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Perspek­tiven zivil­ge­sell­schaft­li­cher Parti­zi­pa­tion in der EU*

15. September 2012

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 60-73

Ich wende mich der europäischen Wirklichkeit zu und lege Lehren aus der empirischen Forschung offen. Das werde ich in fünf Punkten tun: Ich werde eine Fallstudie präsentieren, die, wie ich denke, ein gelungenes Beispiel einer europäischen Bürgerinitiative (EBI) ist, und werde dann an diesem Fall die Möglichkeiten und Grenzen dieses neuen Partizipationsmechanismus aufzeigen. In einem nächsten Schritt gehe ich auf den so genannten zivilen Dialog ein, der die Europäische Union schon länger begleitet, und am Ende frage ich dann: Bringen diese Neuerungen mehr Demokratie für die EU? Ich kann hier an Michael Greven anschließen, der einmal gefragt hat: Wie steht es um die Demokratiefähigkeit der EU? In seinem Beitrag, der in dieser Ausgabe gleichfalls veröffentlicht wird, fällt seine Antwort höchst skeptisch aus, und auch ich sehe wenig Anlass zum Optimismus.

Die Europäische Bürger­in­itia­tive

„8hours“: Nicht mehr als acht Stunden soll der Transport lebender Tiere dauern. So lautet die Forderung einer europäischen Bürgerinitiative, und ich denke, dem würde keiner widersprechen. Denn selbst wenn es sich um Schlachttiere handelt, ist doch nicht zumutbar, dass Tiere unnötig lange leiden oder sogar auf dem Transport elendiglich zu Grunde gehen. Die Wirklichkeit sieht heute desaströs aus. Es gibt zwar Vorschriften, nämlich EU-weite Richtlinien, aber danach können Tiere erschreckend lang transportiert werden. Es gibt Unterschiede je nach Tiergattung und beispielsweise danach, ob die Tiere noch gesäugt werden oder nicht. Doch die Zeiten sind lang: ein Schwein kann beispielsweise 24 Stunden unterwegs sein und wenn man eine Pause einhält, dann kann der Tag nochmals um 24 Stunden verlängert werden. Die drängende Frage in diesem konkreten Fall ist weniger, wie eine solche Bürgerinitiative zustande kommen kann, sondern welche Erfolgschance sie hat. In der Tat ist es gelungen – wie erforderlich – über eine Million Stimmen zu sammeln, die Initiative vorschriftsgemäß bei der Europäischen Kommission einzureichen und zudem auch noch die Unterstützung des Europäischen Parlaments zu gewinnen. Kurz gesagt, alles scheint auf gutem Weg zu sein aber wird sie auch Erfolg haben?

Um eine solide Einschätzung der Erfolgsbedingungen zu gewinnen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, was rein formell betrachtet eine Europäische Bürgerinitiative bewirken kann. Die Bürgerinitiative ist nicht mehr als ein Vorschlag an die Europäische Kommission, die das Gesetzgebungsinitiativrecht hat, dass sie sich mit der Materien befassen möge. Natürlich ist auch das Europäische Parlament aufgefordert, die Initiative zu diskutieren. Doch nach dem Gesetz liegt die Entscheidung, ob die Initiative aufgegriffen wird oder nicht, bei der Europäischen Kommission, denn nur sie kann einen Gesetzesvorschlag einbringen. Also muss man sich fragen: Wie kann ein ausreichender politischer Druck aufgebaut werden, damit die Kommission tätig wird?

Zwar sind Europäische Bürgerinitiativen erst seit dem 1. April 2012 zugelassen, doch es gab schon vor Inkrafttreten des Gesetzes mehr als 25 Pilotinitiativen1 und aus ihnen, wie aus den inzwischen neun vorliegenden offiziellen Initiativen (August 2012), können bestimmte Erfolgsmuster herausgelesen werden.

Auf dem Weg zum Erfolg sind zwei Hürden zu nehmen: 1. Es müssen eine Million Bürger aus mindestens sieben Mitgliedstaaten für die Unterstützung einer Initiative mobilisiert werden.2 2. Die Europäische Kommission muss dafür gewonnen werden, die Initiative auch aufzugreifen.3 Doch selbst wenn diese Hürden erfolgreich genommen wurden, muss 3. gefragt werden, ob das Verfahren insgesamt so gestaltet ist, dass man von einer gelungenen demokratischen Partizipation sprechen kann.

Start­be­din­gungen

Die erste Frage ist also: Wie leicht oder schwer ist es, eine Initiative zu lancieren? Es ist einleuchtend, dass eine Initiative leichter Unterstützung findet, wenn sie ein populäres Thema aufgreift. Wenn ein allgemein bekanntes Problem angesprochen wird, wenn Emotionen geweckt werden und wenn es gelingt, den Aufruf griffig zu formulieren, dann kann man auf großes Echo hoffen. Mit anderen Worten, für erfolgreiche Initiativen gibt es Themenkonjunkturen und dies zeigen die bisher gestarteten Initiativen eindeutig. So forderte die erste Initiative, die noch vor dem offiziellen Start der EBI der Europäischen Kommission unterbreitet wurde, ein Moratorium beim Anbau gentechnisch modifizierter Pflanzen.4 In der Pilotphase gab es noch eine weitere Initiative zum Thema Gentechnik und andere resonanzträchtige Themen wie die Rechte von Behinderten, der Kampf gegen Adipositas oder der arbeitsfreie Sonntag. Auch unter den nun offiziellen, d. h. nach dem 1. April 2012 eingereichten Initiativen tauchen populäre Themen wie das Verbot von Tierversuchen5 oder die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens6 auf.

