Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! (Memorandum)
aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 51-75
Die Geschichte des Verfassungsschutzes ist eine Geschichte der Rechtsbrüche, des Machtmissbrauchs, der
demokratischen Zumutungen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie gerät über den ständigen (Terror-) Warnungen immer
wieder in Vergessenheit. Um daran zu erinnern, hat die Humanistische Union zusammen mit anderen
Bürgerrechtsorganisationen ein Memorandum zum Verfassungsschutz (VS) verfasst. Es zeigt, wie überflüssig der VS
ist. Weder kann noch soll er seine zentrale Aufgabe als Frühwarnsystem wahrnehmen, sie ist mit dem demokratischem
Verständnis einer offenen Gesellschaft unvereinbar. Für seine weiteren Aufgaben erweisen sich anderen Institutionen
als viel effektiver. Die öffentliche Kontrolle eines im Verborgenen agierenden Geheimdienstes schließlich ist ein
Ding der Unmöglichkeit. Daher gibt es nur eine Alternative: der Verfassungsschutz gehört ersatzlos abgeschafft. Wir
dokumentieren hier Auszüge aus dem Memorandum, das als separater Sonderdruck (s. Anzeige auf S. 53) erhältlich ist.
Thesen
1. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Meinungsvielfalt. Radikale Auffassungen und Bestrebungen (die von
den vorherrschenden Meinungsbildern abweichen) sind deshalb nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswert –
solange die Grenzen zur Strafbarkeit bzw. zu gewalttätigem Handeln nicht überschritten werden. Staatliche Behörden
dürfen derartige Äußerungen weder als verfassungsfeindliche oder extremistische Bestrebungen abqualifizieren,
beobachten oder gar verfolgen. Wir brauchen kein staatliches Frühwarnsystem zur Beobachtung derartiger
Auffassungen und Bestrebungen.
2. Geheimdienstlicher Verfassungsschutz ist schädlich, wie auch die zahlreichen Verfehlungen und Skandale in der
Geschichte der Bundesrepublik zeigen. Es handelt sich dabei nicht um zufällige, persönliche oder vermeidbare
Fehler, sondern systematisch bedingte Mängel eines behördlichen und geheimdienstlichen Verfassungsschutzes.
3. Die gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden sind überflüssig. Bei ihrem Wegfall entsteht keine
Sicherheitslücke. Eine Aufgaben- und Befugnisüberleitung von den Verfassungsschutzbehörden auf die Polizei ist
daher nicht erforderlich. Der Schutz vor Gewalt und Straftaten obliegt der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den
Gerichten.
4. Eine Kontrolle geheim arbeitender Verfassungsschutzbehörden, die rechtsstaatlichen und demokratischen Ansprüchen
genügt, ist nicht möglich. Auch Kontrollverbesserungen sind untauglich: ein transparenter, voll kontrollierbarer
Geheimdienst ist ein Widerspruch in sich.
5. Die Verfassungsschutzbehörden sind ersatzlos abzuschaffen allein schon deshalb, um nicht in Zeiten knapper
Kassen und in Beachtung der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse jährlich eine halbe Milliarde Euro für
überflüssige, ja schädliche Behörden auszugeben. Es bedarf auch keiner ersatzweisen, mit offenen Quellen
arbeitenden staatlichen Informations- und Dokumentationsstelle über extremistische Bestrebungen. Das Problem
besteht nicht in einem mangelnden Wissen über radikale, bisweilen auch menschenverachtende Meinungen und Haltungen
in unserer Gesellschaft. Die Auseinandersetzung darüber muss mit politischen, demokratischen Mitteln geführt
werden; sie ist innerhalb der Gesellschaft zu führen.
Einleitende Bemerkungen zum Verfassungsschutz
Was seit November 2011 über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und die von ihm begangenen Morde bekannt
geworden ist, brachte das Vertrauen von Politik und öffentlicher Meinung in die Arbeit der deutschen
Sicherheitsbehörden ins Wanken zumindest für einen kurzen Augenblick. So unfassbar waren die Pannen und Fehler,
die Ignoranz und ideologischen Scheuklappen von Polizei, Verfassungsschutz und anderer Geheimdienste, dass die
Chance für einen kompletten Neuanfang realistisch schien. Selbst in Zeitungen, die revolutionärer Neigungen
unverdächtig sind erschienen Beiträge, die das Ende der Verfassungsschutzbehörden verkündeten oder jedenfalls für
erwägenswert hielten.
Diese Umbruchstimmung hielt jedoch nur kurze Zeit an. Während sich der vom Bundestag eingesetzte
Untersuchungsausschuss (1) noch um die Aufklärung und Analyse der Versäumnisse bemühte (sein Abschlussbericht wird
für Juni 2013 erwartet), begann die Politik bereits mit dem von ihr verkündeten Neustart. Er beschränkt sich beim
überwiegenden Teil der politischen Parteien (2) jedoch auf einen bloßen Pannendienst.
Die eine oder andere vorgeschlagene Maßnahme mag gut gemeint sein. Alle Reformvorschläge werden jedoch nicht dem
Problem gerecht, das geheim arbeitende Behörden für ein demokratisches und rechtsstaatliches Gemeinwesen aufwerfen;
ja sie verstärken wie im Falle weiterer Zentralisierung noch deren fatale Wirkungsweise.
Vielmehr muss endlich von Grund auf die Frage gestellt werden, ob die Konzeption staatlicher Sicherheitswahrnehmung
(3) überhaupt noch stimmt, sofern sie überhaupt jemals gestimmt hat: Sind die bestehenden staatlichen Einrichtungen
zur Sicherheitsvorsorge und Gefahrenabwehr alle erforderlich? Vor allem aber: Sind sie auch einer Gesellschaft
angemessen, die sich in ihrer Verfassung zu den unveräußerlichen Grundrechten und Grundfreiheiten ihrer Bürgerinnen
und Bürger bekennt?
