Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

War die Demokratie jemals "modern"?

Oder: Des Kaisers neue Kleider

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 92-100

Die Frage mag zunächst überraschen – denn wie könnte es denn sein, dass in unseren ‚modernen Zeiten‘ ausgerechnet die nach einhelligem international überwiegend geteilten Urteil normativ ausgezeichnetste, von nicht wenigen normativ als unübertrefflich eingeschätzte Regimeform sich als anachronistisch erweisen könnte?

Die mit der Frage gesuchte Antwort wird man niemals als wahrheitsfähig ansehen dürfen, denn – das ist eine erste These – weder „Demokratie“ noch „modern“ lassen sich heute noch essentialistisch verstehen, sodass noch gefragt werden könnte, ob denn die beobachtete Wirklichkeit ihrem wissenschaftlich oder philosophisch ermittelten „Wesen“ tatsächlich entspräche oder wenigstens als angenähert betrachtet werden könnte. Übrig bleibt nur eine rekonstruktive und evaluierende Antwort, welche Deutungen politischer und gesellschaftlicher Phänomene einerseits dem Prädikat „modern“ – oder seiner Epochen bezeichnenden Substantivierung „Moderne“ – und andererseits der „Demokratie“ jeweils gegeben worden sind oder heute gegeben werden.

Eine im Sinne Max Webers[1] „wirklichkeitswissenschaftlich“ orientierte Politikwissenschaft wird dabei weniger die in ihrer Unzahl nicht mehr überschaubaren fachwissenschaftlichen Elaborate unter dem Etikett „normative Demokratietheorie“ oder „Politische Philosophie“ zum zentralen Gegenstand ihrer Beobachtung und Evaluierung nehmen können, so sehr heute auch die unter dem priviligierenden scheinobjektiven Anspruch von „Wissenschaftlichkeit“, „Theorie“ oder „Philosophie“ antretenden Modelle und Begriffe von „Demokratie“ auf deren gesellschaftliche Wahrnehmung Einfluss nehmen mögen, sondern sie wird zuerst und zentral sich die reale Verfassung der „Demokratie“ ansehen müssen, wie sie das praktische Verfassungsleben solcher Systeme formt und legitimiert. Gegenstand sind also nicht Demokratietheorien, sondern die jeweilige praktisch-effektive Sinndeutung, die diese Regimeform sich als verfasste, das heißt rechtlich konstituierte „Demokratie“ in einer bestimmten Phase gibt.

Der Einfachheit halber werde ich mich dabei auf den Fall Deutschlands, auf das Grundgesetz und sein Demokratieverständnis konzentrieren – wohl wissend, dass die empirische und vergleichende Demokratieforschung nicht nur eine große Variabilität instititutioneller Möglichkeiten zur Verwirklichung von als „demokratisch“ angesehenen Prinzipien ermittelt hat, sondern auch eine nicht nur in Nuancen abweichende historisch- kulturelle Einfärbung dieser Prinzipien selbst. Nicht nur lässt sich das „Wesen“ einer modernen Demokratie wissenschaftlich nicht bestimmen, sondern die Empirie sollte uns skeptisch gegenüber der Vorstellung werden lassen, dass es tatsächlich eine evolutionäre Konvergenz auf einen Typus hin gäbe; viel wahrscheinlicher als Konvergenz erscheint mir die doppelte Annahme von ständigem Wandel und Differenzierung. Im Kontext einer Diskussion über die neue Qualität von Transformationsprozessen, der Frage nach dem „Wandel des Wandels“, mag meine Titelfrage ebenfalls Anstoß erregen, denn seit Benjamin Constants Unterscheidung zwischen der „Demokratie der Alten“ und der neuen, „modernen“, auf naturrechtlichem Individualismus mit allen seinen Folgen, insbesondere der strikten Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, citoyen und bourgeois, und dem Schutz der Privatsphäre und des Eigentums durch vorstaatliche Menschenrechte beruhenden Begriff, steht die „moderne Demokratie“ ja als universalistisches Prinzip im weltweiten Diskurs.

