alternative wäre. In der Politikwissenschaft gibt es starke Stimmen, die die Überlegenheit von konsensdemokratischen gegenüber mehrheitsdemokratischen Systemen behaupten. Diese Debatte kann hier nicht geführt werden. Es gilt nur auf die institutionellen Folgen aufmerksam zu machen, die sich aus der Einführung der Initiative ergeben.

Die Skepsis wird auch dadurch genährt, dass die Volksgesetzgebung auf der nationalen Ebene in keiner der alten europäischen Demokratien verbreitet ist. Selbst die Schweiz, auf die wir als vermeintliches Vorbild meistens Bezug nehmen, kennt sie nur auf der kantonalen Ebene, nicht dagegen im Bund. Zwar ist auch hier die Initiative vorgesehen. Diese beschränkt sich aber auf Veränderungen der Verfassung mit der Folge, dass man in der Schweiz auch solche Dinge in der Verfassung regelt, die dort eigentlich nicht hineingehören. An einem der letzten Abstimmungssonntage wurde z. B. eine Verfassungsinitiative angenommen, wonach der Anteil der Zweitwohnungen landesweit auf 20 Prozent begrenzt werden muss. Das steht jetzt so in der Schweizer Verfassung.

Schweizer Politikwissenschaftler bezeichnen die Verfassungsinitiative gerne als „Gaspedal“, wohingegen das fakultative Referendum, also die Vetoinitiative als „Bremse“ fungiere. Warum das Gaspedal nur im Bereich der Verfassung betätigt werden soll bzw. kann (alle Versuche, die Gesetzesinitiative auf Bundesebene einzuführen, sind bislang gescheitert), ist eine nicht ganz leicht zu beantwortende Frage. Ein wichtiger Grund liegt sicherlich im Problem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die Normenkontrollbefugnis des Schweizer Bundesgerichts bezieht sich nur auf kantonale Gesetze, nicht auf Bundesgesetze. Mit der Beschränkung auf die Verfassungsinitiative soll insofern auch der Gefahr entgegengewirkt werden, dass das Volk verfassungswidrige Gesetze beschließt. Allerdings lässt sich nicht ausschließen, dass durch eine Verfassungsinitiative andere Prinzipien der Verfassung verletzt werden. So verstößt z. B. das von der rechtspopulistischen SVP betriebene Minarettverbot gegen das Recht der Religionsfreiheit, das zu wahren sich die Schweiz auch völkerrechtlich (im Rahmen der europäischen Menschenrechtskonvention) verpflichtet hat.

Ein zweiter in der Literatur merkwürdigerweise selten thematisierter Grund für die Zurückhaltung gegenüber der „positiven“ Initiative liegt in der größeren Komplexität der „einfachen“ Gesetzgebung im Vergleich zur Verfassungsgesetzgebung. Die Vorstellung, dass das Volk selbst dieses komplizierte Geschäft erledigt, ist in der Tat gewöhnungsbedürftig, wenn man bedenkt, wie schwer sich schon die Parlamente mit dieser Aufgabe tun. In den modernen demokratischen Systemen haben die Regierungen den Parlamenten als Gesetzgeber längst den Rang abgelaufen. Das gilt vor allem für die – diesen Namen insoweit zu Unrecht tragenden – „parlamentarischen“ Systeme, in denen die jeweiligen Parlamentsmehrheiten die Gesetzesinitiative freiwillig den von ihnen getragenen Regierungen überlassen. In den Gewalten trennenden präsidentiellen Systemen haben sich die Legislativen demgegenüber ein größeres Maß an Eigenständigkeit in der Gesetzgebungstätigkeit bewahrt.

Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass sich keine einzige der alten Demokratien entschieden hat, die Volksgesetzgebung auf der nationalen Ebene einzuführen. Auch die Vetoinitiative ist außerhalb der Schweiz nur in einem Land vorgesehen – in Italien. Allerdings wurde die Zurückhaltung gegenüber dem plebiszitären Instrument nicht von den mittel-und osteuropäischen Staaten geteilt, von denen einige im Verfassungsgebungsprozess nach 1989 die Volksrechte in ihre parlamentarischen Regierungssysteme übernahmen. Deren Einführung gründete freilich nicht auf einer wirklichen Kenntnis der systemischen Wirkung der plebiszitären Elemente, sondern erfolgteim demokratischen Übereifer nach dem von unten erzwungenen Systemwechsel.