Staatliche Sicherheitspolitik hat die grundrechtlich zuerkannten Freiheitsrechte zu achten und schützen. Dazu
gehören namentlich die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit als Recht auf die kollektive Geltendmachung
von Grundrechten. Die Grenzen der Grundrechtsausübung ergeben sich aus der Verfassung, genauer: aus den Artikeln 18
und 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, und aus den kollidierenden Grundrechten Dritter, der Menschenwürde, der
körperlichen Integrität, und nicht zuletzt aus dem Strafrecht, das diese Grenzen nachzeichnet.
Solange und soweit sich die Ausübung von Grundrechten, insbesondere die Meinungs(äußerungs)freiheit innerhalb der
genannten Grenzen bewegt, kann es nicht staatliche Aufgabe sein, die Bürgerinnen und Bürger zu beobachten, zu
registrieren, zu stigmatisieren, zu verfolgen, zu diskreditieren oder zu zensieren und auszugrenzen. Genau dies ist
aber unter Anwendung des ideologiebeladenen und daher missbrauchsgeneigten Kampfbegriffs der streitbaren
Demokratie seit langem der Fall; in zunehmendem Maße und mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach Maßgabe
wechselnder politischer Opportunität. Es sind vor allem die verschiedenen Geheimdienste, namentlich die 17
Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, die den politischen Diskurs der Bundesrepublik überwachen
nachzulesen in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten und ausweislich ihrer Skandalgeschichte.
Bedarf es vor diesem Hintergrund zur Sicherheitswahrnehmung nach innen neben der Polizei und speziellen
Gefahrenabwehrbehörden (z. B. Bauaufsicht, Brandschutz oder Lebensmittelsicherheit, Verkehrsbehörden) auch noch
geheimdienstlich arbeitender Verfassungsschutzbehörden?
Gesellschaftliche Vergesslichkeit als Bedingung des Weiterbestehens des Verfassungsschutzes
Der Rückblick in die bundesdeutsche Geschichte der Geheimdienste zeigt, dass eine Bedingung ihrer Fortexistenz im
Vergessen besteht, dem permanenten gesellschaftlichen Vergessen der vielen Skandale und Anmaßungen der
Geheimdienste. Dem wollen wir mit dieser Broschüre vorbeugen. Wir können heute nicht mehr darauf vertrauen, dass
die fortwährenden Skandale im Sicherheitsbereich unsere unter Mühen erreichten demokratischen Strukturen
unbeschadet lassen. Wir wollen, wie auch andere Akteure (4), das Bewusstsein dafür wach halten, wie fragwürdig die
Konstruktion eines staatlich administrativen Verfassungsschutzes ist, der selbst zu dem Problem geworden ist, das
er zu lösen vorgibt.
Unsere Schrift beschränkt sich auf die Ämter bzw. Behörden für Verfassungsschutz in Bund und Ländern. Unsere Kritik
und Sorge gilt in gleicher Weise den weiteren Geheimdiensten unseres Landes, namentlich dem Militärischen
Abschirmdienst, den abzuschaffen ja bereits in der etablierten Politik diskutiert wird, und dem
Bundesnachrichtendienst (BND), der als Auslandsgeheimdienst weitgehend rechtsfrei agiert.
Demokratie, wenn sie mehr sein will als eine periodische Schönwetter-Demokratie, muss sich gegen die Zumutungen
solcher Art autoritärer Zuteilung von bürgerlichen Freiheiten wehren. Es gibt sie, die alternativen Lösungen. Sie
liegen allein im lebendigen demokratischen gesellschaftlichen Diskurs, den es auszuhalten gilt.
1. Braucht die Demokratie ein politisches Frühwarnsystem gegen Extremisten?
Die Rechtfertigung für die Existenz von Verfassungsschutzbehörden wird häufig darin gesehen, dass diese eine
Frühwarnfunktion für den Staat hätten gegen Extremisten, gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen. So hat es
Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU) jüngst wieder im Bundesverfassungsschutzbericht 2011 ausgeführt,
der im Sommer 2012 vorgestellt wurde. Das Grundgesetz wolle eine wehrhafte Demokratie sein, wie sich in den
Artikeln 9, 18 und 21 zeige. Die Feinde der freiheitlichen demokratischen Grundordnung können demnach ihre
Grundrechte verwirken, ihre Vereine und Parteien können verboten werden. Da die Polizei nur bei drohenden Gefahren
und Straftaten einschreiten dürfe, benötige der Staat weit im Vorfeld ein Frühwarnsystem zur Beobachtung von
Extremismus und verfassungsfeindlichen Bestrebungen, um frühzeitig gewappnet zu sein und die freiheitliche
demokratische Grundordnung verteidigen zu können.
Was stimmt an dieser Argumentation?
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach den
Artikeln 5 und 8 des Grundgesetzes konstitutiv für die Demokratie, denn diese lebt vom Meinungskampf, sei es
politisch, sei es kulturell oder gesellschaftlich. Jede Meinung ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt.
Das beinhaltet auch die öffentliche, gemeinsame Kundgabe dieser Meinung nach Artikel 8 Grundgesetz
(Versammlungsfreiheit). Und die Meinungsfreiheit gilt auch für dumme, schändliche oder falsche Meinungen. Die
Grenze zieht hier das parlamentarisch beschlossene Strafgesetz insbesondere in den Vorschriften, die den Schutz vor
persönlicher Beleidigung (§§ 185ff StGB) und herabwürdigenden Äußerungen gegenüber ganzen Gruppen (Volksverhetzung
§ 130 StGB) zum Inhalt haben. In welchen Fällen und in welcher Weise diese Grenzen gezogen werden, das obliegt
dem selbst wieder der öffentlichen Kontrolle unterworfenen Strafprozess. Denn wer wollte entscheiden, welche
Meinung jenseits ihrer strafrechtlichen Missbilligung richtig oder falsch ist, welche in den gesellschaftlichen und
politischen Mainstream fällt, welche radikal oder extrem, welche nützlich ist? Diese Entscheidung könnte nur die
Mehrheit treffen, und das wäre eine Beeinträchtigung der Minderheit.