Meine These ist etwas kompliziert doppelt geschichtet: Im ersten Teil der These wird – zum Teil unter dem Eindruck realer Prozesse, zum Teil erkennbar in der theoretischen Reflexion von „Moderne“ und „Demokratie“ – heute erst nach und nach bewusst, dass und welche Begründungsmomente der sich als „modern“ verstehenden Demokratie der rein prozeduralen und antimetaphysischen Begründungs-und Prozesslogik der Moderne (Modernisierung) bis heute noch gar nicht entsprochen haben. Dazu zählen vor allem: 1. die bisher für notwendig erachteten Annahmen über den der Demokratie vorgängigen demos und seine relative Homogenität; 2. die Unterstellung einer signifikanten Autonomie des kollektiven Willensbildungsprozesses und 3. die bereits erwähnte Differenzierung zwischen privater und gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer und rechtlicher Gleichheit in der kollektiven Selbstherrschaft. Im zweiten Teil der These will ich – zugegebenermaßen etwas spekulativ – behaupten, dass die Prozesslogik der gesellschaftlichen Moderne sich gegen die bisher als modern geltende Demokratie durchsetzt, indem sie sie verändert – und dass es sich am Ende als vergeblich herausstellen wird, was viele seit Längerem im öffentlichen und gerade auch politikwissenschaftlichen Diskurs versuchen, nämlich das kumulative Ergebnis dieser Veränderungen noch als dieselbe „moderne Demokratie“ zu begreifen.

Pointiert zusammen gefasst: Wird „die Moderne“ nicht länger als Epoche mit historischem Anfang aber ohne absehbares Ende enthistorisiert, sondern ihrer ungebremsten Prozesslogik entsprechend als fortlaufende Modernisierung sich selbst bewusst, dann ist es nicht überraschend, festzustellen, dass in diesem Prozess auch die restmetaphysischen Aprioris einer Demokratie, die sich seit der Epochenschwelle der Sattelzeit für „modern“ erklärte, erodieren. Der immer stattfindende „Wandel“ findet dann nicht mehr innerhalb des dem Wandel selbst entzogenen begrifflichen, normativen und institutionellen Gerüsts der sich „modern“ dünkenden Demokratie statt, sondern als Wandel der Demokratie zu etwas Neuem, bisher nur unzureichend auf den Begriff zu Bringendem.Mit diesen Thesen widerspreche ich ausdrücklich der seit einiger Zeit um sich greifenden Begriffsverwirrung, die – populär gemacht etwa durch Jacques Derrida in seiner Metapher „démocratie à venir“ – davon ausgeht, dass „Demokratie: das einzige Nomen (sei), das für historische Transformationen nahezu beliebig offen und flexibel“ sei.[2]Das Grundgesetz normiert bekanntlich vor allem in den Artikeln 20 und 21 die „Demokratie“ mit folgenden Kerngedanken: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“; in Artikel 21 ist von „der politischen Willensbildung des Volkes“ die Rede, an der die Parteien nunmehr mitzuwirken haben, deren „innere Ordnung“ wiederum „demokratischen Grundsätzen“ zu entsprechen habe. Verfassungsjuristisch ist diesen Sätzen seit langem eine nur im Detail oszillierende autoritative Interpretation gegeben worden, wie sie in den gängigen Kommentaren[3] nachgelesen werden kann. Typisch für eine solche juridische Sicht der Dinge ist Artikel 79 (3) GG, wonach „Änderungen des Grundgesetzes durch… die… die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig sind“. Als ließen sich der geschichtliche Prozess der Modernisierung und die damit zwangsläufig einhergehenden Veränderungen durch rechtliche Normen aufhalten. Zugleich ist aber eine solche juridische Interpretation angesichts ihres autoritativen Charakters, der nicht selten auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgreift, im Vergleich zu der oben angesprochenen politikwissenschaftlichdemokratietheoretischen Literatur von ungleich prägenderer Kraft für das tatsächliche Sinnverständnis praktizirter
Demokratie, nicht zuletzt, weil die staatlichen Organe, denen der Bürger und die Bügerin im Alltag begegnen, gehalten sind, sich dieser autoritativen Sinnbestimmung praktisch einzufügen – solange jedenfalls bis die Kluft zwischen dem Sinn der Verfassungsvorschriften und dem Erfahrungshorizont der Gesellschaft im Alltag nicht mehr wirksam durch noch soviele rituaisierte Symbolisierungen der Verfassungsbekräftigung überbrückt werden kann.

Die wahrgenommene „Plötzlichkeit“ und „Schnelligkeit“ des Zusammenbruchs der lange Zeit – jedenfalls von den meisten äußerlichen Betrachtern – für unverrückbar stabil erachteten Herrschaftssysteme Ost-und Mitteleuropas nach 1989 sollte auch in „etablierten Demokratien“ jederzeit als Menetekel für die Historizität jeglicher politischer Ordnung beachtet werden.

