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vorgänge: Artikel - 24.07.13
Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! (Memorandum)
Humanistische Union, Int. Liga für Menschenrechte, BAK Kritische Juristen
aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 51-75
Die Geschichte des Verfassungsschutzes ist eine Geschichte der Rechtsbrüche, des Machtmissbrauchs, der
demokratischen Zumutungen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie gerät über den ständigen (Terror-) Warnungen immer
wieder in Vergessenheit. Um daran zu erinnern, hat die Humanistische Union zusammen mit anderen
Bürgerrechtsorganisationen ein Memorandum zum Verfassungsschutz (VS) verfasst. Es zeigt, wie überflüssig der VS
ist. Weder kann noch soll er seine zentrale Aufgabe als „Frühwarnsystem“ wahrnehmen, sie ist mit dem demokratischem
Verständnis einer offenen Gesellschaft unvereinbar. Für seine weiteren Aufgaben erweisen sich anderen Institutionen
als viel effektiver. Die öffentliche Kontrolle eines im Verborgenen agierenden Geheimdienstes schließlich ist ein
Ding der Unmöglichkeit. Daher gibt es nur eine Alternative: der Verfassungsschutz gehört ersatzlos abgeschafft. Wir
dokumentieren hier Auszüge aus dem Memorandum, das als separater Sonderdruck (s. Anzeige auf S. 53) erhältlich ist.
Thesen
1. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Meinungsvielfalt. Radikale Auffassungen und Bestrebungen (die von
den vorherrschenden Meinungsbildern abweichen) sind deshalb nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswert -
solange die Grenzen zur Strafbarkeit bzw. zu gewalttätigem Handeln nicht überschritten werden. Staatliche Behörden
dürfen derartige Äußerungen weder als „verfassungsfeindliche“ oder „extremistische“ Bestrebungen abqualifizieren,
beobachten oder gar verfolgen. Wir brauchen kein staatliches „Frühwarnsystem” zur Beobachtung derartiger
Auffassungen und Bestrebungen.
2. Geheimdienstlicher Verfassungsschutz ist schädlich, wie auch die zahlreichen Verfehlungen und Skandale in der
Geschichte der Bundesrepublik zeigen. Es handelt sich dabei nicht um zufällige, persönliche oder vermeidbare
Fehler, sondern systematisch bedingte Mängel eines behördlichen und geheimdienstlichen „Verfassungsschutzes“.
3. Die gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden sind überflüssig. Bei ihrem Wegfall entsteht keine
Sicherheitslücke. Eine Aufgaben- und Befugnisüberleitung von den Verfassungsschutzbehörden auf die Polizei ist
daher nicht erforderlich. Der Schutz vor Gewalt und Straftaten obliegt der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den
Gerichten.
4. Eine Kontrolle geheim arbeitender Verfassungsschutzbehörden, die rechtsstaatlichen und demokratischen Ansprüchen
genügt, ist nicht möglich. Auch Kontrollverbesserungen sind untauglich: ein transparenter, voll kontrollierbarer
Geheimdienst ist ein Widerspruch in sich.
5. Die Verfassungsschutzbehörden sind ersatzlos abzuschaffen – allein schon deshalb, um nicht in Zeiten knapper
Kassen und in Beachtung der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse jährlich eine halbe Milliarde Euro für
überflüssige, ja schädliche Behörden auszugeben. Es bedarf auch keiner ersatzweisen, mit offenen Quellen
arbeitenden staatlichen Informations- und Dokumentationsstelle über extremistische Bestrebungen. Das Problem
besteht nicht in einem mangelnden Wissen über radikale, bisweilen auch menschenverachtende Meinungen und Haltungen
in unserer Gesellschaft. Die Auseinandersetzung darüber muss mit politischen, demokratischen Mitteln geführt
werden; sie ist innerhalb der Gesellschaft zu führen.
Einleitende Bemerkungen zum „Verfassungsschutz“
Was seit November 2011 über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und die von ihm begangenen Morde bekannt
geworden ist, brachte das Vertrauen von Politik und öffentlicher Meinung in die Arbeit der deutschen
Sicherheitsbehörden ins Wanken – zumindest für einen kurzen Augenblick. So unfassbar waren die Pannen und Fehler,
die Ignoranz und ideologischen Scheuklappen von Polizei, „Verfassungsschutz“ und anderer Geheimdienste, dass die
Chance für einen kompletten Neuanfang realistisch schien. Selbst in Zeitungen, die revolutionärer Neigungen
unverdächtig sind erschienen Beiträge, die das Ende der Verfassungsschutzbehörden verkündeten oder jedenfalls für
erwägenswert hielten.