Die Demokratie beruht nicht zuletzt darauf, dass eine Mehrheit zur Minderheit, eine Minderheit zur Mehrheit werden
kann. Deshalb genießen gerade Minderheiten einen besonderen grundrechtlichen Schutz. Dieses demokratische System
kann nur solange funktionieren, wie diese Minderheiten auch radikale uneingeschränkt ihre Meinung vertreten
können. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf man auch ohne verfassungswidrig zu sein oder
als verfassungsfeindlich zu gelten Grundrechte abschaffen oder einschränken wollen, solange dies auf
verfassungskonformem Weg in den verfassungsrechtlichen Grenzen geschieht, ja selbst weiteste Teile des
Grundgesetzes, mit Ausnahme des durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 79 Abs. 3 geschützten rudimentären
Kernbestandes, darf man ersetzen wollen durch eine neue Verfassung. In seiner Entscheidung vom 24. Mai 2005 (5) hat
das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso
erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu
ändern (Ziffer 72). All dies ist zulässig. Es besteht kein Anlass, dass der Staat bzw. die Regierung(en) durch die
Verfassungsschutzbehörden zum Akteur im politischen Meinungskampf werden und gegen als misshellig empfundene
Auffassungen durch ein Frühwarnsystem vorgehen. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern Ergebnis der
demokratischen, verfassungsmäßig zustande gekommenen Mehrheit.
Das Bundesverfassungsgericht 2010: Extremismus ist ein politischer Kampfbegriff!
Und was heißt schon extremistisch als Ausdruck für verfassungswidrige oder verfassungsfeindliche Bewegungen oder
Organisationen, gegen die der Staat eines Frühwarnsystems zu seiner Verteidigung bedürfte? Zu Recht hat das
Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2010 (6) festgestellt, dass Extremismus nichts
anderes ist als ein politischer Kampfbegriff, der jeweils von der Mehrheit geprägt und interpretiert und gegen die
Minderheit verwendet wird. Es ist kein definierbarer und fassbarer Rechtsbegriff, an den staatliche Aufgaben oder
Befugnisse anknüpfen dürften.
Es fehlt dem Verbot der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts an bestimmten Konturen. Ob eine Position
als rechtsextremistisch möglicherweise in Abgrenzung zu rechtsradikal oder rechtsreaktionär einzustufen ist,
ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ihre
Beantwortung steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen
Kontexten und subjektiven Einschätzungen, die Abgrenzungen mit strafrechtlicher Bedeutung, welche in
rechtsstaatlicher Distanz aus sich heraus bestimmbar sind, nicht hinreichend erlauben. Die Verbreitung
rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ist damit kein hinreichend bestimmtes Kriterium,
mit dem einem Bürger die Verbreitung bestimmter Meinungen verboten werden kann.
Wenn extremistische Auffassungen weder strafbar sind noch verboten werden können, dann hat der Staat insoweit
auch nicht (und schon gar nicht durch Geheimdienste) irgend etwas zu beobachten und zu sammeln er dürfte ohnehin
keine Konsequenzen daraus ziehen. Es darf in einem demokratischen Staat nicht sein, dass die jeweilige Mehrheit,
sei sie parteilich oder sonst wie begründet, unter sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten
und subjektiven Einschätzungen bestimmen kann, was als extremistisch und damit verfassungswidrig oder
verfassungsfeindlich aus dem herrschenden Diskurs ausgeschlossen und gesellschaftlich sanktioniert wird.
Mit einem Frühwarnsystem hat dies nichts zu tun. Tatsächlich ist der Verfassungsschutz zu keinem Zeitpunkt ein
Frühwarnsystem gewesen. Über angeblich verfassungsfeindliche Bestrebungen haben immer zunächst die Wissenschaft
oder die Medien berichtet, und erst anschließend wurden derartige Bestrebungen zum Beobachtungsobjekt der
Verfassungsschutzbehörden.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Verfassungsschutzbehörden offensichtlich von Entwicklungen überrascht
wurden, die sie hätten erkennen sollen. Bereits im Jahr 2002 gab es um ein aktuelles Beispiel zu nennen
Hinweise auf den NSU in der NS-Postille Weißer Wolf. Dies fand weder damals noch später Aufmerksamkeit beim
Verfassungsschutz. Bis zu den ersten Medienberichten im Januar 2013 bemerkten die Verfassungsschutzbehörden auch
nichts von den Aktivitäten der Hammerskins, einer arischen Rassenbruderschaft im mecklenburgischen Grevesmühlen
von Frühwarnsystem keine Spur. Und im häufig kolportierten Fall der Sauerland-Bande kam der Hinweis auf die
Aktivitäten der islamistischen Dschihadisten nicht etwa vom Verfassungsschutz, sondern von einem ausländischen
Geheimdienst.
Anders ist es auch kaum vorstellbar: Soweit die Behörden für Verfassungsschutz öffentliche Quellen auswerten (ca.