Im Zusammenhang mit der Frage nach der „Modernität“ des in der Verfassung niedergelegten und institutionell konstituierten Demokratieverständnisses bietet sich also hier keine juridisch-autoritative, sondern eine hermeneutisch rekonstruktive Deutungsweise an, die nicht ohne ideengeschichtliche Bezüge auskommt.

Auf der unmittelbar semantischen Ebene wird zunächst deutlich, dass die „Demokratie“ – wie nicht anders zu erwarten – auf der keineswegs trivialen Voraussetzung eines „Demos“, dem „Volk“, beruht, worunter verfassungsrechtlich im wesentlichen die Wahlbürgerschaft zu verstehen ist, auf deren irgendwie ermittelten „Willen“ sich „alle Staatsgewalt“ berufen können muss, um legitim zu bleiben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 47, 253; 83,60) muss es deswegen eine „ununterbrochene demokratische Legitimationskette“ zwischen dem in Entscheidungen geäußerten „Willen“ des „Volkes“ und der Ausübung von jeglicher „Staatsgewalt“ geben.

Dadurch wird deutlich, dass die „Demokratie“ jenen Prozess und jene Institutionen umfasst, durch die die „Willensbildung“ erfolgt, an der sich die Ausübung der „Staatsgewalt“ zu orientieren hat. Ebenfalls wird deutlich, wie die Staatsgewalt ausgeübt wird: durch das Volk selbst in Wahlen und Abstimmungen, ansonsten durch „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“. Das „Volk“ übt also die Staatsgewalt direkt und selbst in „Wahlen und Abstimmungen“ aus, und wird ansonsten durch besondere Organe repräsentiert, die in seinem Namen handeln und entscheiden – soweit sie sich dabei „letztlich“ auf eine „Entscheidung des Volkes“ berufen können.[4] Das alles mag und sollte als normative Grundlage unserer Verfassungswirklichkeit wohlbekannt sein; sie soll hier auch nicht hinsichtlich ihrer verfassungsmäßigen Geltung in Frage gestellt werden. Aber die performative Suggestion dieser Legitimationssprache gibt zu kritischen Überlegungen Anlass.

Was hat man sich unter dem „Willen“ des offenkundig bereits geeinten „Volkes“ vorzustellen? Direkt geäußert wird dieser „Wille“ in „Wahlen und Abstimmungen“ – wobei wir Letztere angesichts der herrschenden Verfassungslage auf Bundesebene im Moment vernachlässigen können. Wenn das „Volk“ aber wählt, dann nur durch die Stimmabgabe seiner Bürger und Bürgerinnen für Listen und Kandidaten, wodurch ein „Wahlergebnis“ entsteht – das in der Tat hernach von Kommentatoren und nicht selten auch gewählten Politikern und Politikerinnen als „Wille des Volkes“ interpretiert wird. Aber als wessen „Wille“ kann dieses rein durch arithmetisches Verfahren ermittelte Ergebnis, das zumindest Mehrheit und Minderheit, tatsächlich ja aber noch viel komplexere Verhältnisse der Proportionalität zum Ausdruck bringt, hernach tatsächlich verstanden werden. Hier gilt einerseits das Mehrheitsprinzip, das bereits Rousseau epistemologisch aufgeladen interpretierte: die „Mehrheit“ habe den zu ermittelnden „Gemeinwillen“ besser erkannt, als die Minderheit(en), letztere sich deshalb jener zu fügen. Hans Kelsen[5] hat die darin liegende Mystifikation, wonach eine „Mehrheit“ einen fiktiven „Gesamtwillen“ erkenne und repräsentiere, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts kritisiert; man kann sagen: als eine dem modernen Bewusstsein nicht mehr zuzumutende Metaphysik. Er hat dem eine normative Rechtfertigung entgegen gesetzt, wonach die Befolgung des Mehrheitswillens die größtmögliche Annäherung an die einzig der „Freiheit“ angemessene Form der individuellen Selbstregierung sei. Während bei ihm diese entmystifizierte Interpretation des Mehrheitsprinzips als die Freiheit arithmetisch optimierende Grundlage rechtlicher Herrschaft der Demokratie diese gerade als moderne Form der Staatsgewalt zu legitimieren sucht, dient die inhaltlich zum Teil parallele Demokratiebeschreibung von Carl Schmitt[6] der doppelten Denunziation von Moderne und Demokratie in einem Zeitalter der „Entpolitisierungen und Neutralisierungen“.[7]