Die kurze Geschichte der EBI zeigt allerdings, dass die Attraktivität eines Themas nicht ausreicht. Erforderlich sind ein professionelles Management und eine gute transnationale Vernetzung der Organisatoren. Zum professionellen Management gehört eine attraktiv gestaltete Webseite, das Informationsangebot in möglichst vielen Sprachen, damit die potentiellen Unterstützer auch in ihrer Muttersprache angesprochen werden, und vor allem viele freiwillige Helfer, die das Thema über einschlägige Organisationen oder die Medien bekannt machen und die notwendigen Unterschriften aktiv einwerben. Zwar sollen nach den Vorstellungen der EU individuelle Bürger eine EBI lancieren, doch tatsächlich sind es meist Organisationen, die die Initiative ergriffen haben. Europaweit oder gar weltweit agierende politische Unternehmer mit hoher Reputation wie Greenpeace sind hier im Vorteil. Aber auch die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Umweltschutzorganisationen ist erfolgsverdächtig, bieten sie doch Gewähr für Professionalität und hohes Mobilisierungspotential. Wenn dann noch, wie bei der Initiative für ein Grundrecht auf Wasser7, eine hohe und über die Mitgliedstaaten breit gestreute Zahl von nationalen und europäischen Unterstützerorganisationen aufgeboten werden kann, dann darf man auf den Erfolg wetten.

Dass ein attraktives Thema allein nicht reicht, zeigt die mäßige Resonanz auf das Pilotprojekt für den freien Sonntag. So gering die Zahl und Bedeutung der unterstützenden Organisationen war, so bescheiden blieb die Zahl der Unterschriften.8 Die Tatsache, dass die Webseite nur in deutscher Sprache zugänglich war, mag sein Übriges dazu beigetragen haben. So kann man gespannt sein, ob die jetzt offiziell laufenden Bürgerinitiativen, die ihre ausführlicheren Informationen nur in einer oder wenigen Sprachen präsentieren, mehr Erfolg haben werden.

Resonanz in Brüssel

Wenden wir uns der zweiten Frage zu: Wann ist es wahrscheinlich, dass die Initiative ihre Adressaten erreicht?

Das formale Prozedere ist wie folgt9: Die Kommission prüft die Initiative und wird binnen drei Monaten nach Eingang der Initiative die Organisatoren empfangen und ihnen Gelegenheit geben, ihr Vorhaben näher zu erläutern. Die Organisatoren haben überdies die Möglichkeit, ihre Initiative bei einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament vorzustellen. Es liegt im Ermessen der Kommission, ob sie die Initiative aufgreift und welche Maßnahmen sie vorschlägt. Die Entscheidung wird formell vom Kollegium der Kommissionsmitglieder getroffen und die Gründe der Annahme oder Ablehnung werden öffentlich dargelegt. Mit anderen Worten, die Kommission ist nicht verpflichtet, als Antwort auf eine Initiative einen Rechtsakt vorzuschlagen und auch nicht bei einer eventuellen Gesetzesinitiative den inhaltlichen Vorgaben der Initiatoren zu folgen. Beschließt die Kommission jedoch, einen Rechtsakt vorzuschlagen, wird das normale Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt: Der Kommissionsvorschlag wird nach dem im Vertrag vorgesehenen Verfahren dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt und wenn er angenommen wird, erlangt er in allen Mitgliedstaaten Gesetzeskraft.

Wie groß ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommission positiv reagiert? Zunächst einmal entspricht es ihrer Politik, populäre Themen aufzugreifen. Seit einigen Jahren, genau gesagt, seit dem Amtsantritt von Kommissionspräsident J. M. Barroso, profiliert sich die Kommission in all ihren Selbstdarstellungen damit, dass sie im Interesse der Bürger handelt und dafür Sorge trägt, dass der Bürger aus der EU Nutzen zieht. So ist es nur folgerichtig, dass sie einer Initiative, die von einer Million Bürgern aus sieben Mitgliedstaaten getragen wird, grundsätzlich positiv gegenüber steht. Schließlich kann damit überzeugend demonstriert werden, dass sie geneigt ist, eine Politik für die Bürger zu machen. Anderseits ist sie aber auch gehalten, auf die Kohärenz ihrer politischen Linie zu achten und die Durchsetzungschancen einer politischen Kursänderung in Betracht zu ziehen. Nehmen wir das Beispiel der „8hours“-Initiative. Die Kürzung der Transportzeiten ist ein aktuelles Thema, denn die Kommission ist durch die Tierschutztransportverordnung von 2005 verpflichtet, dem Europäischen Parlament und dem Rat (bis spätestens Januar 2011) einen Bericht über die bisherigen Erfahrungen vorzulegen. Sie gab eine wissenschaftliche Studie in Auftrag und kam ihrer Berichtspflicht im November 2011 nach. In ihrem Bericht schlägt sie eine Reihe von Maßnahmen zur Ergänzung der Verordnung vor.10 Mit anderen Worten, das Thema steht auf der Tagesordnung und die Europäische Bürgerinitiative nimmt Stellung zu einer aktuell laufenden Diskussion.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kommission mit „8hours“ befassen wird, erhöht sich dadurch, dass das Europäische Parlament eine Resolution verabschiedet hat, die von mehr als der Hälfte der Abgeordneten unterzeichnet wurde, so dass sie als offizielle Stellungnahme des Parlamentes gilt. Dies hat zwar keine rechtlichen Folgen, verleiht aber der Forderung von „8hours“ politisches Gewicht. Die Unterstützung hat nicht nur symbolischen Wert, sondern signalisiert, dass sich in den späteren Verhandlungen das Europäische Parlament für eine deutliche Kürzung der Transportzeiten stark machen wird.

Effektive demokra­ti­sche Parti­zi­pa­tion?

Die entscheidende, dritte Frage lautet nun: Gibt die Europäische Bürgerinitiative dem Bürger ein Instrument in die Hand, mit dem sie oder er Einfluss auf die Inhalte der europäischen Politik nehmen kann? Mit anderen Worten, leistet sie wirklich einen Beitrag zur effektiven demokratischen Partizipation?