Diese Umbruchstimmung hielt jedoch nur kurze Zeit an. Während sich der vom Bundestag eingesetzte
Untersuchungsausschuss (1) noch um die Aufklärung und Analyse der Versäumnisse bemühte (sein Abschlussbericht wird
für Juni 2013 erwartet), begann die Politik bereits mit dem von ihr verkündeten „Neustart“. Er beschränkt sich beim
überwiegenden Teil der politischen Parteien (2) jedoch auf einen bloßen Pannendienst.
Die eine oder andere vorgeschlagene Maßnahme mag gut gemeint sein. Alle Reformvorschläge werden jedoch nicht dem
Problem gerecht, das geheim arbeitende Behörden für ein demokratisches und rechtsstaatliches Gemeinwesen aufwerfen;
ja sie verstärken wie im Falle weiterer Zentralisierung noch deren fatale Wirkungsweise.
Vielmehr muss endlich von Grund auf die Frage gestellt werden, ob die Konzeption staatlicher Sicherheitswahrnehmung
(3) überhaupt noch stimmt, sofern sie überhaupt jemals gestimmt hat: Sind die bestehenden staatlichen Einrichtungen
zur Sicherheitsvorsorge und Gefahrenabwehr alle erforderlich? Vor allem aber: Sind sie auch einer Gesellschaft
angemessen, die sich in ihrer Verfassung zu den unveräußerlichen Grundrechten und Grundfreiheiten ihrer Bürgerinnen
und Bürger bekennt?
Staatliche Sicherheitspolitik hat die grundrechtlich zuerkannten Freiheitsrechte zu achten und schützen. Dazu
gehören namentlich die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit als Recht auf die kollektive Geltendmachung
von Grundrechten. Die Grenzen der Grundrechtsausübung ergeben sich aus der Verfassung, genauer: aus den Artikeln 18
und 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, und aus den kollidierenden Grundrechten Dritter, der Menschenwürde, der
körperlichen Integrität, und nicht zuletzt aus dem Strafrecht, das diese Grenzen nachzeichnet.
Solange und soweit sich die Ausübung von Grundrechten, insbesondere die Meinungs(äußerungs)freiheit innerhalb der
genannten Grenzen bewegt, kann es nicht staatliche Aufgabe sein, die Bürgerinnen und Bürger zu beobachten, zu
registrieren, zu stigmatisieren, zu verfolgen, zu diskreditieren oder zu zensieren und auszugrenzen. Genau dies ist
aber unter Anwendung des ideologiebeladenen und daher missbrauchsgeneigten Kampfbegriffs der „streitbaren
Demokratie“ seit langem der Fall; in zunehmendem Maße und mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach Maßgabe
wechselnder politischer Opportunität. Es sind vor allem die verschiedenen Geheimdienste, namentlich die 17
Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, die den politischen Diskurs der Bundesrepublik überwachen –
nachzulesen in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten und ausweislich ihrer Skandalgeschichte.
Bedarf es vor diesem Hintergrund zur Sicherheitswahrnehmung „nach innen” neben der Polizei und speziellen
Gefahrenabwehrbehörden (z. B. Bauaufsicht, Brandschutz oder Lebensmittelsicherheit, Verkehrsbehörden) auch noch
geheimdienstlich arbeitender Verfassungsschutzbehörden?
Gesellschaftliche Vergesslichkeit als Bedingung des Weiterbestehens des „Verfassungsschutzes“
Der Rückblick in die bundesdeutsche Geschichte der Geheimdienste zeigt, dass eine Bedingung ihrer Fortexistenz im
Vergessen besteht, dem permanenten gesellschaftlichen Vergessen der vielen Skandale und Anmaßungen der
Geheimdienste. Dem wollen wir mit dieser Broschüre vorbeugen. Wir können heute nicht mehr darauf vertrauen, dass
die fortwährenden Skandale im Sicherheitsbereich unsere unter Mühen erreichten demokratischen Strukturen
unbeschadet lassen. Wir wollen, wie auch andere Akteure (4), das Bewusstsein dafür wach halten, wie fragwürdig die
Konstruktion eines staatlich administrativen „Verfassungsschutzes“ ist, der selbst zu dem Problem geworden ist, das
er zu lösen vorgibt.