90 % ihrer Erkenntnisse beruhen nach eigenen Angaben darauf), beziehen sie sich auf bereits vorhandene
Medienberichte oder wissenschaftliche Untersuchungen über solche Organisationen und Strukturen, die zuvor
veröffentlicht wurden. Die Verfassungsschutzbehörden sind somit zwangsläufig Nachläufer und nicht Vorläufer, also
auch kein Frühwarnsystem. Auch ihre nachrichtendienstlichen Mittel zur weiteren Informationsgewinnung können die
Verfassungsschutzbehörden erst dann einsetzen, wenn sie aufgrund öffentlicher Quellen einen Verdacht auf
möglicherweise verfassungsfeindliche Bestrebungen gefasst haben. Das wirkliche Frühwarnsystem sind also die
Öffentlichkeit, sind die Medien, die Wissenschaft, und wie im Fall neonazistischer Aktivitäten nicht zuletzt
zivilgesellschaftliche Gruppen und Projekte.
Darüber hinaus: Was soll denn Frühwarnsystem bedeuten? Einmal unterstellt, die Verfassungsschutzbehörden würden
eine angeblich verfassungsfeindliche Organisation aufspüren, beobachten und darüber berichten: Was sollte denn die
Bundes- (oder Landes-) Regierung aufgrund dieser Frühwarnung veranlassen? Gar nichts. Solange sich diese
Organisation rechtmäßig verhält, nicht zu Straf- und Gewalttaten aufruft, kann eine Regierung glücklicherweise!
auch gar nichts veranlassen. Bürgerinnen und Bürger oder Organisationen, die sich rechtstreu verhalten, gehen den
Staat nichts an. Er hat deshalb nichts zu veranlassen. Und dort, wo es um sicherheitsgefährdende oder strafbare
Handlungen geht, sind Polizei und Justiz zuständig.
Eines staatlichen Frühwarnsystems bedarf es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht.
2. Der Verfassungsschutz ist schädlich
Seit der Gründung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Jahre 1950 verging kaum ein Jahr, in dem die
Medien nicht über skandalträchtige Vorkommnisse bei dem Bundesamt oder einem der Landesämter (LfV) berichteten. Die
Anzahl der Fälle von Verfehlungen, Skandalen oder ungewöhnlichen Vorkommnissen, die von den Medien dokumentiert
wurden, ist gewaltig. Wir beschränken uns auf die Darstellung der Ereignisse und Entwicklungen, die uns in
besonderer Weise symptomatisch erscheinen.
Die Fluktuation in den Führungsetagen der Ämter und die strukturelle Gegenwärtigkeit der nationalsozialistischen
Vergangenheit
Den ersten großen politischen Skandal löste Otto John als erster Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
(BfV) aus. 1954 verschwand er unter bis heute ungeklärten Umständen und tauchte in Ostberlin wieder auf. Von dort
aus begründete er seinen Wechsel in die sowjetisch besetzte Zone mit dem Wiedererstarken der restaurativen Kräfte
in der Bundesrepublik, die einst den Nationalsozialismus an die Macht gebracht hätten. Vom Bundesgerichtshof wurde
er später wegen Landesverrates zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
1955 wurde Hubert Schrübbers zum neuen Leiter des BfV bestellt. Unter Schrübbers wurden viele hohe Positionen im
Bundesamt mit ehemaligen SS- und SD-Angehörigen besetzt. Bekannt wurde dies im Zusammenhang einer
Telefonabhöraffäre 1963. Zwei Mitarbeiter des BfV berichteten dem Spiegel über die ungezügelte Abhörwut des
Bundesamtes sowie über Differenzen zwischen Altnazis und Mitarbeitern ohne braune Vergangenheit innerhalb des
Bundesamts.
Die Ideologie und die Feindbilder dieses Personenkreises haben die Organisations- und Denkstruktur und damit die
politisch einseitig ausgerichtete Arbeit der Ämter des Inlandgeheimdienstes weitestgehend beeinflusst und wirken
bis heute nach. Der (Verfassungs-)Feind kommt vor allem von links.
Zu den weiteren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz bleibt festzustellen: Fast alle mussten auf Grund
von Skandalen, Versäumnissen, persönlichen Unzulänglichkeiten etc. vorzeitig zurücktreten oder wurden in den
vorzeitigen Ruhestand versetzt:
1975 Günter Nollau Entdeckung des DDR-Spions Günter Guillaume;
1983 Richard Meier Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung bei einem Verkehrsunfall;
1985 Heribert Hellenbroich wegen Hansjoachim Tiedge, Regierungsdirektor beim BfV, zuständig für die
Spionageabwehr, er setzte sich in die DDR ab;
1985-1987 Ludger-Holger Pfahls späterer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, 2005 verurteilt wegen
dortiger Vorteilnahme und Steuerhinterziehung, 2011 wegen Betruges und Bankrott; gehört nicht in diese Reihe
vorzeitig zurückgetretener Präsidenten, zeigt aber die dort anzutreffenden Dispositionen an;
1995 Eckart Werthebach Verdacht auf Geheimnisverrat; und zuletzt
2012 Heinz Fromm wegen der Aktenvernichtung im Zusammenhang mit den Morden des Nationalsozialistischen
Untergrunds (NSU).
Auch bei den Landesämtern sind immer wieder Rücktritte auf Grund von Skandalen zu verzeichnen. Bei fast allen
Rücktritten und Versetzungen übernahmen die Amts- und Abteilungsleiter der Verfassungsschutzbehörden die
Verantwortung für Fehler ihrer MitarbeiterInnen. Während sie die Behörde verließen, blieben die leitenden
Mitarbeiter, unter deren direkter Aufsicht die Fehler, Unzulänglichkeiten und skandalträchtigen Vorkommnisse
passierten, mit wenigen Ausnahmen weiter in ihren Ämtern.
