Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Wie viel und welche Parti­zi­pa­tion braucht die Demokratie?

Ist die Demokratie in einer Krise?

Die moderne Demokratie ist in der öffentlichen Wahrnehmung vielerorts in eine Krise geraten. Den Anlass bieten negative Entwicklungen auf der Ebene der konventionellen politischen Beteiligung. Die Wahlbeteiligung ist im europäischen Vergleich seit den 1970er Jahren ebenso stetig gesunken wie die Mitgliederzahlen politischer Parteien (Franklin 2004; Dalton und Wattenberg 2002). Der deutsche Fall stellt hier keine Ausnahme dar. Der Höchststand in der Wahlbeteiligung von 91 Prozent bei den Bundestagswahlen von 1972 hat sich stetig bis auf knapp 71 Prozent bei den Wahlen von 2009 reduziert. Vier der fünf im Bundestag vertretenen Parteien haben im Zeitraum zwischen 1990 und 2010 einen Mitgliederschwund von durchschnittlich 47 Prozent zu verzeichnen. Alleine die Partei der GRÜNEN hat in diesem Zeitraum einen Mitgliederzuwachs, allerdings auf niedrigem Niveau, erlebt (Niedennayer 2011).

Eine Reaktion auf die wahrgenommene Krise der Demokratie besteht darin, dass Partizipation in vielen etablierten Demokratien zu einem Thema von Reformpolitik geworden ist. Im Zentrum steht dabei das Ziel der institutionellen Weiterentwicklung der Demokratie durch Steigerung der Gelegenheiten zur Partizipation (Smith 2005; Zittel und Fuchs 2007). Die Debatte um die Direkte Demokratie in Deutschland zeigt, dass neue verfasste Gelegenheiten zur Partizipation geradezu als Königsweg im Umgang mit den sinkenden Beteiligungsraten und damit als effektives Instrument der Krisenbewältigung begriffen werden. Als Beispiel hierfür kann die Position der Fraktion von Bündnis 90/GRÜNE in Ausschussberatungen zu dem Thema im 14. Bundestag dienen. In einer Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses ist hierzu festgehaltene, dass „mehr Mitsprache des Volkes […] das Engagement der Bürger sowie deren Identifikation mit dem Gemeinwesen [erhöht,] ebenso wie die Akzeptanz von Gesetzen” (Deutscher Bundestag 2002: 5).

Die jüngeren demokratiepolitischen Initiativen werfen u. a. die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Partizipation auf, danach, wie viel Partizipation die Demokratie eigentlich braucht, und welche Form von Partizipation für die Demokratie bedeutsam ist. In diesem Beitrag werden diese Fragen aus der Perspektive der normativen Demokratietheorie diskutiert. In einer Rekonstruktion einschlägiger Positionen wird erstens gezeigt, dass die gestellten Fragen nicht eindeutig zu beantworten sind. Die aktuelle Diskussion um die „Krise der Demokratie” erscheint aus dieser Sicht als Konstrukt. Sie ist möglicherweise weniger das Ergebnis objektiver Problemlagen als Folge sich verändernder Demokratienormen. Zweitens bleibt im Licht der demokratietheoretischen Diskussion festzuhalten, dass verfasste Gelegenheiten zur Partizipation voraussetzungsreich sind, und dass eine konsequente Maximierung im Zuge deznokratiepolitischen Handelns daher kaum anzuraten ist.

Der vorliegende Beitrag ist auf der Grundlage der benannten Zielsetzung in drei Teile gegliedert. Der erste Teil widmet sich der Frage, wie sich der Zusammenhang zwischen Demokratie und Partizipation in der Theorie der liberalen Demokratie darstellt. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Konzept der partizipatorischen Demokratie und der Rolle, die dein Konzept der politischen Partizipation hier gegeben wird. Der dritte Teil formuliert ein Fazit zur Ausgangsfrage und diskutiert kursorisch die Herausforderungen, denen sich die aktuelle demokratiepolitische Diskussion im Licht der an-gestellten Überlegungen gegenübersieht.