Die Skepsis gegenüber der Volksgesetzgebung lässt sich drittens auch daran ablesen, dass die Volksrechte in ihrer tatsächlichen Anwendbarkeit durch den Verfassungsgeber stark eingeschränkt werden. Man entscheidet sich also auf der einen Seite für das potenziell weitreichendste Modell der direkten Demokratie, sorgt aber auf der anderen Seite durch eine Vielzahl von Ausschlussgegenständen, durch hohe Hürden und weitere Verfahrensvorschriften und durch die parlamentarische Missachtung der Volksbeschlüsse dafür, dass dieses Modell in der Praxis gar nicht zum Tragen kommt. In vielen Bundesländern spielt die direkte Demokratie im realen Verfassungsleben überhaupt keine Rolle.

Beides sind Seiten einer Medaille. Die restriktive Ausgestaltung wird durch das Modell der Volksgesetzgebung selbst bedingt. Der Verfassungsgeber scheint also zu ahnen, dass bei zu niedrigen Quoren oder bei zu vielen Gegenständen, über die abgestimmt werden kann, ein Problem entsteht. Ihm schwanen – mit anderen Worten – genau die Konflikte, die durch den oppositionellen Charakter der Volksrechte hervorgerufen werden, nämlich das Durchbrechen der Funktionslogik unseres parlamentarischen Regierungssystems.

 Die Kritiker der restriktiven Ausgestaltung der Direktdemokratie in der Bundesrepublik haben insofern Recht, wenn sie das vom Verfassungsgeber gemachte Versprechen der Volksgesetzgebung als unehrlich hinstellen. Auch ihre Lösung erscheint zunächst folgerichtig: Um das Versprechen einzulösen, müssen die Anwendungsbedingungen der direkten Demokratie verbessert werden. Dass mit dem Versprechen selbst etwas falsch sein könnte, dieser Gedanke kommt ihnen nicht in den Sinn.

Verfas­sungs­po­li­ti­sche Konse­quenzen

Was folgt daraus für die bestehenden direktdemokratischen Verfahren in den Ländern und ihre mögliche Einführung auf der Bundesebene? Was die Länder betrifft, wäre es naiv anzunehmen, man könnte die Volksgesetzgebung wieder abschaffen. Das würden sich die Bürger nicht gefallen lassen und es widerspräche auch allen Gesetzen der pfadabhängigen Entwicklung. Wo es die Volksgesetzgebung schon gibt, trägt sie auch den Keim ihrer Ausdehnung in sich. Das heißt: Der Trend wird dahin gehen, die Abstimmungsgegenstände zu erweitern und die Quoren in den verschiedenen Stadien des Verfahrens weiter abzusenken. Gerade damit wächst aber die Wahrscheinlichkeit, dass parlamentarische und Volksgesetzgebung miteinander kollidieren. Hamburg könnte man hier als Beispiel anführen. Während in den meisten Bundesländern, was die Reform der Direktdemokratie betrifft, noch sehr viel Luft besteht, scheint das Potenzial für Verfahrenserleichterungen in der Hansestadt mittlerweile ausgereizt zu sein. Die konsensuelle Umgestaltung des Regierungssystems ist dort bereits in vollem Gange.

Wie lässt sich das Problem lösen? Der Verfasser hat einmal den Vorschlag gemacht, das Spannungsverhältnis zwischen Volksrechten und parlamentarischem System auf der Länderebene von der anderen Seite her aufzulösen, indem man nicht die Volksgesetzgebung, sondern das parlamentarische System zur Disposition stellt. Wenn es stimmt, dass die plebiszitären Verfahren in Gewalten trennenden Systemen wie den USA und der Schweiz besser aufgehoben sind als in den parlamentarischen Systemen der Gewaltenfusion, könnte man dann nicht in den Bundesländern die bestehenden parlamentarischen durch präsidentielle Regierungsformen ersetzen? Genau diese Reform haben wir in der Bundesrepublik auf der kommunalen Ebene in den 90er Jahren gemacht. Das Argument der besseren Verträglichkeit mit den gleichzeitig ausgebauten Verfahren der Bürgerbeteiligung (Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) spielte bei der Einführung der
Bürgermeisterdirektwahl damals aber interessanterweise gar keine Rolle. Ob es auf Länderebene zu einer Revision der parlamentarischen Regierungsform beitragen könnte, bleibt offen. Die Länder werden mit dem bestehenden Zustand der Direktdemokratie jedenfalls irgendwie klarkommen müssen.