Der deutsche Sonderweg: Berufsverbote
Die Ministerpräsidenten der Länder und der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) beschlossen am 28. Januar 1972
die obligatorische Überprüfung jedes Bewerbers und jeder Bewerberin um eine Beamtenstelle auf ihre
Verfassungstreue. Dieser Beschluss war weder ein Akt der Gesetzgebung, noch hatte er Gesetzeskraft. Es handelte
sich um eine einvernehmlich vereinbarte Anweisung der Ministerpräsidenten an die Behörden in Bund und Ländern. Die
Prüfung auf Zweifel an der Verfassungstreue der BewerberInnen wurde in die Hände des Verfassungsschutzes gelegt.
Deren Wirkungsbereich wurde damit stark erweitert. Zu ihren Aufgaben gehörte fortan das umfassende Sammeln von
Informationen jeglicher Art über die politische Betätigung eines großen Teils der Bevölkerung. Die
Informationsbeschaffung erfolgte auch mit Hilfe nachrichtendienstlicher Mittel und beschränkte sich nicht nur auf
die Mitgliedschaft in verdächtigen politischen Parteien, sondern reichte von Unterschriften unter Offene Briefe,
das Verteilen von Flugblättern, die Teilnahme an und Anmeldung von Demonstrationen bis hin zur Auflistung von
Artikeln und Büchern mit vermeintlich verfassungsfeindlichem Inhalt. Alles wurde gesammelt und ausgespäht. (7) Die
Verfassungsschutzbehörden wurden zur inoffiziellen Einstellungsbehörde, von ihnen zusammengestellte Informationen
galten als ausreichende Belege, um Bewerber z. B. für eine Lehramtsstelle abzulehnen, weil an ihrer
Verfassungstreue angebliche Zweifel bestünden. Dabei schaute der Dienst fast ausnahmslos nach links.
Mehr als drei Millionen KandidatInnen wurden in den 1970er und 1980er Jahren vom Verfassungsschutz auf ihre
Verfassungstreue überprüft, gegen 11 000 wurde ein Verfahren eingeleitet. 1 250 Bewerber wurden abgelehnt und 265
Beamte aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Etwa zwei Drittel der Betroffenen wurde die Mitgliedschaft in der DKP
angelastet, einer zugelassenen und außerdem politisch bedeutungslosen Partei. (8)
1995 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Berufsverbotspraxis als Verstoß gegen
die Europäische Menschenrechtskonvention. Auch 40 Jahre nach dem Radikalenerlass warten manche Betroffene bisher
vergeblich auf eine Rehabilitation und Wiedergutmachung.
Informationen, die Basis geheimdienstlicher Arbeit.
Von der Datensammelwut der Verfassungsschützer
Auch der Verfassungsschutz muss sich, was die Speicherung von Daten anbelangt, der Kontrolle der
Datenschutzbeauftragten unterwerfen. Die Datenschützer dürfen über die Ergebnisse ihrer Kontrollen jedoch nicht
berichten, weder gegenüber der Öffentlichkeit (in ihren Tätigkeitsberichten) noch gegenüber den von der Speicherung
Betroffenen sofern die Ämter dies nicht wollen. Und die wollen oft nicht. Auf diesem Wege werden die
Datenschutzbeauftragten, deren Kontrolle die Datenverarbeitung eigentlich transparent und nachvollziehbar machen
soll, selbst Teil des Geheimnisschleiers der Ämter. Das zeigt beispielhaft der 1985 verfasste Prüfbericht des
Bundesbeauftragten für Datenschutz über die Abteilung Linksextremismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete in seiner Ausgabe vom 17. Juni 1985 über diesen geheimen Bericht, der ihm
in Teilen zugänglich gemacht worden war. Demnach hatte der Bundesdatenschutzbeauftragte Baumann 241 Fälle von
unzulässiger Datenspeicherung gerügt und deren Löschung gefordert. Der zuständige Bundesinnenminister Zimmermann
akzeptierte nur die Hälfte dieser Rügen; und auch nur deshalb, weil der Prüfbericht in die öffentliche und
parlamentarische Diskussion geraten war. Die Überwachungspraxis des Verfassungsschutzes ging weiter.
Der Datenschutz-Prüfbericht von 1985 bot einen Einblick in den Datenhunger der Verfassungsschützer: Demnach wurden
nicht nur Akten angelegt über Mandats- oder Funktionsträger angeblich verfassungsfeindlicher Parteien, sondern auch
über einfache Mitglieder. Gespeichert wurden Bürger, wenn sie einen Aufruf zur Abrüstung unterzeichneten, an
Veranstaltungen linker Organisationen teilnahmen, als Demonstranten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung
wahrnahmen. Ebenso wurden Autokennzeichen von Fahrzeugen erfasst, die in der Nähe von politisch anrüchigen
Veranstaltungen parkten.
Da es der Linksextremistischen Szene an festen Organisationsstrukturen fehle, rechtfertigte der Innenminister die
Observation auch unverdächtiger Bürger damit, es sei nicht [zu] verantworten, auf die Speicherung von
Einzelpersonen zu verzichten, weil sie keiner bekannten extremistischen Organisation zugeordnet werden können.
Informationen über Formen, Inhalte, Ziele und Erfolge extremistischer Aktivitäten gegen demokratische
Organisationen könnten nur gewonnen werden, wenn den Verfassungsschutzbehörden auch Unterlagen über demokratische
Zielobjekte von Extremisten vorliegen. (9)
Diese Reihe ungezügelter Datensammlungen kann bis heute weiter geführt werden. In Gorleben sind es die
Bürgerinitiativen gegen das Atommüllendlager und die Demonstranten gegen die Atommülltransporte; (10) in Berlin war
es das Sozialforum, das vom Verfassungsschutz ausgeforscht wurde. (11) Im Januar 2012 meldete Spiegel-online, dass
27 Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke vom Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht würden. Beim
Bundesamt seien allein dafür sieben Mitarbeiter beschäftigt, die Kosten betragen ca. 390 000 Euro jährlich. Für die
NPD sind im Amt 10 Stellen eingeplant, bei Kosten von ca. 590 000 Euro.