Politische Parti­zi­pa­tion in der liberalen Demokra­tie­the­orie

Der Begriff der Demokratie stammt aus dem Griechischen und kann wörtlich mit „Herrschaft des Volkes” übersetzt werden. Eine zentrale Diskussion in der Demokratietheorie zielt auf die Frage, wie die allgemeine Idee der Volksherrschaft institutionell konkretisiert und umgesetzt werden kann, womit auch die in diesem Beitrag gestellte Frage nach der Rolle von Partizipation in der Demokratie berührt wäre. In der demokratietheoretischen Diskussion stehen sich an diesem Punkt zwei Grundpositionen gegenüber, mit denen ich mich in der Folge eingehender beschäftigen werde, und die jeweils in der liberalen und in der partizipatorischen Theorie der Demokratie verortet werden können. In diesem Abschnitt soll zunächst von der liberalen Demokratietheorie die Rede sein.

Die liberale Demokratietheorie ist ein hybrides Gebilde (Vgl. Schmidt 2000: 148 ff.), deren konstitutiver Kern in der Überzeugung besteht, dass individuelle Interessen im Zuge kollektiven Entscheidens a) als gegeben angesehen werden und b) gleiche Berücksichtigung finden müssen (Dahl 1998: 37). Volksherrschaft stellt sich im Licht dessen als Interessenkonflikt dar, der durch geregelte Verfahren unter der Bedingung gleicher Interessenberücksichtigung zu einem friedlichen Ausgleich gebracht und in eine legitime Entscheidung überführt werden muss. Im Folgenden beschäftige ich mich mit einer Spielart der liberalen Demokratietheorie, die als pluralistische Demokratietheorie bezeichnet werden kann, und die exemplarische, von dem amerikanischen Demokratietheoretiker Robert Dahl vertreten wird.

Robert Dahl (1971) ist im Rahmen seiner demokratietheoretischen Überlegungen primär mit der Frage beschäftigt, wie Demokratie und Diktatur empirisch unterschieden werden können, und worin die Voraussetzungen von Demokratie bestehen. Dabei entwickelt er jedoch ein differenziertes Demokratiemodell, das er mit dem Begriff der Polyarchie kennzeichnet, und dessen Implikationen über seine eigentliche Zwecksetzungen weit hinausreichen (Kaiser und Seils 2005).

Graphik 1 Robert Dahl’s Modell der Polyarchie

Die Frage nach der Rolle von Partizipation in der Demokratie beantwortet Dahl in einer klaren Weise, die in dem Grundwert der politis9hen Gleichheit ihren Ausgang nimmt, und die hiervon eine systematische Ableitung findet. Die effektive Umsetzung der Nonn der gleichen Interessenberücksichtigung in der Ausübung von Volksherrschaft ist für Dahl von zwei zentralen Verfahrensprinzipien abhängig. Wie Graphik 1 zeigt, setzt das erste Verfahrensprinzip, das auf der y-Achse abgetragen ist, die gleiche Teilhabe aller Entscheidungsbetroffenen an Prozessen kollektiver Selbstbestimmung voraus. Das zweite Verfahrensprinzip, das in Graphik 1 auf der x-Achse abgetragen ist, setzt die Notwendigkeit der Kontrolle von Herrschaft voraus. Damit soll u. a. die Gefahr des Machtmissbrauchs durch Mehrheitsinteressen verhindert werden, der z. B. in Form der Manipulation von Verfahren und in der damit verbundenen Einschränkung politischer Gleichheit gedacht werden kann. Mehrheiten sind für Dahl nicht notwendig Garant, sondern potentiell auch Gefahr für Demokratie.

