Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Plebiszite - eine Diktaktur von Minder­hei­ten?

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 35-42

I. Vertrau­ens­-und Bedeu­tungs­ver­lust der Volks­par­teien

Die Sozialdemokraten und die politische Union aus CDU und CSU gewannen nach der Etablierung des politischen Systems nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in der alten Bundesrepublik schnell das Vertrauen vieler Wahlbürger. 1949, bei der ersten Bundestagswahl, wurden CDU/CSU und SPD nur von 46 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt. Doch danach entwickelten beide Parteien starke Bindekräfte und erhielten die Stimmen von immer mehr Wahlberechtigten. 1953 wählten schon 62 von 100 Wahlberechtigten eine der beiden großen Parteien. 1957 und 1961 waren es jeweils 69, 1965 74, 1969 76 und 1972 und 1976 82 von 100 Wahlberechtigten, die ihre Stimme der SPD oder CDU bzw. CSU gaben. Zu Recht konnte man beide Parteien als „Volksparteien“ bezeichnen, die jeweils unterschiedlichste Wählergruppen mit verschiedenen Wertvorstellungen und Interessen bündeln und an sich binden konnten.

Doch in den 1980er Jahren begann die Bindekraft sowohl der Union als auch der SPD zu schwinden. Bei der Bundestagswahl 2005 gaben nur noch 53 von 100 Wahlberechtigten CDU/CSU oder SPD ihre Stimmen. Und bei der letzten Bundestagswahl 2009 wählten nur noch knapp 40 Prozent aller Wahlberechtigten Union oder SPD. Das waren weniger als 1949, als das politische System in Nachkriegsdeutschland noch nicht voll etabliert war.

Dabei kam die Union 2009 mit einem Anteil von 23,6 Prozent (bezogen auf alle Wahlberechtigten) auf exakt denselben Anteil wie 1949. Die SPD hingegen wurde 2009 sogar von weniger Wahlberechtigten (16,1 %) gewählt als 1949, als sie auf einen Anteil von 22,2 Prozent kam. Eine ähnlich niedrige Wählermobilisierung gab es für die deutschen Sozialdemokraten zuletzt bei der Reichstagswahl 1924.

Die nachlassende Bindekraft der Volksparteien hatte einen starken Anstieg der „Partei der Nichtwähler“ zur Folge: Von 1983 bis 2009 stieg der Anteil der Nichtwähler in den alten Bundesländern von 11,7 Prozent (Nichtwähler und ungültige Stimmen) auf 28,7 Prozent. Und in den neuen Bundesländern stieg der Anteil der Nichtwähler von 26,6 Prozent bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 auf 36,4 Prozent bei der Bundestagswahl 2009.

Der Vertrauens-und Bedeutungsverlust der beiden Volksparteien ist auf der Ebene der Landes-und Lokalpolitik noch ausgeprägter als auf Bundesebene. So konnten CDU bzw. CSU und SPD bei den Landtagswahlen zwischen 1976 und 1980 noch über 70 Prozent der Wahlberechtigten an sich binden. Bei den Wahlen zwischen 2005 und 2009 schrumpfte die Wählersubstanz beider Parteien fast um die Hälfte: Nur noch 38 von 100 Wahlberechtigten wählten in der Summe der Landtagswahlen in diesem Zeitraum SPD oder Union. Im gleichen Zeitraum kletterte der Anteil der Nichtwähler von knapp 23 Prozent bei den Landtagswahlen zwischen 1976 und 1980 auf über 43 Prozent bei den Landtagswahlen zwischen 2005 und 2009.