V-Leute
[D]er V-Mann ist ein geheimer, der jeweiligen Behörde nicht angehörender (freier) Mitarbeiter der
Nachrichtendienste, der auf längere Zeit gegen Bezahlung mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeitet und in der
Regel wegen seiner Zugehörigkeit aus einem Beobachtungsobjekt geheim berichten kann, so die euphemistische
Definition aus der Sicht der Dienste. (12)
V-Leute sind notwendiger Weise aktive Unterstützer jener extremistischen Gruppierungen, die der Verfassungsschutz
für extremistisch hält und überwachen will. Es handelt sich dabei oft um zwielichtigen Personen, häufig auch mit
kriminellem Vorleben. Deren Informationen werden mit Geld erkauft. Trotz aller Skandale wollen die
Verfassungsschutzämter auf diese V-Leute nicht verzichten, weil sie befürchten, sonst von Informationen aus den
rechts- oder linksextremistischen Gruppen abgeschnitten zu sein. Der Schaden für unser Gemeinwesen, den der
Einsatz von V-Leuten mit sich gebracht hat, lässt die Ämter ungerührt. Erinnert sei nur an das 2003 wegen
fehlender rechtsstaatlicher Mindestanforderungen gescheiterte NPD-Verbotsverfahren. Damals nahmen zu viele V-
Leute des Verfassungsschutzes Führungspositionen in der Partei ein, weshalb für das Bundesverfassungsgericht
nicht mehr zu unterscheiden war, welcher Politik-Anteil in diesen Gruppen auf Initiative der staatlichen bezahlten
Zuträger zurückzuführen war. (13)
Das ganze Ausmaß der Unterwanderung der NPD seit 1970 dokumentieren und beschreiben erstmals Ute Scheub und
Wolfgang Becker in ihrem Aufsatz Verfassungsschutz in der Neonazi-Szene. (14) Noch ausführlicher schildert Rolf
Gössner die für einen demokratischen Rechtsstaat problematische Situation in seinem Buch Geheime Informationen.
V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates. (15)
Gemessen an der heutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wäre das KPD-Verbot vom 17. August 1956
höchst wahrscheinlich gescheitert. Schon damals hatte der Verfassungsschutz in allen relevanten Führungsebenen
der kommunistischen Partei seine Informanten. (16)
Wir verzichten auf eine Auflistung der Vielzahl bekannt gewordener Fälle vom skandalträchtigen Wirken von V-Leuten.
Eine ausführliche Darstellung der Aktivitäten von V-Leuten im Umfeld des NSU erwarten wir von den verschiedenen
parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Wir haben jedoch schlimmste Befürchtungen, wenn wir berücksichtigen,
was bisher schon möglich war.
Zwei der eklatantesten Fälle aus den 1970er Jahren müssen hier erwähnt werden: das Celler Loch und der Skandal um
den Mord an dem V-Mann Ulrich Schmücker. Diese beiden Fälle sind ein schrecklicher Beleg dafür, dass Mitarbeiter
des Verfassungsschutzes bereit sind, Gesetze zu brechen, Straftaten zu vertuschen und letztlich auch die Justiz
zu behindern, wenn es nur den geheimdienstlichen Zielen dient.
Einsicht: Fehlanzeige
Um uns ein umfassendes Bild über die Verfehlungen und Skandale des Inlandsgeheimdienstes zu machen, haben wir u. a.
in den Archiven der Tageszeitung, des Tagesspiegels und des Spiegel sowie der Zeitschrift Bürgerrechte und
Polizei CILIP recherchiert. Das Gesamtbild ist erschreckend, nicht nur wegen der Anzahl der Fälle, sondern auch
wegen der immer wiederkehrenden Muster. Man kann nicht mehr von Einzelfällen sprechen, die durch bessere Kontrolle
oder Änderungen der Organisationsstrukturen zu verhindern wären. Es ist das System des geheimen administrativen
Verfassungsschutzes selbst, das ursächlich für die Vielzahl der Skandale ist. Dieses System nützt dem
demokratischen Rechtsstaat keinesfalls, sondern schadet ihm nur.
Nach dem Sichten des umfangreichen Pressematerials zu den Aktivitäten von V-Leuten des Verfassungsschutzes seit
den 1960er Jahren müssen wir feststellen, dass das Agieren der V-Leute im Umfeld des NSU seit 2001 sich in nichts
unterscheidet vom Agieren der V-Leute in den Jahrzehnten davor. Es gab Waffenhandel, Beschaffung von Sprengstoff,
Teilnahme an kriminellen Handlungen, von Raub, über Körperverletzung, Brandstiftung bis hin zu Totschlag. Alle V-
Leute haben für die Beschaffung bzw. den Verkauf von Informationen Geld, ja sehr viel Geld bekommen; für
Informationen, die auf ihre Stichhaltigkeit nicht hinreichend überprüft werden konnten, und gelegentlich auch frei
erfunden waren.