Dahl konkretisiert in seinem Modell die beiden Verfahrensprinzipien der kollektiven Selbstbestimmung (popular sovereignty) und des politischen Wettbewerbs (contestation) ausschließlich auf der institutionellen Ebene und mit Hinweis auf den Wahlprozess und das Institut des Gruppenpluralismus. Das heißt einerseits, dass sich für ihn die Demokratie nicht über empirische Prozesse der Entscheidungsbeteiligung und der Machtkontrolle definiert, sondern alleine über die verfassten Chancen hierzu. Das heißt andererseits, dass er mit seinem Polyarchiemodell eine strikt repräsentativtheoretische Position vertritt und Verfahren der direkten Herrschaftsbeteiligung eine klare Absage erteilt. Das Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung sieht er am wirksamsten durch ein Wahlregime umgesetzt, in dem Mandatsträger wiederkehrend zur Wahl stehen, in dem die Chance zur Abwahl gegeben sind und das sich durch ein Höchstmaß an Inklusivität auszeichnet.

Die konkrete Umsetzung des Prinzips der Machtkontrolle auf der Ebene der politischen Verfahren rechtfertigt die Charakterisierung der Dahlschen Demokratietheorie als eine pluralistische. Dahl sieht im Zuge der kollektiven Selbstbestimmung durch Wahlen den freien Wettbewerb zwischen Gruppeninteressen als funktional notwendiges Korrektiv zur Machtbalance wie auch zur Information der Wahlbürger. Im Zuge der institutionellen Konkretisierung dieses Grundgedankens betont Dahl die Bedeutung von Regeln, die Anreize und Gelegenheiten zu einem möglichst freien und offenen Wettbewerb zwischen widerstreitenden Gruppeninteressen geben. Dabei handelt es sich insbesondere um die Institute der Rede-, Informations- und Organisationsfreiheit sowie um die Vergabe inklusiver Bürgerrechte, die als Bedingung zur Wahrnehmung der benannten Freiheiten gelten können.

Das Dahlsche Polyarchiemodell ist in der demokratietheoretischen Diskussion vielfach als Minimalmodell der Demokratie bezeichnet und auch kritisiert worden. Damit ist der für diesen Beitrag wichtige Umstand angesprochen, dass Dahl mit seinem Modell die Möglichkeit einer Maximierung von Beteiligungsrechten über die skizzierten Verfahren hinaus bestreitet. Genau darin liegt die Crux des Begriffs der Polyarchie, der die mögliche Form von Demokratie bezeichnet im Gegensatz zu der wünschbaren Ausbildung dieser Regierungsform. Mit dieser These ist allerdings noch keineswegs die Begründung dafür geliefert, dass Partizipation in der Demokratie auf die Teilnahme an Wahlen und an Prozessen der pluralistischen Konfliktregelung beschränkt sein muss. Dieser Begründung wende ich mich zurn Abschluss dieses Abschnitts zu.

Die Maximierung von Beteiligungsrechten birgt aus der Sicht von Dahl Risiken, die ich im Folgenden in Form eines Gedankenexperimentes skizzenhaft konkretisieren und erläutern will. In diesem Gedankenexperiment nehme ich eine gleichzeitige Verschiebung der in Graphik 1 abgetragenen beiden Geraden vor. Das so entstandene Demokratieregime ist durch den rechten oberen Punkt markiert, der in Graphik 2 abgetragen ist. Dieser Punkt definiert ein Szenario, in dem die Prinzipien der kollektiven Selbstbestimmung und des Wettbewerbs in maximaler Weise umgesetzt sind. In diesem Demokratieregime besitzt jedes Mitglied einer politischen Gemeinschaft das gleiche Recht, in Abstimmungen direkt an jeder Sachentscheidung mitzuwirken. Durch Umsetzung der Entscheidungsregel des Konsenses verbinden sich mit dem Recht auf Beteiligung an Sachentscheidungen gleichzeitig weitgehende Kotrollrechte. Für eine Mitwirkung in Organisationen und damit für Machtkontrolle über pluralistische Prozesse der Interessenvertretung besteht in diesem Szenario keine Notwendigkeit mehr. Jeder Stimmbürger besitzt unter den Bedingungen der Konsensregel ein Vetorecht, das als Instrument der Machtkontrolle einsetzbar ist.