Dass „Deliberation“, dass die diskursive Ermittlung des Vernünftigen zum Wesen und zur Praxis der Demokratie – gerade in einem post-metaphysischen Kontext – gehöre, hat vor allem Jürgen Habermas[8] mit weltweitem Erfolg der Politikwissenschaft als weitere theoretische und normative Begründung und Rechtfertigung zugeschrieben. Was sich gerade in den sich normativ verstehenden wissenschaftlichen Teildisziplinen von der Policy-Forschung bis hin zu den Internationalen Beziehungen großer Beliebtheit erfreut, erweist sich in der hier gewählten Perspektive auf den wirklichen Vollzug einer sich „demokratisch“ verstehenden Willensbildung jedenfalls überwiegend nicht als valide Beschreibung: Gibt es natürlich überall deliberative Einzelphasen und Episoden im Gesamtprozess der Willensbildung, gibt es im Einzelfall sogar die Konsensbildung als eigentlichen Entscheidungsakt, so bleibt doch regelmäßig die Deliberation der eigentlichen Entscheidung durch legitimierte Amtsgewalt oder Mehrheit bloß vorgelagert. Selbst Habermas hat an entscheidender Stelle – die freilich von den seine Theorie allzu häufig nur normativ interpretierenden Adepten kaum zitiert wird – die Relevanz des politischen Entscheidens betont, ja ihr trotz ihrer Zuordnung zur systemischen Reproduktion der Gesellschaft sogar sozialintegrative Funktion zugebilligt: „In dem die Politik jeweils besondere kollektive Ziele verfolgt und bestimmte Konflikte regelt, bearbeitet sie zugleich allgemeine Integrationsprobleme. Weil sie rechtsförmig verfasst ist, behält eine in ihrer Operationsweise funktional spezifizierte Politik einen gesamtgesellschaftlichen Problembezug: Sie setzt auf reflexiver Ebene eine Sozialintegration fort, die andere Handlungssysteme nicht mehr hinreichend leisten können“.[9] Eben das rechtfertigt den Begriff der „politischen Gesellschaft“.[10]

Praktisch ist aus strukturellen Gründen Deliberation nur zur Willensbildung im kleineren Kreis geeignet und tendiert dazu, als Rechtfertigung für eine advokatorische Expertokratie herhalten zu müssen; wo das Modell für größere oder gar gesamtgesellschaftliche Willensbildung oder Entscheidungsfindung in Anspruch genommen wird, da kann das nur als rein normative contra-faktische Idee, nicht aber als organisatorisch oder prozedural umzusetzendes Alternativmodell zur Mehrheitsentscheidung gelten, ohne dass für es dieselben Mystifikationen aufscheinen, wie bereits bei der Mehrheitsentscheidung selbst.

Bettet man nun diesen bereits für restmetaphysische Implikationen oder jedenfalls empirisch untrifftige Voraussetzungen anfälligen normativen Kerngehalt der ‚Willensbildung eines Volkes‘ in den derzeitigen Erkenntnisstand einer empirisch informierten Politikforschung zu den tatsächlichen Abläufen des politischen Prozesses ein, so reduziert sich dessen praktische Relevanz ständig weiter. Unter anderem folgende – häufig implizite -Annahmen erweisen sich als Fiktionen:

Die begründungslogisch für die Idee der auf „Volkssouveränität“ beruhenden Legitimität grundlegende Annahme eines vorgängig existenten „Volkes“, das sich dann demokratisch konstituiert, seit der Deklaration des Dritten Standes 1789 zur „Nation“, also die Idee des „demokratischen Nationalstaates“, erodiert und damit das, was Ulrich Beck zutreffend den lange nicht bewusst gewordenen „methodologischen Nationalismus“ [11] der seit dem 19. Jahrhundert entstanden Sozialwissenschaften genannt hat. In wachsendem Maße haben es alle heutigen Demokratien mit empirisch verstandener Multi-Kulturalität einer heterogenen Bevölkerung zu tun, die sich nicht mehr der Fiktion einer dem faktischen Willensbildungsprozess vorgelagerten politischen Einheit fügen will und wird. Aus Gesellschaften, die sich für bereits integrierte, relativ homogene „Nationalgesellschaften“ hielten – das es in ihnen das Problem der Anerkennung von „Minderheiten“ stets gab, ist nur die spiegelbildliche Seite desselben – werden „politische Gesellschaften“, die das Problem der Stiftung von funktional ausreichender Einheit erst politisch leisten müssen – und das unter den Bedingungen von aus unterschiedlichen Gründen weltweit wachsender Mobilität.