Und auf der Ebene der lokalen Politik ist der Vertrauensschwund von SPD und CDU/CSU noch größer als auf der Ebene der Bundes-und Landespolitik. Wegen der sehr unterschiedlichen Wahlsysteme bei Kommunalwahlen sind bundeseinheitliche Zusammenfassungen von Kommunalwahlergebnissen schwer möglich. Doch kann der Vertrauensschwund auf der lokalen Politikebene exemplarisch für einzelne Länder und Städte gezeigt werden. Im gesamten Land Hessen sank zum Beispiel der Anteil von SPD und CDU von 63 Prozent bei der Kommunalwahl 1981 auf 29 Prozent bei der letzten Kommunalwahl im März 2011. In drei Jahrzehnten verloren somit die beiden Volksparteien in Hessen über die Hälfte (54 Prozent) ihrer einstmaligen Wähler. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Nichtwähler um mehr als das Doppelte: 1981 beteiligten sich nur 25 Prozent der hessischen Wahlberechtigten nicht an den Wahlen in den Städten und Gemeinden; 2011 aber blieb mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (55 Prozent) den Wahlen zu den Gemeindevertretungen fern.

In einer Stadt wie Frankfurt am Main, einst eine Hochburg der SPD, sank der Anteil der beiden großen Parteien noch drastischer als im hessischen Landesdurchschnitt: 1981 wählten bei der Kommunalwahl in Frankfurt am Main noch 62 von 100 Wahlberechtigten SPD oder CDU, 2011 waren es nur noch 21 – ein Wählerschwund von rund zwei Dritteln! Der Anteil der Nichtwähler verdoppelte sich im gleichen Zeitraum in Frankfurt von 30 auf rund 60 Prozent. Frankfurt am Main ist im übrigen kein Einzelfall: In allen neun Großstädten, die keine Stadtstaaten sind und wie Frankfurt lange Zeit alle mehr als 500.000 Einwohner hatten, liegt der Anteil der Nichtwähler bei Kommunalwahlen über 50 Prozent. Er schwankt zwischen 59,7 Prozent in Frankfurt am Main und 51,5 Prozent in Köln. Und in allen neun großen Metropolen der Republik liegt der Anteil der beiden Volksparteien zusammen unter einem Drittel. Den höchsten Anteil erhielten SPD und CDU zusammen noch in Duisburg mit 32,6 Prozent, den geringsten in Stuttgart, wo nur noch weniger als ein Fünftel (19,6 Prozent) aller Wahlberechtigten der CDU oder SPD die Stimme gab.

Von der nachlassenden Fähigkeit der beiden großen Parteien, Wähler wie früher an sich zu binden, profitieren aber nicht generell die kleineren, eher als Klientelparteien zu charakterisierenden politischen Gruppierungen. So hat die FDP z.B. aktuell einen enormen Wählerschwund zu verzeichnen: In der Summe der zehn Landtagswahlen, die seit der Bundestagswahl 2009 stattfanden, schrumpfte der FDP-Wähleranteil um rund 70 Prozent. Und auch die Linkspartei verlor seit 2009 in der Summe der zehn Landtagswahlen mehr als die Hälfte ihrer Wähler.

Auch die „grüne Bewegung“ fing den Vertrauensschwund der anderen Parteien nur zu einem geringen Teil auf. So kletterte der Anteil der Grünen zwischen den Bundestagswahlen 1983 und 2009 in den alten Bundesländern von 4,9 auf 8,1 Prozent (bezogen auf alle Wahlberechtigten). Und in den neuen Bundesländern, wo die Bündnisgrünen 1990 von 4,5 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt wurden, wählten 2009 sogar etwas weniger Wahlberechtigte (4,3 Prozent) die Grünen als 1990.

Lediglich die Piraten konnten bei den vier Landtagswahlen, bei denen sie seit 2009 kandidierten (Abgeordnetenhauswahl Berlin, Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig- Holstein und Nordrhein-Westfalen) vom mangelnden Vertrauen zu den etablierten Parteien profitieren. Sie bündelten den Unmut über die anderen Parteien und erhielten Zulauf aus allen anderen politischen Lagern und von den Nichtwählern. Ob sich die Piraten aber auch dauerhaft im deutschen Parteienspektrum etablieren können, ist noch nicht ausgemacht.