Auf der Bundesebene kann die Empfehlung nach der hier vorgetragenen Argumentation dagegen nur lauten: Hände weg von der Volksgesetzgebung! Die von den Befürwortern der Volksgesetzgebung insinuierte Vorstellung, dass das auf der kommunalen und Länderebene existierende Modell als „Blaupause“ problemlos auch auf die Bundesebene übertragen werden könne, ist falsch, Nirgendwo steht geschrieben, dass die Regierungssysteme auf beiden staatlichen Ebenen dieselben sein müssen. Dies zeigt sich etwa am Fehlen einer zweiten Gesetzgebungskammer oder eines von der Position des Regierungschefs abgetrennten Staatsoberhauptes in den Ländern schon heute. In den institutionellen Abweichungen spiegelt sich der unterschiedliche Charakter der Länder- und Bundespolitik wider. Die Bundesebene ist in Deutschland vor allem mit der Gesetzgebung betraut, während die Hauptaufgabe der Länder im Bereich der Verwaltung liegt. Dies hätte auch für eine mögliche Einführung der Direktdemokratie Folgen. Weil der Bereich der Gesetzgebung auf der Bundesebene quantitativ und qualitativ sehr viel größer wäre, müssten die Anwendungsbedingungen der direkten Demokratie auf Bundesebene noch restriktiver sein als in den Ländern. Der Widerspruch zwischen Modell und Praxis würde auf der Bundesebene also noch sehr viel stärker virulent werden und damit natürlich auch die Bestrebungen der Befürworter der direkten Demokratie auf den Plan rufen, die Anwendungsbedingungen der direktdemokratischen Verfahren zu erleichtern.

Hinzu kommt das bisher nicht gelöste Problem der Integration der zweiten Kammer in ein Volksgesetzgebungsverfahren. Dieses Problem entfällt auf der Länderebene, wo es nach der durch Volksbegehren erzwungenen Abschaffung des Senats in Bayern heute keine zweiten Kammern mehr gibt. Die Befürworter der Volksgesetzgebung wollen dasProblem durch die Übernahme des Schweizer Modells lösen, das bei Volksentscheiden ein „doppeltes Mehr“ verlangt: Sowohl die Mehrheit des Bundesvolkes als auch die Mehrheit der „Völker“ in den Kantonen bzw. Ländern müssen danach der Vorlage zustimmen. Weil die Position des Bundesrates im deutschen Regierungssystem eine ganz andere ist als jene des Ständerates in der Schweiz, ist das jedoch abwegig. Der Bundesrat wird an der Gesetzgebung deshalb beteiligt, weil er die Länderinteressen gegen den unitarisierenden Zugriff des Bundes im Verwaltungsverfahren schützt. Diese Funktion, die ein hohes Maß an Expertise voraussetzt, kann nicht ersatzweise von den „Ländervölkern“ wahrgenommen werden. In der Schweiz ist das anders, weil die Kantone hier bei der Durchführung der Gesetze tatsächlich autonom sind.

Bleibt die Frage nach den Alternativen. Wenn die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene nicht ratsam ist, müssen wir dann auf sämtliche Verfahren der direkten Demokratie verzichten? Dafür gibt es keinen ersichtlichen Grund. Um die Frage nach dem „Wie“ angemessen zu beantworten, müsste man freilich die Debatte um die direkte Demokratie hierzulande vom Kopf auf die Füße stellen. Nicht die vermeintlich rückschrittlichen Formen der direkten Demokratie „von oben“ stellen das Problem dar, sondern die mit dem bestehenden Regierungssystem nicht kompatiblen Formen der direkten Demokratie „von unten“. Warum sollten nicht die Regierung oder das Parlament die Möglichkeit bekommen, eine bestimmte Frage dem Volk zur Entscheidung vorzulegen? Und warum könnte nicht auch unsere Verfassung festlegen, dass über bestimmte Fragen automatisch ein Volksentscheid stattzufinden hat? Auch was die Initiative angeht, gibt es durchaus Formen, die in das vorhandene Regierungssystem integrierbar wären, etwa eine konsultative Initiative, mit der das Volk das Parlament auffordern könnte, sich mit einer bestimmten Angelegenheit zu befassen. Die Einführung einer „Vetoinitiative“ wäre dagegen allenfalls auf der Länderebene zu erwägen, wo ein solches Instrument die überwiegend zu Oppositionszwecken genutzte Volksgesetzgebung entlasten könnte. Weil wir hierzulande fast schon notorisch auf die Volksgesetzgebung als allein selig machendes Modell der direkten Demokratie fixiert sind, kommen diese alternativen Formen viel zu selten in den Blick. Der Volksentscheid auf Bundesebene hat nur dann eine Chance, wenn der Verfassungsgeber sich aus dieser Fixierung befreit. Es sind also vor allem die Befürworter der direkten Demokratie, die umdenken müssen.

[1]Für eine ausführliche Entfaltung der Argumentation vgl. Frank Decker, Welche Art der direkten Demokratie brauchen wir?, in: Tobias Mörschel / Christian Krell (Hg.), Demokratie in Deutschland, Wiesbaden 2012, S. 175-198.

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