In der Tat ist vorgesehen, dass einzelne Bürger die Initiative ergreifen, sich transnational zusammenfinden und ihr Anliegen auf den Weg bringen. Diese Vorstellung ist bestenfalls naiv, wenn nicht zynisch. Nur eine kleine europäisierte (Bildungs-)Elite ist in der Lage, Gleichgesinnte in sieben EU-Ländern zu mobilisieren, ihr Anliegen in einer Vielzahl von Sprachen zum Ausdruck zu bringen und den organisatorischen Aufwand der digitalen Informationsverbreitung und Unterschriftssammlung zu meistern. Und in der Tat stehen hinter den von Individuen getragenen Initiativen zu „High Quality European Education for All“ Vertreter und Absolventen der Europa-Schulen11 bzw. bei „Fraternité 2020 – Mobility. Progress. Europe“ durch Erasmus und andere EU-Austauschprogramme geförderte Studenten und Professoren, die European Studies lehren.12 Auch bei den anderen Initiativen liegt die Autorenschaft nicht beim einfachen Bürger. Nach den Vorgaben der EU sollten Bürgerinitiativen nicht von Organisationen geleitet, sondern von diesen nur gefördert und unterstützt werden. Ferner sollen Abgeordnete des Europäischen Parlaments sich nicht der Bürgerinitiative bemächtigen. Die Vorschrift ist, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments bei der Mindestzahl von 7 Bürgern für den Bürgerausschuss nicht mitgerechnet werden.

Die Praxis sieht anders aus: Die meisten Initiativen werden von Organisationen bzw. von Mitgliedern des Europäischen Parlaments lanciert. Mit anderen Worten, die bereits politisch organisierten Kräfte dominieren das Feld. Bürger werden zur Mitwirkung aufgefordert und in der Tat ist allgemein festzustellen, dass Bürger für diese Formen der „unkonventionellen politischen Partizipation“ – wie es im politikwissenschaftlichen Fachjargon heißt – offen sind. Die Wahlbeteiligung mag sinken, aber die Bereitschaft, Unterschriften zu leisten oder zu spenden ist weiter verbreitet als je zuvor. Allerdings ist es „Partizipation light“, denn in ihrer Mehrheit sind die Bürger eben nicht bereit, Mitglied einer Organisation zu werden oder sich in anderer Form längerfristig zu engagieren. Damit überlässt man nicht nur die Arbeit zu Durchführung einer EBI einer kleinen Zahl von Aktivisten, man verlässt sich auch darauf, dass die, die bereits organisiert sind, politisch relevante Themen aufgreifen. Damit geht einher, dass es zu Interessensverschiebungen kommt: Ich unterschreibe, wenn ich darum gebeten werde, und unterstütze so eine Sache, die andere für wichtig halte, während ich zu anderen Themen, die mir vielleicht mehr auf den Nägeln brennen, meine Stimme nicht erhebe. Die Schwelle zum eigenen politischen Engagement ist hoch, das ist eine bekannte Tatsache, denn es waren schon immer Minderheiten, die sich um die res publica gekümmert haben. Insofern liegen die europäischen Bürgerinitiativen ganz im Strom der üblichen Partizipationsentwicklung.

Wie sind eine solch verzerrte Partizipationsverteilung und die Wahrscheinlichkeit der Interessensverschiebung demokratisch zu beurteilen? Nach meiner Auffassung steht es nicht im Widerspruch zur Demokratie, wenn der gesellschaftliche Wandel durch Minderheiten vorangetrieben wird. Bedenklich wird es erst, wenn die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit keine Kontrolle mehr darüber hat, was Minderheiten voranbringen. Mit anderen Worten, die demokratische Qualität der Bürgerinitiativen entscheidet sich daran, ob Öffentlichkeit und Transparenz bestehen. Die Internetauftritte geben teils ausführliche, teils nur rudimentäre Informationen darüber, was die Initiativen erreichen will und wer dahinter steht. Die Initiative „8hours“ ist ein positives Beispiel, weil das Anliegen anschaulich dargestellt und die bestehenden Probleme mit Dokumenten eindrücklich belegt werden. Aber selbst die Publizität dieser Initiative ist sehr gering und insgesamt muss festgestellt werden, dass nur wenige der Initiativen von den Medien beachtet werden. Somit finden sie in der breiten Öffentlichkeit auch keine Aufmerksamkeit. Man wird beobachten müssen, ob sich das ändert, wenn nach Abschluss der Stimmensammlung die Bürgerinitiativen im Europäischen Parlament diskutiert werden und die Kommission ihre Stellungnahme abgibt. Die Einbindung des Europäischen Parlaments ist ein Gewinn, denn dadurch kann prinzipiell eine größere Öffentlichkeit erreicht werden.

Die Verknüpfung von repräsentativer Demokratie und direkter Demokratie kommt dem Europäischen Parlament zugute. Sie bedeutet eine Stärkung der repräsentativen Demokratie in der EU, weil das Parlament bisher nicht das Recht zur Gesetzesinitiative hat und über den Umweg der Lancierung oder Unterstützung einer Europäischen Bürgerinitiative nun Einfluss auf die politische Agenda der Kommission nehmen kann. So ist es auch nicht überraschend, dass verschiedene Fraktionen des Europäischen Parlamentes, insbesondere die Fraktion der Grünen, eine Reihe von Aktivitäten entfaltet haben, um die EBI auf den Weg zu bringen. Das reicht von einem Handbuch: „Wie gestalte ich eine erfolgreiche Bürgerinitiative?“, über die Einrichtung eines Instituts, das Lehrgänge anbietet und Material zur Verfügung stellt: „Wie mache ich eine europäische Bürgerinitiative?“, bis hin zu Webseiten: „Wie kann ich mich am besten vernetzen?“ usw. usf.