Der zunehmende Unmut vieler Bürger über die Art und Weise, wie die Politik in Deutschland derzeit funktioniert, führt zu einem Vertrauensvakuum, das bisher noch nicht durch extreme politische Gruppen am linken oder rechten Rand ausgefüllt wird. Noch reagieren die meisten der mit der Politik der Parteien und ihren politischen Akteuren Unzufriedenen damit, dass sie bei Wahlen zu Hause bleiben (und ein kleiner Teil hat bei den letzten Landtagswahlen die Piraten gewählt). Dass radikale Parteien an den Rändern des politischen Spektrums derzeit trotz großen Frusts über die Art und Weise, wie manche politischen Akteure Politik betreiben, keinen Zulauf erhalten, liegt vor allem daran, dass das demokratische System an sich von einer großen Mehrheit der Bürger (noch) nicht in Frage gestellt, sondern weitgehend akzeptiert wird. Eine Alternative zur Demokratie, so wie sie auch im Grundgesetz festgeschrieben ist, sehen nur ganz wenige Bürger. Insofern werden auch Parteien und Politiker nach wie vor für notwendig und nicht für entbehrlich gehalten. Es wäre deshalb auch falsch, pauschal und undifferenziert von einer „Politik-Verdrossenheit“ zu sprechen. Der Unmut vieler Bürger richtet sich nicht gegen Parteien oder Politiker an sich, sondern im Wesentlichen gegen den praktizierten Politikstil und die Kluft, die nach Meinung vieler Bürger zwischen den Bürgern und der politischen Kaste entstanden ist.

II. Plebiszite: Ein Mittel gegen „Partei­en­-und Politi­ker-­Ver­druss“?

In der öffentlichen und politischen Diskussion wird der beschriebene Vertrauens-und Bedeutungsverlust meist nicht in vollem Maße gesehen, geschweige denn diskutiert. Vor allem die Hauptbetroffenen – Union und SPD – verdrängen diesen Vertrauensschwund gleichermaßen eher, als dass sie ihn zur Kenntnis nehmen und auf seine Gründe hin analysieren würden. Wenn überhaupt über Maßnahmen zur Minimierung des Vertrauensschwunds nachgedacht wird, dann wird von einigen vorgeschlagen, mehr Formen der direkten Beteiligung der Bürger einzuführen. Allen voran hatten die Grünen schon immer weitgehende „partizipative Grundzüge“ in der Politik gefordert. Solche Vorschläge scheinen auch bei den Bürgern auf große Zustimmung zu stoßen. Wenn man sie fragt, ob sie den Bundespräsidenten, ihren Oberbürgermeister oder Bürgermeister, ihren Landrat etc. direkt wählen oder ob sie insgesamt mehr Volksabstimmungen wollen, dann befürwortet immer eine große Mehrheit alle Vorschläge nach mehr direkter Demokratie.

Doch wie sieht es wirklich aus, wenn Angebote zu mehr Partizipation angeboten werden – machen die Bürger dann tatsächlich in dem Maße, wie man es den Umfragen entnehmen könnte, auch davon Gebrauch?

Betrachtet man z.B. die Wahlbeteiligungsraten bei Direktwahlen des Oberbürgermeisters, dann ist von der in Umfragen geäußerten Euphorie nicht mehr viel zu spüren. In Städten, in denen die Oberbürgermeister-Direktwahl zusammen mit der jeweiligen Wahl zur Gemeindevertretung stattfand, war die Wahlbeteiligung so gering wie bei der Wahl der Stadtparlamente. In Städten wie Dortmund, Duisburg, Essen, Köln, München oder Stuttgart beteiligten sich jeweils nur weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigten an der Direktwahl (der Anteil der Wähler schwankte zwischen 46 Prozent in Duisburg und Stuttgart und 49 Prozent in Köln). Dort, wo die Wahl der Oberbürgermeister aber nicht mit der Wahl zur Gemeindevertretung gekoppelt war, war die Wahlbeteiligung deutlich niedriger. So beteiligten sich z. B. an der letzten Oberbürgermeister-Direktwahl in Düsseldorf nur 39, in Kiel nur 37 Prozent aller Wahlberechtigten. In Städten wie Hannover oder Wiesbaden beteiligte sich nur etwas mehr als ein Viertel (28 bzw. 27 Prozent) der Wahlberechtigten an der Wahl. Und in einer kleinen und für die Bürger noch überschaubaren Stadt wie Flensburg machten bei der Direktwahl des Oberbürgermeisters noch nicht einmal ein Viertel (23 Prozent) der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch.