Unsere Schrift beschränkt sich auf die Ämter bzw. Behörden für Verfassungsschutz in Bund und Ländern. Unsere Kritik
und Sorge gilt in gleicher Weise den weiteren Geheimdiensten unseres Landes, namentlich dem Militärischen
Abschirmdienst, den abzuschaffen ja bereits in der etablierten Politik diskutiert wird, und dem
Bundesnachrichtendienst (BND), der als Auslandsgeheimdienst weitgehend rechtsfrei agiert.
Demokratie, wenn sie mehr sein will als eine periodische Schönwetter-Demokratie, muss sich gegen die Zumutungen
solcher Art autoritärer Zuteilung von bürgerlichen Freiheiten wehren. Es gibt sie, die alternativen Lösungen. Sie
liegen allein im lebendigen demokratischen gesellschaftlichen Diskurs, den es auszuhalten gilt.
1. Braucht die Demokratie ein politisches Frühwarnsystem gegen „Extremisten“?
Die Rechtfertigung für die Existenz von Verfassungsschutzbehörden wird häufig darin gesehen, dass diese eine
Frühwarnfunktion für den Staat hätten gegen „Extremisten“, gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen. So hat es
Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU) jüngst wieder im Bundesverfassungsschutzbericht 2011 ausgeführt,
der im Sommer 2012 vorgestellt wurde. Das Grundgesetz wolle eine „wehrhafte“ Demokratie sein, wie sich in den
Artikeln 9, 18 und 21 zeige. Die Feinde der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ können demnach ihre
Grundrechte verwirken, ihre Vereine und Parteien können verboten werden. Da die Polizei nur bei drohenden Gefahren
und Straftaten einschreiten dürfe, benötige der Staat weit im Vorfeld ein Frühwarnsystem zur Beobachtung von
„Extremismus“ und verfassungsfeindlichen Bestrebungen, um frühzeitig gewappnet zu sein und die „freiheitliche
demokratische Grundordnung“ verteidigen zu können.
Was stimmt an dieser Argumentation?
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach den
Artikeln 5 und 8 des Grundgesetzes konstitutiv für die Demokratie, denn diese lebt vom Meinungskampf, sei es
politisch, sei es kulturell oder gesellschaftlich. Jede Meinung ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt.
Das beinhaltet auch die öffentliche, gemeinsame Kundgabe dieser Meinung nach Artikel 8 Grundgesetz
(Versammlungsfreiheit). Und die Meinungsfreiheit gilt auch für dumme, schändliche oder „falsche“ Meinungen. Die
Grenze zieht hier das parlamentarisch beschlossene Strafgesetz insbesondere in den Vorschriften, die den Schutz vor
persönlicher Beleidigung (§§ 185ff StGB) und herabwürdigenden Äußerungen gegenüber ganzen Gruppen (Volksverhetzung
– § 130 StGB) zum Inhalt haben. In welchen Fällen und in welcher Weise diese Grenzen gezogen werden, das obliegt
dem selbst wieder der öffentlichen Kontrolle unterworfenen Strafprozess. Denn wer wollte entscheiden, welche
Meinung jenseits ihrer strafrechtlichen Missbilligung richtig oder falsch ist, welche in den gesellschaftlichen und
politischen Mainstream fällt, welche radikal oder extrem, welche nützlich ist? Diese Entscheidung könnte nur die
Mehrheit treffen, und das wäre eine Beeinträchtigung der Minderheit.
Die Demokratie beruht nicht zuletzt darauf, dass eine Mehrheit zur Minderheit, eine Minderheit zur Mehrheit werden
kann. Deshalb genießen gerade Minderheiten einen besonderen grundrechtlichen Schutz. Dieses demokratische System
kann nur solange funktionieren, wie diese Minderheiten – auch radikale – uneingeschränkt ihre Meinung vertreten
können. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf man auch – ohne verfassungswidrig zu sein oder
als verfassungsfeindlich zu gelten – Grundrechte abschaffen oder einschränken wollen, solange dies auf
verfassungskonformem Weg in den verfassungsrechtlichen Grenzen geschieht, ja selbst weiteste Teile des
Grundgesetzes, mit Ausnahme des durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 79 Abs. 3 geschützten rudimentären
Kernbestandes, darf man ersetzen wollen durch eine neue Verfassung. In seiner Entscheidung vom 24. Mai 2005 (5) hat