Unser Entsetzen nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie sollte sich nicht nur darauf beziehen, wie kaltblütig
diese Morde ausgeführt wurden, sondern auch auf das langjährige, schon früher erkennbare Versagen des
Verfassungsschutzes als Frühwarneinrichtung. Seit der Wiedervereinigung 1989 gab es (jenseits der NSU-Mordopfer)
150 Todesopfer rechter Gewalt. (17) Auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag über die Zahl der
Todesopfer rechter Gewalt nannte die Bundesregierung 2009 jedoch nur 48 Fälle; mehr waren von den
Landeskriminalämtern in der entsprechenden Statistik nicht erfasst. Selbst als die Bundestagsvizepräsidentin Petra
Pau mit ihrer Fraktion in einer großen Anfrage im Jahr 2011, noch vor Bekanntwerden der NSU-Morde, die 90 fehlenden
Fälle detailliert aufführte und die Täterschaft von Rechtsradikalen und Neonazis belegte, blieb die Bundesregierung
bei ihrer Antwort aus dem Jahre 2009, dass sich an der Zahl von 48 nichts ändere. (18)
Wir müssen konstatieren: Die Regierungen, die Ämter für Verfassungsschutz, aber auch die Polizei haben das
Problem der mörderischen rechten Gewalt nicht ernst genommen. Der Verfassungsschutz, der sich selbst als
Frühwarnsystem vor extremistischer Gewalt versteht, der über umfassende Datensammlungen verfügt, hat auf ganzer
Linie versagt. Durch sein Nichtwissen, das auf vorurteilsbehaftete und fehlende Analysefähigkeit zurückzuführen
ist, hat der Verfassungsschutz seine ohnehin schon ramponierte Legitimation restlos verloren und damit den Beweis
seiner Überflüssigkeit erbracht.
3. Der Verfassungsschutz ist entbehrlich
Unverzichtbar, wie der Bundesinnenminister die Verfassungsschutzbehörden qualifiziert, wären sie nur dann, wenn
ihre Erkenntnisse erforderlich wären für staatliche Reaktionen, wenn bei einem Wegfall der
Verfassungsschutzbehörden und ihrer Aufgaben staatliche Sicherheitslücken entstünden. Untersucht man jedoch die
gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden, so zeigt sich bei kritischer Durchsicht, dass befürchtete
Sicherheitslücken bei ihrem Wegfall nicht entstehen. Recht verstandener Verfassungsschutz wird durch
Gesetzesanwendung ausgeübt, im Falle der Sicherheitsbehörden insbes. der Polizeigesetze und der Strafprozessordnung
unter Beachtung der Verfassung, ihrer Grundrechte und des Strafgesetzbuches. Doppelzuständigkeiten, wie sie der
Verfassungsschutz für sich reklamiert, sind nicht nur überflüssig, sondern auch ein Kennzeichen autoritärer und
diktatorischer Staatssysteme. Sie widersprechen den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats.
Doppelzuständigkeiten führen wie bei den NSU-Vorgängen zu besichtigen zu gegenseitiger Behinderung statt
Aufklärung.
Soweit der Verfassungsschutz nach den heutigen Gesetzen Aufgaben wahrnimmt, für die nicht schon andere
Sicherheitsbehörden zuständig sind (namentlich die selbstreferentielle Frühwarnfunktion), sind diese für die
Existenz unseres Gemeinwesens und seine demokratische Verfasstheit überflüssig. Das zeigt eine Analyse der
gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes im Detail.
Aufgabenanalyse im Detail
Vorab: Der Schutz der Verfassung wird im Grundgesetz erwähnt (Artikel 87 Grundgesetz). Keineswegs verlangt das
Grundgesetz jedoch, Behörden (und schon gar nicht geheim arbeitende) mit dem Schutz der Verfassung zu beauftragen.
Nach Art. 87 GG können Zentralstellen zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes
eingerichtet werden. Nach Art. 73 Abs. 1 Ziff. 10 GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für
Fragen der Zusammenarbeit des Bundes und der Länder im Bereich des Schutzes der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung. Dies bedeutet nicht, dass es Verfassungsschutzbehörden geben müsste, es kann sie geben. Ob
Verfassungsschutzbehörden eingerichtet werden, ist eine politisch zu entscheidende Frage. Die Abschaffung der
Verfassungsschutzbehörden ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. Die Hauptaufgabe des Verfassungsschutzes
Hauptaufgabe und in der Ära des Kalten Krieges bis zur Novelle des Verfassungsschutzgesetzes vom 7. August 1972
einzige Aufgabe des Verfassungsschutzes ist
die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften,
Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand
oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der
Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben. (§ 3 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 BVerfSchG)
Gemäß § 4 Abs. 2 zählen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes
a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der
Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner,
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und
der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
c) das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,
d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,
e) die Unabhängigkeit der Gerichte,
f) der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und
g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.
Die zitierten Aufgabenbeschreibungen und Definitionen suggerieren, das alles sei verfassungsrechtlich begründet.
Sie erfordern jedoch eine Einordnung in den Kontext der politischen Gravitätsfelder unserer Republik und sind ohne
eine solche Einordnung nicht zureichend zu begreifen. Diese Definitionen sind namentlich die freiheitlich
demokratischen Grundordnung (fdGO) wörtlich übernommen aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum
Verbot der KPD (1956), und dem vorangegangenen Verbot der rechtsextremen SRP (1952). Den in diesen beiden
Entscheidungen entwickelten Kanon zur fdGO erneuerte das Bundesverfassungsgericht in seiner grundlegenden
Berufsverbote-Entscheidung vom 22. Mai 1975. (19) Dabei deutete das Gericht die Kriterien der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung derart um, dass sie nun ein individualrechtliches Pflichtenkorsett darstellten, dem
sich jede/r einzelne Bürgerin oder Bürger zu unterwerfen habe. Die Berufsverbote-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts geriet so zur Sternstunde des administrativen Verfassungsschutzes: Aus einem
Kriterienkatalog zur Bekämpfung von zumindest als gesellschaftlich bedeutend angesehenen und organisatorisch-
parteilich gebündelten Bestrebungen (insbes. der KPD) wurde eine verfassungsschützerische Kampfansage an jeden
Bürger und jede Bürgerin jenseits von Parteizugehörigkeiten und konkretem Tun. Mit dem Verlust des einfachen
orthodox kommunistisch verorteten Feindbildes wurde die gesamte Gesellschaft zum Beobachtungsfeld, und jeder
Bürger und jede Bürgerin zum möglichen Verletzer der freiheitlichen demokratischen Grundordnung insgesamt oder
auch nur deren einzelner Gebote. (20)
Gemessen an der heutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mit ihrer Vorsicht gegenüber Begriffen wie
verfassungsfeindlich und extremistisch (21) ist die Übernahme des Pflichtenkanons der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung für die verfassungsschützerische Beobachtung individuellen Denkens und Handelns ein
verfassungsrechtlicher Aberwitz; sie stellt den Grundrechtekatalog der Verfassung auf den Kopf. Denn wozu muss eine
staatliche Behörde derartige angeblich verfassungsfeindliche Bestrebungen beobachten und überwachen und Nachrichten
über sie sammeln? Die geistige Auseinandersetzung auch über radikale Thesen gehört zum Grundbestand unserer
Verfassung und schadet Niemandem, zu allerletzt der Verfassung. (22) Es ist schlicht überflüssig, Gruppierungen,
die Derartiges in Hinterzimmern diskutieren, mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten und zu belauschen,
die Sammlungen auszuwerten und im Verfassungsschutzbericht mit der Wirkung von Verrufserklärungen (23) zu
veröffentlichen.