Graphik 2 Beteiligungsdemokratie

Die Risiken einer solchen konsequenten Umsetzung des Prinzips der Volksherrschaft werden in der demokratietheoretischen Debatte auf zwei Ebenen diskutiert. Fritz Scharpf (1970) sieht auf einer ersten Ebene die Gefahr verminderter Problemlösungsfähigkeit aufgrund gesteigerter Entscheidungskosten gegeben. Mehr Partizipation bedeutet aus dieser Sicht eine gesteigerte Zahl von Vetopositionen sowie erhöhte Kosten der Vorbereitung und Organisation von kollektiven Entscheidungen. Das hat für Scharpf einerseits negative Folgen für die Fähigkeit von Demokratie, auf Problemlagen angemessen reagieren zu können. Andererseits geht Scharpf davon aus, dass damit auch die Legitimität der Demokratie negativ berührt ist, die er auch in Abhängigkeit von ihrem Output sieht, also von dem Vermögen die Lebensbedingungen und -chancen der Herrschaftsunterworfenen in positiver Weise beeinflussen zu können.

Dahl sieht auf einer zweiten Ebene der Debatte eine Spannung zwischen Partizipationschancen einerseits und der Effektivität von Partizipation andererseits. Sein einfaches Argument zielt dabei auf das sinkende Gewicht individueller Interessen bei zunehmender Größe von Gemeinwesen. In großen Gemeinwesen sei gleiche Interessenberücksichtigung nur im Rahmen einer pluralistischen Repräsentativverfassung möglich, da der Einzelne hier keinerlei Chance auf Gehör habe und da die Effektivität von Beteiligung gegen Null tendiert (Dahl 1982: Kapitel 5; Dahl 1989: 153f.; Dahl 1994). Eine negative systemische Folge geringer Effektivität von Beteiligung sieht Dahl in der Stärkung Status-Quo-orientierter Interessen gegenüber neuen Interessen, die in hochgradig individualisierten Strukturen der politischen Teilhabe weitgehend wirkungslos bleiben werden.

Ein drittes Argument der liberalen Demokratietheorie gegen eine Ausweitung von Beteiligungschancen über Wahlen und die Teilhabe an pluralistischen Formen der Interessenvermittlung hinaus darf hier nicht unerwähnt bleiben. Dieses Argument stützt sich auf gut belegte Befunde der empirischen Partizipationsforschung, die zeigen, dass die Bereitschaft zur Partizipation in einem positiven Zusammenhang zu Einkommen und Bildung steht (Barnes und Kaase 1979; Brady et al. 1995; Verba et.al. 1995; Kriesi 2008). Es sind vor allem die besser gebildeten und einkommensstarken Bevölkerungsgruppen, die verfügbare Chancen zur Partizipation nutzen, und deren politische Durchsetzungskraft durch zusätzliche Einflusschancen gesteigert wird. Die verfasste Chance auf Beteiligung darf im Licht der empirischen Beteiligungsforschung nicht mit der Kapazität zur Partizipation gleichgesetzt werden. Gesteigerte Chancen zur Partizipation bedeuten aus dieser Sicht gesteigerte Ungleichheit, da bereits gut vertretenen und durchsetzungsfähigen Bevölkerungsgruppen neue Instrumente der Interessenvertretung an die Hand gegeben werden, die gleichzeitig für schwach vertretene Bevölkerungsgruppen weitgehend bedeutungslos sind.

                                         

Parti­zi­pa­tion in der parti­zi­pa­to­ri­schen Demokra­tie­the­orie

Der wesentliche Unterschied zwischen der partizipatorischen und der liberalen Demokratietheorie besteht in der Annahme der Ersteren, dass die Demokratie mehr als ein Verfahren zur kollektiven Entscheidung ist. Demokratie wird in der Partizipatorischen Demokratietheorie als Praxis begriffen, die in der Alltagswelt Verankerung findet und von der formative Effekte auf der Ebene der Individuen ausgehen. Die liberale Demokratietheorie begreift Demokratie als den friedlichen Ausgleich gegebener Interessen im Rahmen verfasster Verfahren und Strukturen. Die partizipatorische Demokratietheorie konzentriert sich in ihrem Demokratieverständnis hingegen auf die soziale Gebundenheit der Demokratie und der ihr zu Grunde liegenden Interessenkonstellationen.