Selbst äußerst populäre Oberbürgermeister, wie Petra Roth in Frankfurt am Main, können die Wahlberechtigten nicht dazu bewegen, sich an einer Direktwahl zu beteiligen. Bei ihrer letzten Wahl 2007 erhielt Petra Roth zwar 60,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen, doch auf alle Wahlberechtigten der Stadt bezogen war das noch nicht einmal ein Fünftel (19,9 Prozent). Zwei Drittel aller Frankfurter (66,4 Prozent) beteiligten sich bei der letzten Direktwahl von Petra Roth nicht an der Wahl. Die Wahlbeteiligung bei den Oberbürgermeister-Direktwahlen sank im Übrigen im Laufe der Zeit kontinuierlich. In Frankfurt am Main z.B. von 55,8 Prozent bei der Oberbürgermeisterwahl 1995 auf 33,6 Prozent 2007. (Nur zum Vergleich: Als Walter Wallmann 1977 der erste CDU-Oberbürgermeister in Frankfurt wurde, beteiligten sich noch 71,8 Prozent an der Kommunalwahl, bei der es damals bei einem reinen Verhältniswahlrecht nur eine Stimme für eine Partei gab.)

Die geringen Beteiligungsraten bei Direktwahlen von Stadtoberhäuptern deuten auch darauf hin, dass es den meisten Bürgern trotz genereller Zustimmung zu mehr direkter Beteiligung doch nicht so wichtig ist, ob sie ihren Bürgermeister direkt wählen können oder nicht. Wichtiger dürfte sein, dass sie ein Stadtoberhaupt bekommen, das sie für fähig halten, eine Stadt zu regieren und die Interessen der Bürger in seiner Politik zu berücksichtigen. Ob ein so akzeptierter Bürgermeister nun direkt gewählt oder von irgendwelchen Gremien der Parteien nominiert und von der Gemeindevertretung gewählt wird, ist den meisten Bürgern in Wirklichkeit trotz ihrer verbal geäußerten Präferenz für direkte Wahlen weitgehend egal.

Ähnlich niedrig oder noch geringer als die Beteiligung an Oberbürgermeister- Direktwahlen ist die Beteiligung an Volksentscheiden. In Berlin z. B. gab es in den letzten Jahren drei Volksentscheide. Am ersten Volksentscheid im April 2008, als es um die Zukunft des Flughafens Tempelhof ging, beteiligten sich 36,1 Prozent der Wahlberechtigten. Am zweiten Volksentscheid im April 2009, als es um die für die Zukunft der Kinder und Enkel nicht unwichtige Frage der Gestaltung des Religions- bzw. Ethik- Unterrichts ging, beteiligten sich noch 29,2 Prozent. Und im Februar 2011, als über die Frage abgestimmt wurde, ob die Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner
 Wasserbetrieben offengelegt werden sollten, nahmen nur 27,5 Prozent der Berliner Stimmberechtigten an der Abstimmung teil. Bemerkenswert war beim Berliner „Wasser- Volksentscheid“ 2011, dass sich in überdurchschnittlichem Maße die Bewohner der Bezirke an der Abstimmung beteiligten, in denen der Anteil von Einfamilienhäusern über dem Stadtdurchschnitt lag. Hier dürfte das Motiv zur Beteiligung vor allem die Hoffnung gewesen sein, dass der Wasserpreis nach einer möglichen vollständigen Re – Kommunalisierung der Wasserbetriebe wieder sinken würde – eine Hoffnung, die durch den – allerdings irreführenden – Slogan zum Entscheid „Schluss mit Geheimverträgen – wir Berliner wollen unser Wasser zurück“ geschürt wurde. Waren die Alternativen bei den Berliner Volksentscheiden zur Zukunft von Tempelhof (Schließung des Flughafens oder Weiterführung) oder zur Frage der Gestaltung des Religions- bzw. Ethik- Unterrichts noch einigermaßen überschaubar, dürfte beim „Wasser“-Entscheid – bis auf die Hoffnung auf einen niedrigeren Wasserpreis – vielen Bürger nicht klar gewesen sein, über was eigentlich wirklich konkret abgestimmt werden sollte. Hier stellt sich dann die Frage der Sinnhaftigkeit solcher Volksentscheide.