Öffentlichkeit ist eine wichtiges Element demokratischer Willensbildung und unerlässlich für Partizipation. Doch demokratische Partizipation verlangt auch, dass den Stimmen der Bürger Gehör gegeben wird. Im Falle der Initiative „8hours“ hat die Resolution des Europäischen Parlaments ein starkes Zeichen gesetzt. Somit scheinen die Weichen auf Erfolg gestellt. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die Aussage des zuständigen Kommissars anlässlich der offiziellen Übergabe der EBI (am 7. Juni 2012), dass die Kommission bis zum Jahr 2014 einen Verordnungsvorschlag vorlegen wird, der auch eine Reduktion der Tiertransportzeiten beinhalten wird. Allerdings wurde diese Aussage dann nach weniger als einer Woche von der Kommission dementiert. Diese Positionskorrektur ist ganz auf der Linie der offiziellen Haltung wie sie im Tierschutzbericht der Kommission zum Ausdruck kam. Die Kommission sieht keinen Handlungsbedarf mit Ausnahme einer besseren Überwachung der Einhaltung der Verordnung durch die Mitgliedstaaten. Nach ihrer Lesart zeigt die Studie, die ihrem Votum zugrunde liegt, „(…) eine Verbesserung der Gesamtqualität von Tiertransporten“ und dies in erster Linie bei Langstreckentransporten. Liest man die Studie13, so ist deren Tenor ganz anders. Es wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass keine spürbare Verbesserung für das Wohl der Tiere erreicht wurde: „For the main groups of animals there are no indications that animal welfare during transport has been improved substantially by Regulation 1/2005.“ Ferner wurde ein „historic increase“ im Handel und damit im Transport lebender Tiere festgestellt und außerdem vermerkt, dass es keinen nennenswerten Unterschied zwischen der Behandlung von Zuchttieren und Schlachtvieh gibt. Damit man sich eine Vorstellung von der Größenordnung dieses Tierelends machen kann, verweise ich auf die Zahlen der Kommission: Sie spricht von 35 Millionen Tieren, die jährlich oft tagelang quer durch Europa transportiert werden.14

Warum nun scheint die Initiative kein Gehör zu finden? Die erwähnte Studie bietet Aufschluss: Die Durchsetzung des europäischen Binnenmarktes, nicht zuletzt dank der Vereinheitlichung der Transportgesetzgebung, hat zu einer Verschärfung des Wettbewerbs und damit zu einer Zentralisierung der Schlachthöfe geführt. Ausbau der Schlachtkapazitäten für Schweine an zentralen Stellen in Deutschland und Anlieferung der Schweine und Ferkel aus Dänemark und den Niederlanden, deren Schlachtkapazität dann abgebaut wurde. Die Ausweitung der Transporte ist eine zwangsläufige Folge. Selbstverständlich gab es bereits früher Widerstand gegen die Schließung der kleinen, lokalen Schlachthöfe und gegen die Verlängerung der Tiertransporte. Ich erwähne nur die offiziellen deutschen Initiativen: Bereits im Jahre 2003 haben etliche Bundesländer eine Begrenzung der Transportzeiten auf acht Stunden gefordert15, später gab es im Bundesrat einen Vorstoß für den Erhalt lokaler Schlachthöfe und 2009 hat der Bundesrat sich erneut dafür eingesetzt, in der EU-Verordnung festzulegen, dass – entsprechend der in Deutschland geltenden Vorschriften – die Höchstdauer von Transporten acht Stunden nicht überschreiten darf.16 Das zuständige Bundesministerium mochte sich dem Vorschlag nicht anschließen und verwarf vor allem die Festlegung auf eine konkrete Zeitdauer mit dem Verweis auf die schwierige Erreichbarkeit von Schlachthöfen.17 Diese kleine Geschichte zeigt eine grundsätzliche Schieflage europäischer Politik auf: Handelte man nach dem Subsidiaritätsprinzip, das schließlich als Prinzip auch in den Europäischen Verträgen festgelegt ist, dann wäre das Problem längst im Interesse des Tierschutzes gelöst. Fällt man die Entscheidung in Brüssel, dann stehen die Verwirklichung des Binnenmarktes und die Effizienz des Wettbewerbs im Vordergrund. Es ist kaum zu erwarten, dass Europäische Bürgerinitiativen gegen diesen Trend angehen können. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Initiativen tritt für eine Ausdehnung der Brüsseler Kompetenzen ein, sei es im Bildungsbereich, bei der Durchsetzung eines unbegrenzten Wahlrechts, dem Schutz des ungeborenen Lebens oder der Grundversorgung mit Wasser. Kurz gesagt, die Europäische Bürgerinitiative könnte sich als Vehikel für weitere Zentralisierung und damit für die Entfernung der politischen Entscheidungen aus dem Einflussbereich des Bürgers erweisen.

Der zivile Dialog

Neben der Europäischen Bürgerinitiative hat der Vertrag von Lissabon noch ein weiteres Partizipationsversprechen aus dem Europäischen Verfassungsvertrag übernommen, nämlich den „zivilen Dialog“. Vergleicht man die Ausführungen zum zivilen Dialog mit denen zur Europäischen Bürgerinitiative dann springt ein Unterschied sofort ins Auge: Die Europäische Bürgerinitiative ist ein eindeutig beschriebenes Instrument und hat eine klar bestimmte Funktion. Der zivile Dialog ist als allgemeines Prinzip formuliert und fordert die europäischen Institutionen auf, das zu tun, was man eigentlich als Selbstverständlichkeit betrachten sollte: Sie sollen den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, ihre Ansichten öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen, sie sollen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen und die Kommission soll umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durchführen. Diese Sollbestimmungen sind nicht nur sehr allgemein formuliert, sie bringen auch keine Neuerungen, sondern halten nur vertraglich fest, was ohnehin tägliche Praxis ist.

Gemessen an dem Anspruch, mehr Partizipation zu wagen, ist vor allem bedenklich, dass keine konkreten Verfahren genannt werden, die den Bürgern bzw. den Vertretern der Zivilgesellschaft ermöglichen, ihre Belange zu Gehör zu bringen und Einfluss auf die Europäische Politik zu gewinnen. Ein weiteres Problem ist, dass es unbestimmt bleibt, wer die relevanten Akteure sind. Angesprochen werden die Bürger, repräsentative Verbände, die von einer Politik Betroffenen und die Zivilgesellschaft. Was ist mit Zivilgesellschaft gemeint? Gibt es überhaupt eine europäische, d. h. eine transnational vernetzte Zivilgesellschaft und wie könnte sie sich artikulieren? Schaut man sich die Debatten des Verfassungskonvents an, so wurde gerade diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet. Gerne verwies man auf die wichtige Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Verankerung von Demokratie in Europa, doch die Vorstellungen, was unter Zivilgesellschaft genau zu verstehen sei, klafften deutlich auseinander. Etliche Delegierte rieben sich vor allem an der Vorstellung, der „organisierten Zivilgesellschaft“ Vorrang zu geben. Sie forderten, dass den Bürgern direkt mehr Mitsprachemöglichkeiten eingeräumt werden solle und dieses Privileg nicht den Vereinen und Verbänden vorbehalten werden solle, die angeben im Namen der Bürger zu sprechen.