Die partizipatorische Demokratietheorie betont die soziale Dimension von Politik deshalb, weil sie darin die Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit verfasster Strukturen von Demokratie sieht. James Macpherson (1977: 4) bringt als einschlägiger Vertreter der p artizipatorischen Demokratietheorie diese Grundüberzeugung in folgender Weise auf den Punkt: „The workability of any political system depends largely on how all other institutions, social and economic, have shaped, or might shape, the people with whom and by whom the political system müst operate.” Das was Sartori (1987) Makrodemokratie nennt, also die verfassten Strukturen von Demokratie, benötigen aus Sicht der partizipatorischen Demokratietheorie in der Bevölkerung verankerte Einstellungsmuster und Beziehungsgeflechte, die Makrodemokratie aus sich selbst heraus nicht generieren kann, und die alleine in Abhängigkeit von der sozialen Dimension der Demokratie, der Mikrodemokratie gesehen werden.

Welchen Typus von Partizipation proklamiert die partizipatorische Demokratietheorie in welchen Strukturen und zu welchem Grad? In der Vergangenheit war sie an diesem Punkt Vorwürfen hinsichtlich ihrer Unbestimmtheit (Vgl. Sartori 1987, 111 ff.; Pieterse 2001) wie auch hinsichtlich ihrer ausschließlichen Fokussierung auf Verfahren der direkten Entscheidungsbeteiligung ausgesetzt (Kitschelt 1996). Bei genauerer Betrachtung trifft keiner dieser Kritikpunkte. In der einschlägigen Literatur lassen sich drei Varianten der partizipatorischen Demokratietheorie unterscheiden, die einerseits je konkrete Beteiligungsformen und -verfahren in den Mittelpunkt stellen, und die andererseits allesamt wenig Interesse an Verfahren der direkte Entscheidungsbeteiligung deutlich werden lassen.

Carole Pateman (1970) fordert als Vertreterin einer ersten Variante der partizipatorisehen Demokratie eine Ausweitung der Reichweite der demokratischen Regierungsform. Dabei stellt sie die Demokratisierung des Arbeitsplatzes in den Mittelpunkt und damit die Forderung auf die Beteiligung der Beschäftigten an betrieblichen Entscheidungen (Pateman 1970: 53). In ihren konkreten Überlegungen zur weiteren Ausgestaltung der Demokratie am Arbeitsplatz unterscheidet Pateman zwischen partieller Partizipation im Zuge betrieblicher Mitbestimmung und vollständiger Partizipation, die Betriebsangehörigen eine gleiche Stimme in betrieblichen Entscheidungen garantiert, und die im weitest gehenden Fall durch eine genossenschaftliche Betriebsverfassung institutionell garantiert ist (Pateman 1970: 68ff.).

Die zentrale Bedeutung der weitgehenden Beteiligung der Beschäftigten am Arbeitsplatz für die Demokratie ist laut Pateman aus dem Grad an Erfahrungswissen begründet, den Arbeitnehmer in ihren Arbeitskontexten ansammeln, und der ein Höchstmaß an Informiertheit und Motivation als Grundlage von Beteiligung garantiert (Pateman 1970: 34). Auch der Umstand, dass ein Großteil von Lebenszeit am Arbeitsplatz verbracht wird, spricht laut Pateman für die.konsequente Beteiligung der Beschäftigten an Unternehmensentscheidungen und damit für die Demokratisierung des Arbeitsplatzes (Pateman 1970: 54). Anders gesagt wollen und können abhängig Beschäftigte am Arbeitsplatz partizipieren, weil sie einen erheblichen Teil ihrer Lebens-zeit in diesen sozialen Kontexten verbringen und weil sie mit den hier anfallenden Sachfragen und -problemen vertraut sind. Effektive, verantwortungsvolle und mit dem Gleichheitsgedanken kompatible Formen der Maximierung von Partizipation sind aus dieser Sicht nur in funktional gebundenen Kontexten möglich.