Die Frage der Sinnhaftigkeit stellt sich auch bei einem 2011 in Köln durchgeführten Volksentscheid, bei dem über die Frage abgestimmt wurde, ob der Godorfer Hafen erweitert werden solle oder nicht. Nun muss man wissen, dass nur die wenigsten Kölner wissen, dass es im äußersten Süden der Stadt einen Ortsteil mit Namen „Godorf“ gibt. Und dass es hier einen kleinen Hafen am Rhein gibt, dürften noch weniger Bürger in Köln wissen. Der Ausbau dieses Hafens ist von den politischen Gremien in Köln seit Jahren deshalb diskutiert worden, weil die Tankschiffe, die Rohöl für die in Kölns Nachbarort Wesseling ansässige Chemie-Industrie anliefern, auf dem Rhein ankern müssen und somit ein gewisses Gefährdungs-Potenzial darstellen, das durch den Ausbau des Hafens reduziert werden könnte. Doch obwohl im Rat der Stadt Köln CDU und SPD mit ihrer klaren Mehrheit den Ausbau des Hafens befürworteten, hat man auf Druck der Kölner Grünen die Bürger über diese Frage abstimmen lassen. Erwartungsgemäß haben sich noch nicht einmal 15 Prozent (14,8 Prozent) der Stimmberechtigten an dieser eine Million Euro teuren Abstimmung beteiligt. Hier hat also die Feigheit der Kommunalpolitiker den Bürgern eine Abstimmung aufgezwungen, deren Sinn kaum jemand verstehen konnte. Und da selbst das niedrige Quorum von 15 Prozent Wahlbeteiligung nicht erreicht wurde, war der ganze Aufwand vergeblich. Nun müssen doch die Politiker in Köln über Godorf entscheiden.

Diese Beispiele zeigen, dass bei aller generellen Befürwortung von Partizipationsangeboten die Teilnahme an solchen Angeboten – ob Direktwahlen der Stadtoberhäupter oder Volksabstimmungen – äußerst gering ist. Die Bürger wollen in Wirklichkeit von den Politikern nicht mit Entscheidungen behelligt werden, für die sie eigentlich die Politiker gewählt haben; denn die sind ja die Zunft, der man – so wie anderen Professionen wie Anwählten oder Ärzten auch – die Lösung komplexer Probleme anvertraut hat.

III. Gefahren von Parti­zi­pa­ti­ons­an­ge­boten

Die Teilnahme an mehr direkten Beteiligungsangeboten ist aber nicht nur recht gering, sondern derartige Angebote bergen auch vielerlei Gefahren. Als Beispiel sei hier die Änderung des Hamburger Wahlrechts angeführt, die 2004 in einem Volksentscheid in Hamburg durchgesetzt und bei der Bürgerschaftswahl 2011 umgesetzt wurde. Von denen, die an dieser Abstimmung teilnahmen, hatten seinerzeit 66,5 Prozent für, 33,5 Prozent gegen eine Änderung des bis dahin seit Jahrzehnten bewährten Wahlsystems in Hamburg gestimmt.