Parti­zi­pa­tion in der Praxis

Da die Vertragsvorschriften, wie gesagt, eine bereits bestehende Praxis widerspiegeln, sollte man sich nicht weiter mit dem Verfassungstext aufhalten, sondern eben diese Praxis unter die Lupe nehmen. Spätestens mit ihrem Weißbuch zum Regieren (2001) hat die Europäische Kommission sich dazu verpflichtet, die Bürger und die Zivilgesellschaft stärker in ihre Willensbildung einzubeziehen, womit sie nicht zuletzt auch einem Auftrag des Europäischen Rates nachkam. Eine Voraussetzung für Partizipation hat sie energisch angegangen, nämlich mehr Transparenz zu schaffen. De jure ist der Zugang zu den Dokumenten, die nicht nur die beschlossenen Maßnahmen festhalten, sondern auch Auskunft über laufende Initiativen geben, relativ großzügig geregelt. Das Recht auf Zugang kann, wenn notwendig, auch eingeklagt werden oder mit Hilfe des Europäischen Ombudsmanns erstritten werden. Die tatsächlichen Zugangsmöglichkeiten werden aber deutlich durch technische Unzulänglichkeiten und die Sprachbarriere erschwert. Selbst professionelle EU Beobachter – und wer unter den Bürgern kann sich schon dazu zählen – verbringt gelegentlich Stunden, um das einschlägige Dokument zu finden. Grünbücher und Memoranden, in denen die künftigen Politikvorhaben erläutert werden, liegen häufig nur in einer Sprache vor. Mit anderen Worten, nur der fremdsprachlich begabte und mit dem Internet vertraute Bürger ist Nutznießer der an sich so lobenswerten Transparenz der EU.

Ihre Stimme in Europa

Auch der Dialog mit dem Bürger wurde in Angriff genommen, doch dieser Dialog führte ebenfalls zu einem ambivalenten Ergebnis. „Ihre Stimme in Europa“ ist eine Einladung, sich an den Debatten über die Europäische Union und ihre Zukunft zu beteiligen. Die Aufforderung im Internet klingt viel versprechend: „Diskutieren Sie unmittelbar mit Entscheidungsträgern und tauschen Sie sich mit anderen Bürgern aus, die sich für das gleiche Thema interessieren.“ Verwiesen wird dann auf die Blogs von Kommissaren und hochrangigen Kommissionsbediensteten in den EU-Vertretungen in den Mitgliedstaaten. Die einschlägige Seite der Kommission18 zeigt das Porträt von 6 Kommissaren und 3 Vertretern in EU-Ländern, was bei 27 Kommissaren und 27 Mitgliedsländern eine recht magere Repräsentanz ist. Klickt man dann weiter, muss man feststellen, dassnur ein einziger Blog bei den Kommissaren und ein Blog aus der EU-Vertretung in Österreich zugänglich sind. Bei allen anderen heißt es lakonisch „the address you used is incorrect or obsolet“ und dann wird man in Sekundengeschwindigkeit auf das EU-Lexikon von A bis Z weitergeleitet. Auch der Verweis auf Facebook ist eher irreführend, denn im Angebot sind nur pdf-Dateien und das auch fast nur in englischer Sprache, d. h. es gibt lediglich zwei Ausnahmen: eine Datei gibt es auf Polnisch und eine zweite zusätzlich zu Englisch auch auf Bulgarisch.

Nicht eingehen möchte ich auf die unterschiedlichen Programme, mit denen die europäischen Institutionen Bürger aufgerufen haben, sich direkt an europäischen Debatten zu beteiligen. Veranstaltungen wie Europa-Konferenzen oder deliberative Foren ermöglichen Bürgern eine direkte Mitwirkung, doch unsere Untersuchungen haben rasch die bereits bestehende Auffassung bestätigt, dass diese Form des „participatory engineering“ wenig zur Demokratisierung der EU beitragen kann. Ein offenkundiger Schwachpunkt ist, dass im Vergleich zur Bevölkerungsgröße der EU immer nur eine verschwindend kleine Zahl von Mitwirkenden beteiligt ist und selbst wenn – wie beim „deliberative polling“ – eine nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben repräsentative Gruppe von Bürgern zusammengeführt wird, es nicht gewährleistet ist, dass deren Diskussion ein repräsentatives Meinungsbild ergibt. Ein weiterer Schwachpunkt ist, dass nicht nachzuvollziehen ist, wie die Diskussionsergebnisse Eingang in die Meinungsbildung der europäischen Institutionen finden könnten.

Einladung zur Konsul­ta­tion

Daneben gibt es allerdings noch ein weiteres Angebot. Die Einladung klingt wieder viel versprechend: „Gestalten Sie die europäische Politik mit, indem Sie sich an unseren Konsultationen beteiligen.“ Die einschlägige Seite listet die laufenden Konsultationenauf, die zu neuen Gesetzesinitiativen oder zur Überarbeitung bestehender Richtlinien durchgeführt werden.19 Die Teilnahme an solchen Konsultation eröffnet dem Bürger eine sehr direkte Partizipation am europäischen Politikgeschehen. Die Frage ist allerdings, ob diese Partizipation auch ein wirkungsvolles Instrument demokratischer Mitwirkung ist. Dieser Frage haben wir uns in einem umfangreichen empirischen Forschungsprojekt angenommen und über unsere Ergebnisse möchte ich hier berichten.20

Die Teilnahme an den Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission ist insofern von Bedeutung, weil die Kommission nach wie vor über das Initiativrecht für die europäische Gesetzgebung verfügt. Bürger können sich in aller Regel an Online-Konsultationen unmittelbar beteiligen und der Online-Zugang macht die Beteiligung einfach. In der Praxis bestehen aber doch recht hohe Zugangshürden, denn man muss überhaupt von diesem Angebot wissen und man muss verstehen, worum es geht. Da die Dokumente meist nur in Englisch vorliegenden und im EU-Fachjargon abgefasst sind, dürfte der durchschnittliche EU-Bürger überfordert sein. Unsere systematische Überprüfung von mehreren Konsultationen zur Reform der EU hat die ernüchternde aber nicht überraschende Tatsache zu Tage gefördert, dass die Beteiligung von Bürgern äußerst gering und sozialstatistisch einseitig verzerrt ist. Der typische Teilnehmer ist akademisch gebildet, männlich und kommt nur selten aus dem Süden oder Osten der EU.

