Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 201/202: Verfassungsschutz in der Krise?

Berlin: Video­auf­zeich­nungen bei Demon­s­tra­ti­onen

aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 119

(SL) Die Große Koalition im Berliner Abgeordnetenhaus legte Ende vergangenen Jahres den Entwurf eines „Gesetzes über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen …“ vor (Drs. 17/0642 v. 9.11.2012) Die Koalition reagierte damit auf ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts aus 2010 (VG 1K 905.09), das der Polizei die anlasslose Aufzeichnung von Demonstrationen untersagt hatte.
Gegen das Vorhaben engagierten sich mehrere Bürgerrechtsgruppen, so auch die Humanistische Union. Das von ihnen gegründete Berliner Bündnis für Versammlungsfreiheit kritisierte das Vorhaben als unzumutbare Einschränkung der Versammlungsfreiheit und erreichte immerhin eine breitere öffentliche Diskussion des Vorhabens.
In der Sachverständigenanhörung erfuhr der Gesetzentwurf heftige Kritik. Bemängelt wurden formale wie materiale Defizite des Vorschlags: etwa die kaum nachvollziehbare Abgrenzung zwischen Landes- und Bundesrecht (für Versammlungen unter freiem Himmel gelten bspw. bestimmte Regelungen des bisherigen Bundesgesetzes weiter, neben neuen Landesvorschriften); die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit durch die von den Teilnehmern zu befürchtende Registrierung; die fehlenden technischen/organisatorischen Absicherungen gegen Einzel- bzw. Detailaufnahmen; die unbestimmte Umschreibung der Anlässe solcher Aufnahmen; die fehlende Absicherung gegen Missbrauch der per Funk übertragenen Videodaten.
Nachdem das Gesetz am 18. April 2013 hastig durch die Große Koalition verabschiedet worden war, fertigte die Berliner Polizei bereits am 1. Mai zahlreiche Übersichtsaufnahmen von drei Demonstrationen an. Von der zuvor versprochenen Zurückhaltung beim Einsatz der Videotechnik konnte keine Rede mehr sein. Allerdings vergaß die Berliner Polizei bei zwei der drei Einsätze die gesetzlich vorgesehene Information der Versammlungsleiter (die einzige Auflage im Gesetz), wie sie später gegenüber dem Parlament einräumen musste.
Kurz nach der Einführung der neuen Videomöglichkeiten sprach sich der Landesparteitag der Berliner Sozialdemokraten am 25. Mai 2013 dafür aus, die Befugnis wieder abzuschaffen. Die Parteibasis verlangte von ihrer Fraktion: „Die SPD darf nicht zulassen, dass Grundrechte unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Sie muss sich für eine offene Gesellschaft einsetzen, in der Demonstrationen wieder als essentieller Bestandteil eines politischen Willensbildungsprozesses gesehen und gefördert werden.“ Derzeit ist noch offen, in welcher Weise die SPD-Abgeordneten dieser Aufforderung Folge leisten.

ZUM NACHLESEN

 Stellungnahme von Prof. Dr. Clemens Arzt zur Anhörung des Innenausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus vom 4.3.2013, abrufbar unter http://berliner-versammlungsfreiheit.de/materialien/.

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