Doch beteiligt hatten sich an diesem Volksentscheid nur ganze 31,7 Prozent der Hamburger Wahlberechtigten. Für eine Änderung des Wahlrechts votierten nur rund ein Fünftel (21,1 Prozent) aller Hamburger Wahlbürger. Das daraufhin nun in Hamburg und auch im Land Bremen praktizierte Wahlsystem ist jedoch extrem kompliziert und wenig transparent (was einen bekannten Hamburger Unternehmer zu der Feststellung veranlasste: „Um die Stimmzettel zu verstehen, braucht man ein abgeschlossenes Studium“). Erwartungsgemäß stieg bei den letzten Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen der Anteil der ungültigen Stimmen auf ein Rekordniveau. In Bremen war die Zahl der ungültigen Stimmen (4,2 Prozent) doppelt so hoch wie die Zahl der FDP-Wähler. Eine Minderheit der Hamburger hatte somit mit Hilfe des Instruments Volksabstimmung der Mehrheit ein schwer verständliches, kompliziertes Wahlsystem aufgezwungen, das zudem die Tendenz zur Wahlabstinenz weiter fördert. Statt mehr Bürgernähe wurde so per Plebiszit mehr Bürgerferne erzeugt.

Das Hamburger Beispiel weist auf die Gefahr hin, dass Minoritäten in der Gesellschaft, die aber über entsprechende kommunikative Fähigkeiten verfügen, mit Hilfe plebiszitärer Elemente oder diverser Partizipationsformen Entscheidungen beeinflussen oder sogar durchsetzen können, die nur den Partikularinteressen einzelner Schichten der Bevölkerung nutzen, für die Mehrheit der Bevölkerung aber keinen Nutzen bringen bzw. ihr sogar schaden.

Eine wirksame Inszenierung partikularer Interessen kann auch dazu führen, dass die eigentlichen Meinungen und Einschätzungen der breiten Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr erkennbar sind. Ein Beispiel dafür ist das Projekt Stuttgart 21. Hier hat eine Minderheit der Stuttgarter – unterstützt durch die mediale Berichterstattung – den Eindruck erweckt, als ob ganz Stuttgart und auch die Mehrheit der Bürger in Baden – Württemberg hinter dem Protest gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs stehe. Das vom „Spiegel“ seinerzeit erfundene Konstrukt des „Wutbürgers“ wurde in der öffentlichen Diskussion übernommen – so als ob jetzt nicht nur in Stuttgart sondern flächendeckend in der Republik die Bürger ihre Wut gegen geplante Großprojekte aller Art richten würden. Doch in Wirklichkeit war die Mehrheit der Bürger in Baden – Württemberg, aber auch in der Stadt Stuttgart immer für den Umbau des (im Übrigen ja auch architektonisch eher hässlichen) Stuttgarter Bahnhofs. Die Bürger im „Ländle“ haben dann die im November 2011 durchgeführte Volksabstimmung dazu genutzt, ihren wahren Willen zu artikulieren. Bei einer für Volksentscheide außergewöhnlich hohen Beteiligung (in ganz Baden-Württemberg beteiligten sich 48,3, in Stuttgart sogar 67,8 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung) machten die Bürger ihrer Wut über die von den Medien hofierten „Wutbürger“ Luft. Es zeigte sich, dass über die Anhänger der Grünen hinaus nur wenige nicht grün-affine Bürger (4 Prozent im Land insgesamt und 6,8 Prozent in der Stadt Stuttgart) gegen den Umbau des Bahnhofs in Stuttgart stimmten.

In Stuttgart zeigte sich, dass neben Ideologen (Anhänger der grünen Bewegung) nur eine kleine, von der Umbaumaßnahme betroffene Schicht der Stuttgarter Bürger ihre zwar aus ihrer Sicht berechtigten, aber letztlich doch nur partikularen Interessen durch diesen Protest artikulierten. Die Mehrheit der Bürger aber befürwortete nicht nur das Umbauprojekt, sondern ärgerte sich über die Proteste der in den Medien glorifizierten angeblichen „Wutbürger“ mit angeblich hehren und übergeordneten Zielen.