Zivil­ge­sell­schaft­liche Einbindung: Ein Gleich­ge­wicht der Interessen?

Die Einrichtung der Online-Konsultationen hat zwar nur in wenigen Ausnahmefällen eine größere Zahl von Bürgern mobilisiert, doch die Kommission verweist mit Fug und Recht darauf, dass sie die Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft deutlich erhöht hat. Doch wer tritt hier als Zivilgesellschaft auf? Nach Brüsseler Verständnis ist Zivilgesellschaft die breite Palette von Verbänden, Plattformen und Netzwerken, die staatlich unabhängig sind, keine profitorientierten Unternehmen sind und politische Anliegen gegenüber der Politik vertreten. Mit anderen Worten, es sind Interessenorganisationen, die für ihre Mitglieder oder für allgemeine Anliegen eintreten. Das schließt Umweltverbände, Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschaften ebenso ein, wie Wirtschaftsverbände oder Berufsgruppen. Somit werden alle im intermediären Raum aktiven gesellschaftlichen Gruppen mit dem Etikett „Zivilgesellschaft“ belegt und sie alle sind aufgerufen, ihre Belange in den Konsultationen zu Gehör zu bringen.

Hält man sich nun vor Augen, dass die Vertreter wirtschaftlicher Interessen immer schon eine sehr aktive EU-Lobby betrieben haben, stellt sich die Frage, ob die neuenKonsultationsinstrumente hier eine Änderung gebracht haben. Konkret gilt es zu prüfen, ob nun auch nicht-wirtschaftliche Interessen auf Brüsseler Ebene vergleichbar präsent sind, ob sie gleichgewichtig in den Konsultationen beteiligt sind und ob sie auf diesem Weg Einfluss nehmen können.

Nach unseren Forschungsergebnissen ist das Ergebnis gemischt. Zahlenmäßig ist die Gruppe der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die keine wirtschaftlichen Interessen vertreten, deutlich angewachsen. Die Kommission hat etliche Anstrengungen unternommen, um vor allem den europäischen Zusammenschluss von einschlägigen NGOs zu fördern. Sie hat praktische Aufbauhilfe geleistet, hat Finanzmittel zur Verfügung gestellt, ihnen einen privilegierten Zugang verschafft, und bei einigen europäischen Verbänden muss man sagen, dass es sie ohne die Unterstützung der Kommission nicht gäbe.

Im Ergebnis kann man feststellen, dass NGOs heute sehr viel präsenter und besser organisiert auf europäischer Ebene sind als je zuvor. Auch die Änderung in den Konsultationsverfahren, ihre erhöhte Transparenz und der vor allem durch die Online-Konsultationen sehr viel einfachere Zugang hat ihre Beteiligung verbessert. Somit ist es zu einer Pluralisierung der Interessensvertretung gekommen. Wenn man sich im Einzelnen genau deren Verteilung anschaut, muss man allerdings feststellen, dass es keineswegs ein Gleichgewicht in der Repräsentation der Interessenlager gibt. Es gibt Ungleichgewichte nicht nur in der Vertretung von Produzenteninteressen auf der einen und von Konsumenten-bzw. allgemeinen Interessen auf der anderen Seite, sondern es gibt auch ein eindeutiges geografisches Gefälle. Grob skizziert gibt es eine Trennlinie zwischen Nord und Süd und zwischen Ost und West. Interessengruppen aus dem Vereinigten Königreich, aus Deutschland, den skandinavischen und Benelux-Staaten und auchaus Österreich sind fast immer und in großer Zahl vertreten, gleichgültig ob sie Produzenten, Konsumenten oder Umweltinteressen vertreten, während Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und NGOs aus Osteuropa oder Südeuropa sich rar machen. Insgesamt darf aber nicht übersehen werden, dass meistens doch eine weite Bandbreite von Meinungen und Stimmen artikuliert wird.

Kommt die Botschaft an?