Wichtige Elemente dieses Erosionsprozesses liegen in dem sich ausbreitenden Bewusstsein von ständig wachsenden Interdependenzen, die die Annahme einer zumindest weitgehenden Autonomie des innerstaatlich veranstalteten „Willensbildungsprozesses“ zunehmend als Illusion erweisen. Wichtig für die Frage der Demokratie und ihre Legitimität ist nicht der Grad der Interdependenz selbst, sondern dessen Bewusstwerdung. Damit wird nämlich – man könnte hier die Parallele zur gut bekannten Problematik der individuellen Selbstbestimmung aufmachen – der normativ konstitutive Zusammenhang von Autonomie und Selbstbestimmung problematisch. Wenn die Bürger und Bürgerinnen, die sich nach dem berühmten Diktum von Habermas als „Autoren“ ihrer Verfassungs- und Rechtsordnung noch im repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaat erkennen können sollen, zunehmend wahrnehmen, dass die – beiläufig gesagt – immer enger werdende Regulierung ihrer lebensweltlichen Praxis in wachsendem Maße von „außerhalb“, von nicht ihrem Votum unterliegenden „Mächten“ bestimmt wird, dann geht die rousseausche Vision, nur den selbstbestimmten Gesetzen zu unterliegen und so die eigene Freiheit verwirklichen zu können, verloren.

Wollte man nun argumentieren, dass dies im hier diskutierten Sonderfall einer Mitgliedsdemokratie der EU nur durch das dort herrschende, vielfach konstatierte „Demokratiedefizit“ verursacht sei, insofern also prinzipiell durch weitere Demokratisierung der EU behebbar, so muss daran erinnert werden, dass das normative Problem der Interdependenzverflechtung für Demokratien allgemein ist und weltweit gilt, also nicht demSonderfall EU geschuldet. Ähnliche trans-und supranationale Vergemeinschaftungen wie die EU bleiben aber bis auf Weiteres global unwahrscheinlich – und auch die Zukunft der EU selbst ist nicht teleologisch determiniert, sondern zeigt vielmehr phasenweise bedenkliche Desintegrations-und folglich Re Nationalisierungstendenzen.

Lässt also die wachsende und augenscheinlich unumkehrbare Steigerung der Interdependenzverflechtung die Autonomie der staatlich organisierten demokratischen Willensbildung durch die Erosion der Unterscheidung von „innen und außen“, „intern und extern“ erodieren, soweit damit die innerstaatliche Effektivität von und Betroffenheit durch außerstaatliche Regulierungen angesprochen ist, so ist die daraufhin häufig geschlussfolgerte abnehmende Macht und Wirkungseffizienz nationalstaatlicher Regierungen m. E. empirisch noch nicht ausreichend belegt. Übersehen wird, dass nationalen Regierungen jenseits des nationalen Legitimitätsraumes neue Handlungs-und Entscheidungsmöglichkeiten zuwachsen, die sie in Kooperation mit anderen oder gar in einseitiger Machtüberlegenheit auch mit Wirkung nach „innen“ wahrzunehmen verstehen. Unter dem Gesichtspunkt eines Wandels der Demokratie scheint mir ein anderer Aspekt der Transnationalisierung von hernach auch innerstaatlich wirksamen Regulierungen bedeutsamer, nämlich die beobachtbare Erosion der Trennung von (a) öffentlicher demokratisch, d.h. gleicheitsbasiert legitimierter und (b) privater, d.h. in der Regel auf ungleicher Ressourcenausstattung beruhender Partizipation, so in von mir bereits früher so genannten „Public-Private-Policy-Networks“ (PPPNs)12, die für die Etablierung und Regulierungsbildung von „Transnationalen Public-Private Networks“ (TPPNs) [12] immer bedeutsamer werden.