Eine zweite Variante der partizipatorischen Demokratie betont die Notwendigkeit der Steigerung von Beteiligung auf der lokalen Ebene. Vorstellungen dieser Art reichen bis auf Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill zurück. Beide Autoren sehen die lokale Ebene als „Schule der Demokratie”, in der diejenigen Fertigkeiten und Einstellungen erworben werden können, die Voraussetzung einer effektiven und verantwortungsvollen Wahrnehmung von Beteiligungsrechten auf der nationalen Ebene sind. Die konkreten Formen der Beteiligung, die in diesem Zusammenhang thematisiert werden, sind vielfältiger Natur. Lokale Wahlregime, die vermehrte Partizipationschancen durch vermehrte Optionen bei der Kandidatenauswahl eröffnen, sind hier ebenso Thema wie die Direktwahl von Bürgermeistern oder die Einführung lokaler Referenden und Initiativen (Peters 2001). Die konkreten Typen der Partizipation sind im Rahmen dieser Variante der partizipatorischen Demokratie von eher nachrangiger Bedeutung. Im Zentrum steht die These, dass effektive und verantwortungsbewusste Partizipation nur in kleinräumigen örtlich gebundenen Kontexten möglich ist.

Eine dritte Variante der partizipatorischen Demokratietheorie negiert die Bedeutung politischer Strukturen und verweist auf die Wirtschaftsordnung als wichtige Voraussetzung für die Beteiligungsdemokratie. James Macpherson (1977) sieht im Rahmen dieser Perspektive die Bereitschaft und das Vermögen zur Beteiligung vorrangig vom Grad der sozialen Ungleichheit bestimmt, den er in marktliberalen Wirtschaftssystemen als besonders ausgeprägt sieht. Jeder Versuch der Umsetzung neuer Beteiligungschancen setzt für diese Variante der partizipatorischen Demokratietheorie die gleichzeitige Ausbildung sozial- und wohlfahrtsstattlicher Strukturen voraus, und damit die Steigerung soziale Gleichheit (Siehe auch Bachrach/Botwinick 1992).

Politische Partizipation ist aus der Sicht aller drei Varianten der partizipatorischen Demokratietheorie in hohem Maße voraussetzungsreich (Patemann 1970: 64). Mit diesen Voraussetzungen geht zum einen – eher unausgesprochen – die Einsicht in die Risiken kollektiver Entscheidung unter Bedingungen maximaler Entscheidungsbeteiligung einher (Graphik 2). Damit steht die partizipatorische Demokratietheorie in einer in der Literatur wenig rezipierten Nähe zur Liberalen Demokratietheorie.

Die Einhegung der Risiken von Partizipation, und damit die Herstellung der Funktionalität der Beteiligungsdemokratie, die auf der Makroebene von Politik über das Dahlsche Minimalmodell hinausreicht, wird von der partizipatorischen Demokratietheorie andererseits in Abhängigkeit von der sozialen und der subjektiven Dimensionen der Politik gesetzt. Die Crux der subjektiven Dimension, die „demokratische Persönlichkeit” also, liegt dabei folgerichtig nicht in dem unbedingten Willen zur Partizipation begründet. Vielmehr ist das Gelingen der Beteiligungsdemokratie durch Vertrauen in das Vermögen zur politischen Einflussnahme bei der gleichzeitigen Fähigkeit zur (gelassenen) Anerkennung der Interessen Dritter ausgezeichnet (Pateman 1970: 46). Das sind keine banalen Voraussetzungen, die Makrodemokratie aus sich heraus nicht ausbilden kann. Das Dahlsche Polyarchiemodell kann aus Sicht der partizipatorischen Demokratietheorie deshalb nur dann im Sinne der Abbildung in Graphik 3 linear nach rechts oben verschoben werden, wenn die verfasste Demokratie in sozial und ökonomisch gemäße Kontexte eingebettet ist.

Wie viel und welche Form der Parti­zi­pa­tion braucht die Demokratie?