Demokratische Partizipation setzt nicht nur die Chancengleichheit in der Interessenvertretung voraus, sondern verlangt auch Partizipationsverfahren, die so gestaltet sind, dass die Positionen authentisch und differenziert dargelegt werden können. Hier besteht gerade bei den Online-Konsultationen ein Dilemma: Fragebögen mit vorgegebenen Antwortkategorien sind leicht auszufüllen, senken also die Zugangsschwelle, was im Interesse einer breiten Beteiligung zu begrüßen ist. Online-Konsultationen mit offenen Fragen, die eine ausgearbeitete Stellungnahme verlangen, sind anspruchsvoll und diesem Anspruch kann in der Regel nur ein Experte genügen. Insgesamt kann man feststellen, dass der Kreis der Beteiligten immer enger wird, je inhaltlicher die Konsultationen werden. Dies gilt für Konferenzen und Workshops, insbesondere aber auch für beratende Ausschüsse und die bilateralen Gespräche der Kommissionsdienststellen. Hinzu kommt, dass viele solcher Konsultationen auf Einladung erfolgen und somit die Kommission entscheidet, wer zum Kreis der Beteiligten gehört. Einige Dienststellen haben eine Vorreiterrolle bei der Propagierung des zivilen Dialogs eingenommen und sind offener, d. h. sie haben sich über den Kreis der Beteiligten mit Vertretern der Zivilgesellschaft geeinigt. Die nächste Frage ist dann, wie die Kommission mit den Stellungnahmen der zivilgesellschaftlichen Verbände umgeht. Die formalen Regelungen erscheinen zunächst zufriedenstellend, doch es fehlen wichtige Elemente und die Praxis lässt zu wünschen übrig. Bei der Online-Konsultation hat die Kommission sich verpflichtet, die Konsultationsergebnisse in einem Bericht zusammenzufassen. Nur wenige dieser Berichte sind wirklich aussagekräftig in dem Sinne, dass sie das in den Stellungnahmen enthaltene Für und Wider angemessen aufgreifen und daraus Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen der Kommission ziehen. Viele Berichte beschränken sich auf rein statistische Zusammenfassungen. Durchgängig wird in den Berichten der Eindruck vermittelt, dass die überwältigende Mehrheit der Stellungnahmen im Sinne der Kommission ausgefallen ist. Bei unserer eigenen Durchsicht konnten wir diesen Eindruck allerdings nur selten teilen. Mit anderen Worten, wir gewannen den Eindruck einer im eigenen Interesse wohlmeinenden, um nicht zu sagen manipulativen Interpretation. An diesem Punkt haben die gesellschaftlichen Interessenvertreter auch immer wieder nachgehakt und die Kommission aufgefordert, inhaltlich zu begründen, warum sie alternative Vorschläge nicht aufgreift. Die Forderung nach „feed-back“ und „reason-giving“ wird seit Jahren immer wieder gestellt.

Man muss allerdings anerkennen, dass sich die Kommission hier in einem doppelten Dilemma befindet: Zum einen ist die Zahl der Stellungnahmen sehr oft klein und ein Blick auf die beteiligten Organisationen lässt Zweifel an der Repräsentativität des Meinungsbildes aufkommen. Zum anderen hat die Kommission zwar ein Initiativrecht, aber sie muss im Interesse einer Übereinkunft mit dem Rat und dem Europäischen Parlament kompromissfähig sein. Bindet sie sich einseitig an das Konsultationsergebnis, wird sie unflexibel und verliert damit an Einfluss. Der plakative Verweis, dass die Kommission in den Konsultationen breite Unterstützung gewonnen habe, hilft dagegen, um dem Kommissionsvorschlag in den Verhandlungen mit Regierungen und dem Europäischen Parlament politisches Gewicht zu verleihen.

Inner­ver­band­liche Demokratie?

Ein ausgewogener Pluralismus, die Chance der differenzierten Offenlegung der eigenen Anliegen und die Ansprechbarkeit der politisch Verantwortlichen sind wichtige Elemente einer demokratischen Partizipation. Ein Kernelement aber ist die demokratische Qualität der Repräsentation der Interessen. Demokratische Repräsentation des Bürgerwillens oder doch zumindest des Willens der Mitglieder einer Organisation setzt voraus, dass die Verbandsspitze auf der Grundlage eines Mandats handelt oder doch zumindest nachträglich für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden kann. Bevorzugte Gesprächspartner der Kommission sind europäische Verbände, die möglichst das breite Meinungsspektrum aus den Mitgliedstaaten schon auf eine gemeinsame Position gebracht haben. Es sind Verbandsverbände, die ihrerseits oft schon Verbandsverbände als Mitglieder haben. Um ihren Anliegen mehr Gewicht zu verleihen, haben sich gerade die europäischen NGOs noch zu Plattformen oder Netzwerken zusammengeschlossen. Das erleichtert zwar die Kommunikation unter den EU-Verbänden mit gleichgerichteten Interessen, erschwert aber erheblich die Kommunikation mit der Basis. Ein demokratischer Willensbildungsprozess müsste über viele Stufen laufen, um die Anliegen der Basis wirkungsvoll nach Brüssel zu vermitteln. Bei unserer Untersuchung haben wir bis zu 13 Stufen gezählt, die ein Verband überbrücken muss bevor er beim Bürger landet. Um die Ineffizienz eines solchen mehrstufigen Verfahrens zu vermeiden, haben viele EU-Verbände in letzten Jahren verstärkte Anstrengungen unternommen, die Kommunikationslücke zu ihren Mitgliedern durch eine professionelle Informationspolitik zu schließen. Neben den Jahrestagungen, die den Delegierten der angeschlossenen (nationalen) Verbände offenstehen und auf denen die Richtlinien der Arbeit beschlossen werden, haben einige Verbände ihre Arbeitsausschüsse für Aktivisten geöffnet, die nicht vom nationalen Mitgliedsverband delegiert wurden, sondern aus eigenem Interesse teilnehmen. Das verbreitert die Partizipation, fördert aber die Informalisierung der Politik und behindert Kontrolle und Verantwortung. Zunehmend werden sich die europäischen Verbände ihres eigenen demokratischen Defizits bewusst. Doch im Unterschied zu den international tätigen Verbänden haben sie bisher wenige Anstrengungen unternommen, um innerverbandliche Demokratie und Verantwortlichkeit zu verbessern.

Eine ernüch­ternde Bilanz

Das Fazit zum zivilen Dialog lautet deshalb, dass auf der Habenseite eine Pluralisierung der in Brüssel aktiven Interessengruppen und der in den Konsultationen präsenten Meinungen stattgefunden hat. Ungleichgewichte sind nach wie vor vorhanden, wenn auch gemildert. Demokratische Partizipation ist damit aber nicht erreicht, denn es fehlt die Rückbindung an den Bürger. Effektive Einflussnahme, die ein wichtiges Merkmal demokratischer Partizipation ist, ist ebenfalls nicht gewährleistet und das ist auch gut so. Da die Konsultationen weit ab vom Bürger stattfinden und weder die Interessengruppen, die in seinem Namen sprechen, noch die Kommission, die sich anheischt, das „europäische Interesse“ zu vertreten, einer demokratischen Kontrolle unterliegen, wäre politische Mitbestimmung über den Weg des zivilen Dialogs ein Rückschritt statt ein Fortschritt in Demokratie.