Beruht demokratische Willensbildung auf der formalen, d. h. zu diesem Zwecke institutionell künstlich hergestellten „gleichen Freiheit“ der Beteiligten, wie sie beispielsweise im „omov-principle“ – „one man, one vote“ – zum Ausdruck kommt, so die Partizipation (zivil-)gesellschaftlicher Akteure an PPPNs und TPPPNs auf unterschiedlicher Ressourcenausstattung und damit ungleichen Einflusschancen. Insofern deren Regulierungen für die einzelnen Individuen Geltung erlangen, geht der konstitutive Unterschied moderner Demokratien gegenüber ihren Vorgängerregimen, dass nämlich die Einzelnen aus jeglicher privater Herrschaft emanzipiert und nur noch der demokratisch legitimierten Amtsgewalt und Gesetzesherrschaft unterliegen sollen, zumindest partiell verloren. Mit der Zunahme von PPPNs und TPPNs, die von den beteiligten privaten wie öffentlichen Akteuren in der Hoffnung auf zu steigernde Regulierungseffizienz und effektivität gestiftet werden, wächst zugleich der Anteil privater Herrschaft an, die gänzlich abzuschaffen die ‚moderne Demokratie‘ einmal angetreten war.

Gegen den bisherigen Argumentationsgang mag eingewendet werden, er verwende das Konzept von „Modernisierung“ zu deterministisch, etwa im Sinne der benjaminschen „Lokomotive“ aus den „Geschichtsphilosophischen Thesen“; dem von Walter Benjamin[13] dort politisch und historisch-materialistisch angedachten Handeln bliebe ja, um die menschliche Qualität des „Fortschritts“ zu erhalten, schließlich nur der Griff zur „Notbremse“, mit dem der permanente Wandel der Modernisierung, bei Benjamin freilich in Form ungebremster Kapitalakkumulation und Profitmacherei verstanden, unterbrochen werden könnte. Die Vorstellung eines bewussten Eingriffs in den bis dato hinter dem Rücken der Subjekte ablaufenden permanenten Wandel lebt bei Benjamin noch ganz von den Revolutionsvorstellungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts, die mit ihrem Bezug auf den einzelnen Staat, den es zu revolutionieren gelte, denselben vormodernen Bewusstseinsrelikten verbunden blieben, wie hier schon für die Demokratie aufgezeigt. Die kommunistische Vision einer „Weltrevolution“ (Marx/Engels) war demgegenüber allein aus der klassentheoretischen Interpretation der Entstehung des Weltmarktes deduziert, fand aber niemals, auch nicht in den Konzepten der Internationalen oder später der Komintern, eine strategisch-handlungspraktische Konkretisierung, die Lenins wirkmächtiger Strategie aus „Was tun?“ für ein einzelnes Land entsprach.

Was der Übertragung der Idee der Revolution auf die Moderne zunehmend sich praktisch in den Weg stellte, war erstens genau jene bereits angesprochene Erosion der vorgestellten Homogenität eines bewusst handelnden Kollektivsubjekts und zweitens die wachsende Interdependenz, die das ursprünglich einzeln zu revolutionierende Objekt des unabhängig von seiner internationalen und transnationalen Umgebung zu revolutionierenden Nationalstaates („Sozialismus in einem Land“) in ein zunehmend globales System vielfach verflochtener Bezüge einbettete.

Kann man sich also nach diesem Paradigma revolutionären Handelns vorstellen, dass durch bewusstes politisches Entscheiden und Handeln die bisher selbstläufig vorantreibende „Modernisierung“ die schleichende Abschaffung der Demokratie gerade durch deren Modernisierung aufgehalten werden könnte?

Wenn auch nicht gerade mit „revolutionärer“, so doch mit performativer Intention könnte man diese Absicht der wachsenden Flut normativer Fortschreibungen der Idee der Demokratie bis hin zur „global“ oder „cosmopolitan democracy“ zubilligen. In immer komplexeren Argumentationen und institutionellen Mehrebenenarrangements für „multiple demoi“ und andere willkürlich konstruierte, weiterhin aber angeblich legitimationsspendende Hybridkollektive werden in der Politikwissenschaft Szenarios entworfen, nach denen sich auch die komplexesten Formen transnationaler Mehrebenengovernance und die nur noch von Experten-und advokatorischen Interessengruppen durchschaubaren Regulierungsprobleme zahlreicher Policy-Bereiche als mit der traditionellen Idee einer „Bürgerdemokratie“ vereinbar interpretieren lassen sollen.