Die vorausgehenden Überlegungen haben gezeigt, dass die demokratietheoretische Debatte keine eindeutige Antwort auf die hier gestellte Frage geben kann. Die Rolle von Partizipation in der Demokratie muss damit in Abhängigkeit von dem jeweiligen Demokratiemodell gesetzt werden, das als gesellschaftlich hegemonial erkannt wird. Auf das vorherrschende Krisenbewusstsein gewendet bedeutet dies, dass wir es hier womöglich eher mit Symptomen sich verändernder Demokratievorstellungen zu tun haben, als mit objektiven Problemlagen. Was wir gegenwärtig beobachten, kann womöglich als Gezeitenwandel auf der Ebene der Demokratienormen und -vorstellungen begriffen

Grafik 3 Partizipatorische Theorie der Demokratie

werden, der sich durch eine zunehmende Bedeutung und Betonung partizipatorischer Vorstellungen von Demokratie auszeichnet.

Die vorausgehenden Überlegungen haben auch gezeigt, dass die Demokratiethe orie als Warnung vor einfachen Antworten auf die sichtbare Unzufriedenheit mit den verfassten Strukturen der liberalen Demokratie dienen kann.

Die Beteiligungsdemokratie ist und bleibt voraussetzungsreich; keine ernsthafte Stimme in der Demokratietheorie geht davon aus, dass eine Maximierung von Beteiligungschancen im Rahmen verfasster Strukturen in den Kontexten der nationalen Politik ein gute Idee wäre, im Sinne der Sicherung gleicher und effektiver Einflusschancen bei Wahrung der Problemlösungskapazität demokratischer Systeme.

Die Gelegenheit zur Partizipation setzt das Vermögen zur Partizipation voraus, das aus Sicht der Demokratietheorie nur in sehr spezifischen Kontexten generiert werden kann.

Welche konkreten Handlungsempfehlungen lassen sich aus dem Gesagten schlussfolgern? Stellt im Licht der vorausgehenden Überlegungen die lokale Demokratie den Königsweg demokratiepolitischen Handelns dar? Diese Position ist nicht ohne Probleme und muss den Zusammenhang zwischen Partizipation und Entscheidungskompetenz in Betracht ziehen. Das von Robert Dahl (1994) formulierte Dilemma der Demokratie liegt in dem Umstand begründet, dass auf der lokalen Ebene ein Höchstmaß an Partizipation möglich ist, während Entscheidungen in modernen Gesellschaften eher auf übergeordneten staatlichen Ebenen getroffen werden müssen. Dieses Dilemma verschärft sich durch die zunehmende Verlagerung von Entscheidungskompetenz auf Ebenen jenseits des Nationalstaates in zunehmender Weise. Die Lebenschancen und -umstände des Einzelnen sind angesichts dieser Entwicklungen kaum mehr von lokalen Strukturen und in abnehmender Weise von nationalen Strukturen der Politik bestimmt. Die Steigerung von Beteiligungschancen auf Ebenen, die ohne Einfluss auf kollektive Entscheidungen sind, birgt das Risiko einer Placebopolitik, die nicht mehr als Öffentlichkeitsarbeit ist.

Aus dem soeben formulierten Argument zum Problem der lokalen Partizipation her-aus empfiehlt sich einerseits die Stärkung von Strukturen der Mehrebenenpolitik, wie sie in Graphik 3 als Verbindungsglied zwischen Mikro- und Makrodemokratie angedeutet sind. Die lokale Ebene lässt sich u. a. durch Repräsentativstrukturen, z. B. durch Kammern regionaler Repräsentation auf Bundesebene, in ihren Entscheidungskompetenzen stärken, was auch zu einer Stärkung der Effektivität lokaler Partizipation beiträgt. Andererseits empfiehlt sich die ernsthafte Prüfung einer Demokratiepolitik, die auf die Ausweitung der Reichweite von Demokratie setzt, und die gleichermaßen die demokratiepolitische Bedeutung der ökonomischen Sphäre erkennt, und damit Demokratiepolitik auch als Wirtschafts- und Verteilungspolitik versteht.

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