Leider hat die Stärkung der Brüsseler Interessengruppen zwei bedenkliche Nebeneffekte, die selten beachtet werden. Zum einen hat die notwendige und von der Kommission aktiv geförderte Professionalisierung zur Folge, dass gerade bei den NGOs der Charme der sozialen Bewegungen verlorengeht. Die Streitkultur wird verdrängt von werbeträchtigen Kampagnen und schön gestaltete Webseiten, die übrigens überwiegend von der Kommission bezahlt werden. Es geht um Motivierung für eine gute Sache, so wie sie die Brüsseler Funktionselite sieht, und nicht um den Austausch und die Auseinandersetzung mit Ideen, die von der Basis her kommen. Zum anderen ist bei allen EU-Verbänden ein Hang zur Zentralisierung zu beobachten. Den meist von der Kommission finanzierten NGOs kann man nicht den Vorwurf machen, dass sie als Sprachrohr der Kommission fungieren. Sie vertreten häufig mit Nachdruck eine abweichende Meinung zur vorgeschlagenen Strategie. Aber die Strategie, die sie bevorzugen, visiert immer eine europäische Lösung an.

Dieser Zentralisierungsschub ist auch in der Europäischen Bürgerinitiative eingebaut. Nach dem Vertrag kann dieses Instrument nämlich nur genutzt werden, um die Europäische Kommission aufzufordern, durch geeignete Gesetzesvorschläge die Umsetzung der Verträge voranzubringen. Die Neigung des Europäischen Parlaments, sich der Europäischen Bürgerinitiative zu bedienen, um in der europäischen Gesetzgebung initiativ zu werden, wird diese Tendenz noch verstärken. Die Stoßrichtung der bisher vorliegenden EBI zeigt zusätzlich, dass sie bevorzugt eingesetzt werden, um die Zuständigkeit der EU zu erweitern, und außerdem von ohnehin pro-europäischen Gruppen lanciert werden.

Leider muss ich so mit einem skeptischen Unterton schließen: zivilgesellschaftliche Partizipation, ziviler Dialog und Europäische Bürgerinitiative wurden als Beitrag zur Demokratisierung der EU gepriesen. Tatsächlich funktionieren sie nach den Vorgaben einer europäisch ausgerichteten Elite und befördern die Zentralisierung der Macht, deren Kontrolle dem Bürger immer mehr entgleitet.

* Der Beitrag ist die Überarbeitung eines Vortrages, der auf dem Gustav-Heinemann-Forum am 11.05.2012 gehalten wurde.

Anmerkungen:

1 Eine Übersicht findet sich in Green European Foundation 2010: S. 64–65.

2 Es muss ein Bürgerausschuss gebildet werden, der aus 7 Bürgern besteht, die aus 7 unterschiedlichen EU-Staaten kommen; für die Zahl der Unterstützer sind Mindestzahlen für jedes Land vorgegeben, die sich aus einem Vielfachen der Sitze des Europäischen Parlaments errechnen und somit ungefähr der Bevölkerungsgröße entsprechen.

3 Eine Bürgerinitiative ist in jedem Bereich möglich, in dem die Kommission nach den Verträgen befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen.

4 http://www.greenpeace.org/eu-unit/en/News/2010/first-citizens-initiative/ (28.07.2012)

5 http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/ongoing (28.07.2012)

6 http://www.ebi-grundeinkommen.de/ (28.07.2012)

7 http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/ongoing und http://www.right2water.eu/ (29.07.2012)

8 www.free-sunday.eu (29.07.2012).

9 Siehe http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/basic-facts (15.08.2012).

10 COM(2011) 700 final; http://ec.europa.eu/food/animal/welfare/transport/docs/10112011_report_en.pdf (15.08.2012).

11 www.EuroEdTrust.eu (15.08.2012).

12 www.F2020.eu (15.08.2012).

13 http://ec.europa.eu/food/animal/welfare/transport/docs/executive_summary_study_en.pdf (15.08.2012).

14 Die Verordnung sieht je nach Tierart unterschiedliche Fahrtzeiten vor: Schweine und Pferde 24 Stunden Transport, Rinder, Schafe und Ziegen 28 Stunden Transport, wobei den Letzteren eine Zeit zur Tränkung eingeräumt wird. Die genannten Transportabschnitte können wiederholt werden, wenn die Tiere zwischenzeitlich entladen, gefüttert und getränkt werden und 24 Stunden Ruhezeit haben.

15 Siehe u. a. Drucksache 14/3278 Landtag Rheinland-Pfalz – 14. Wahlperiode; Stellungnahme zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Schutz von Tieren beim Transport und allen damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG des Rates KOM(2003)425.

16 Bundesrat Drucksache 786/09 (Beschluss) vom 18.12.09.

17 Bundesrat Drucksache 205/10 14.04.10 Unterrichtung durch die Bundesregierung.

18 http://europa.eu/take-part/blogs/index_de.htm (12.08.2012).

19 http://ec.europa.eu/yourvoice/consultations/index_de.htm (12.08.2012).

20 Die Ergebnisse sind ausführlich dargestellt in Kohler-Koch/Quittkat 2011 und kurz zusammengefasst in Kohler-Koch 2012.

Literatur

Green European Foundation (Hrsg.) (2010): The European Citizens’ Initiative Handbook. Your Guide to the World’s First Transnational Direct Democracy Tool, Brüssel.

Hrbek, Rudolf 2012: Die Europäische Bürgerinitiative: Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Elements im EU-Entscheidungssystem, in: integration 1/2012, S. 35-50.

Kohler-Koch, Beate 2012: Politische Gesellschaft und demokratische Reformierbarkeit der EU, in: Olaf Asbach et al. (Hrsg.) Zur kritischen Theorie der politischen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, S. 237-254 .

Kohler-Koch, Beate und Christine Quittkat 2011: Die Entzauberung der partizipativen Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-Governance. Frankfurt/Main: Campus.

Quittkat, Christine 2012:Die EBI als Tor zur europäischen Politik: neue Akteure und die EBI, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 8/2012 (im Erscheinen).

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