Aber was unsere besten Studierenden der Politikwissenschaft nach längerem Studium mühsam sich vielleicht aneignen, taugt als normativer Ersatz für die traditionelle Legitimationsidee der Demokratie in der Praxis nicht, weil diese normativ konstruierten, komplexen Demokratiemodelle das Sartori-Kriterium verletzen, wonach die Demokratie als einzige Regimeform nicht fortbestehen kann, „wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers übersteigen“[14]. Eine Demokratie, deren institutionelle und prozessuale Legitimationsbesorgung vom durchschnittlichen Bürger nicht mehr durchschaut werden kann, wäre jedenfalls mit der „Volkssouveränität“ normativ nicht länger vereinbar und verkäme praktisch zur Rechtfertigung von – bestenfalls – advokatorischer Elitenherrschaft. Meine Antwort lautet also: nein.

Mit der Wirklichkeit der Idee der modernen Demokratie schwindet aber aus verwandten Gründen auch die ihr historisch verbundene Idee und praktische Möglichkeit der Revolution; beides, wie man zunehmend merken kann, Relikte der Vormoderne, die noch eine Weile – mehr im Bewusstsein und normativen Selbstverständnis als im praktischen Funktionieren – im Prozess der Modernisierung mitgeschleppt worden sind, nun aber auch in ihrer normativen Strahlkraft zunehmend verblassen.

Was tritt an die Stelle? Wir wissen es noch nicht – werden es aber auch nicht zu begreifen lernen, solange wir weiterhin versuchen, die permanent zu beobachtenden Veränderungen in die alten vertrauten Schemata einzuordnen, um den Preis, dass diese mehr und mehr ihre erfahrungsbasierte Validität und Überzeugungskraft verlieren. Dadurch ähnelt die Demokratie in den Augen der Menschen, auf die es als Bürger und Bürgerinnen doch schließlich ankäme, heute mehr und mehr jenem bekannten nackten Kaiser im Märchen – der sich doch bei Lichte besehen als ziemlicher Despot erwies, indem er den gewohnheitsmäßigen Respekt der Leute für seine Zwecke zu nutzen verstand. Nur der von Respekt und Tradition unbefangene neue Blick des Kindes, das ausrief „Aber der Kaiser ist doch nackt!“ konnte den Bann seiner Herrschaft brechen.

Der gedankliche Abschied von der vertrauten normativen Idee der Demokratie, statt ihrer permanenten Anpassung an eine Realität, die sich ihr nicht mehr fügen will, ist aber die Voraussetzung dafür, eine den neuen Herausforderungen entsprechende, neue normative Idee von historisch ähnlicher Prägekraft zu entwickeln, wie sie die aus ‚Altem‘ und ‚Modernem‘ amalgamierte Idee der „modernen Demokratie“ einmal besessen hat.

Der Beitrag wurde zuerst in Berliner Debatte Initial 3/2009 veröffentlicht

[1] Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. Tübingen 1968, 146 – 214; man beachte, dass Weber dort nicht nur von „Wirklichkeitsurteilen“, sondern auch von „Möglichkeitsurteilen“ als Aufgabe der „Wirklichkeitswissenschaft“ spricht.
[2] Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt am Main 2006, S. 45.
[3] Ich halte mich an Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 5. Aufl. München 2000, Bd. 2.vorgänge Heft 3/2012, S. 92-100
[4] Von Münch/Kunig 2000, S. 8.
[5] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. umgearbeitete Aufl., Tübingen 1929.
[6] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München und Leipzig 1923.
[7] Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Ders., Positionen und Begriffe im Kampf um Weimar – Genf – Versailles, Berlin 1988, S. 120-132.
[8] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992.
[9] Habermas ebd., 465
[10] Michael Th. Greven, Die Politische Gesellschaft, Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, 2. aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2009.
[11] Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997.
[12] Michael Th. Greven, The Informalization of Transnational Governance: A Threat to Democratic Government, in: E. Grande/L.W. Pauly (Eds.), Complex Sovereignty, Toronto 2005, 261 – 284. Edgar Grande wählt jüngst in einem noch unveröffentlichten Manuskript mit ähnlicher Intention den besseren Terminus „Transnationale Politikregime“ (Grande, Transformation von Staat und Herrschaft in der Weltrisikogesellschaft“, Mskpt 28. S.), weil im Regimebegriff Kontinuität und normativer Anspruch der angestrebten Regulierung besser zum Ausdruck kommen, als in dem blasseren Netzwerkbegriff.
[13] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Gesammelte Schriften, I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 691-704.
[14] Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1992, S. 23.

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