Stuttgart 21 zeigt überdies ein generelles Problem von Partizipationsangeboten bei Planungsmaßnahmen auf: Die angebotenen Partizipationsmöglichkeiten bergen immer die Gefahr, dass eine Minderheit selbsternannter Advokaten nur die eigenen Interessen in die Planverfahren und -entscheidungen einbringt, dabei aber die Interessen der Mehrheit der Betroffenen unter den Tisch fallen. Wenn z. B. Maßnahmen für ein Wohngebiet mit 10.000 Bürgern geplant werden und an den öffentlichen Anhörungen 300 Personen (meist Vertreter von Partikular-Interessen oder die erwähnten „selbsternannten Advokaten“) teilnehmen und deren Anregungen dann auch bei der weiteren Planung berücksichtigt werden, bleiben die Interessen der 9.700 anderen Betroffenen, die sich nicht so artikulieren können wie die 300 „Aktivisten“, unberücksichtigt. Wie in Stuttgart führt das dann auch generell zur Wut bei der Mehrheit der Betroffenen, die ihre Interessen nicht berücksichtigt sehen und meist – anders als in Stuttgart durch die Volksabstimmung – keine Chance haben, ihre Interessen so zu artikulieren, dass sie auch Eingang in die Entscheidungsprozesse finden.

An sich gut gemeinte Partizipationsangebote bewirken somit oft das Gegenteil dessen, was sie eigentlich sollen, nämlich den Bürgern eine Möglichkeit zu bieten, ihre Interessen entsprechend einzubringen. Da sich aber an vielen der heute angebotenen Partizipationsmöglichkeiten eher Randgruppen und Minoritäten beteiligen, die keinen Querschnitt aller Bevölkerungsgruppen darstellen, trifft die Politik (vor allem auf kommunaler Ebene) oft Entscheidungen, die nur einer bestimmten Klientel, nicht aber den Interessen der Mehrheit dienen.

Diese „Diktatur von Minderheiten“, der vor allem die beiden Volksparteien, die ja die Interessen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen bündeln sollen, oft nichts mehr entgegensetzen, verstärkt somit den Frust vieler Bürger über die Politik. Auf politischer Ebene reagieren sie dann mit immer größerer Wahlabstinenz. Der Politik wäre insofern anzuraten, andere Formen als die heutigen „Schein-Partizipationen“ zu finden, um etwas über die wirklichen Interessen der von geplanten Maßnahmen Betroffenen zu erfahren. Die Gefahr, dass Minderheiten mit Partikularinteressen einen überproportionalen Einfluss auf Entscheidungsprozesse erlangen, wird im Übrigen durch das Medium Internet noch verstärkt. Das Internet kann als Medium dienen, um Anregungen zu geplanten Maßnahmen etc. einzuholen. Doch wenn es um die Ermittlung der Interessen der Mehrheit der Bürger geht, ist das Internet kein geeignetes Mittel zur Artikulation dieser Interessen, weil es noch immer eher von bestimmten Bevölkerungsschichten genutzt wird und damit vor allem die unteren sozialen Schichten von jeder Beteiligung ausgeschlossen werden.

IV. Fazit

Ein Mehr an direkten Beteiligungsformen wird von den Bürgern in Umfragen immer befürwortet. Doch wenn direkte Beteiligungsformen – wie Direktwahlen von Stadtoberhäuptern, Volksabstimmungen oder Partizipationsangebote bei Planungsmaßnahmen – angeboten werden, macht nur eine Minderheit davon Gebrauch. Deshalb besteht die Gefahr, dass durch plebiszitäre Elemente Partikularinteressen als Interessen der Mehrheit interpretiert werden und so einen so großen Einfluss auf Entscheidungen erlangen, dass der Frust und die Wut der Mehrheit der Bürger über die politischen Akteure weiter erhöht wird. Abgebaut werden kann dieser Unmut somit nicht mit Hilfe von noch mehr plebiszitären Angeboten, sondern nur dadurch, dass die politischen Akteure sich Informationen über die Probleme, Sorgen, Nöte, Ängste und Interessen der Mehrheit aller Bürger beschaffen und diese auch in ihre politischen Entscheidungen einfließen lassen.

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