Geht eine Gruppierung mit möglicherweise gegen die Verfassung gerichteten Vorstellungen in die Öffentlichkeit, um
Anhänger zu gewinnen, um Meinungsmacht zu erringen, um politische Mandate oder Mehrheiten zu erkämpfen so braucht
man ebenfalls keinen im Geheimen mit nachrichtendienstlichen Mitteln operierenden Verfassungsschutz. Jeder sieht
und hört ja die vertretenen Auffassungen Bürger, Medien und Politiker. Eine Beobachtung durch einen
nachrichtendienstlichen Spitzeldienst ist nicht erforderlich. Im übrigen dürfte und könnte ein Verfassungsschutz
solchen Meinungskampf auch nicht verhindern. Das ist nicht seine Aufgabe und hierzu hat er keine Befugnis.
Öffentlicher Meinungskampf und Willensbildungsprozess brauchen weder vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden
noch dürfen sie es. Sollte diese Gruppierung im öffentlichen Meinungskampf zur Mehrheit werden, so ist dies zum
einen nach den Grundsätzen der Demokratie hinzunehmen, zum zweiten von keiner Behörde zu verhindern, sondern nur
von den demokratisch bewussten und engagierten Bürgern, die eine solche Mehrheit nicht zustande kommen lassen.
Exkurs: Der Fehlglaube, die Verfassungsschutzbehörden könnten politische Entwicklungen verhindern
Es wäre abenteuerlich zu glauben, eine Verfassungsschutzbehörde könnte politische Entwicklungen verhindern oder
eine Regierung könnte dies, aufgeweckt von den Verfassungsschutzbehörden als angeblichem Frühwarnsystem.
Schließlich hat selbst die Staatssicherheit der DDR mit ihren 100 000 hauptamtlichen Mitarbeitern es nicht
vermocht, den Bestand der DDR und ihre Verfassung gegen die oppositionellen Kräfte zu schützen.
Wird schließlich eine radikale oder extremistische Gruppierung zur verfassungsfeindlichen Bestrebung im Sinne
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (indem sie Gewalt anwendet und aktiv kämpferisch tätig wird), so
begibt sie sich in den Bereich des Strafrechts. Dann sind die Strafverfolgungsbehörden, also Staatsanwaltschaft und
Polizei, dafür zuständig, ihrem Tun Einhalt zu gebieten.
Die häufig geäußerte Befürchtung, polizeiliche und strafrechtliche Sanktionen kämen erst hinterher, nach dem
Eintritt schädigender Handlungen zum Wirken, stimmt so nicht. Das Strafrecht hat sich in den letzten Jahrzehnten
wie wir meinen bedenklich weit in das Vorfeld vor der eigentlichen Begehung von Straftaten ausgebreitet. Heute
ist bereits der Aufruf zu Straftaten (§ 111 StGB) als solcher schon strafbar, ebenso wie lediglich die
Mitgliedschaft in einer kriminellen (§ 129 StGB) oder terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB), ohne dass dem
Mitglied eine konkrete Straftat nachgewiesen werden müsste. Auch etwa die Volksverhetzung (§ 130 StGB), die
Anleitung zu Straftaten (§ 130a StGB) oder die Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) sind strafbar, die Verwendung
nationalsozialistischer Kennzeichen sowieso. Daneben gibt das Polizeirecht der Polizei auch außerhalb des
Strafrechts die Befugnis zur Abwehr nicht nur bereits eingetretener, sondern schon bevorstehender, drohender
Gefahren. Durch den Fortfall des Verfassungsschutzes entsteht keine Sicherheitslücke.
In Bezug auf die Hauptaufgabe der Verfassungsschutzbehörden (Schutz vor Bestrebungen gegen die freiheitliche
demokratische Grundordnung) besteht also keine Notwendigkeit, einen Geheimdienst einzuschalten: Weder im Bereich
der nicht-öffentlichen Meinungsbildung (wo überhaupt nur nachrichtendienstliche Mittel wie etwa Spitzel, Wanzen und
dergleichen eingesetzt werden können), noch im öffentlichen Meinungskampf, noch bei Gewalttätigkeit und Straftaten,
deren Verhinderung oder Ahndung ohnehin nicht zu den gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes gehören.
2. Spionage und Wirtschaftsspionage: Nichts für den Verfassungsschutz
Nach dem Gesetz (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BVerfSchG) obliegt den Verfassungsschutzbehörden darüber hinaus die
Beobachtung sicherheitsgefährdender oder geheimdienstlicher Tätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes für eine
fremde Macht.
Gerade in diesem Bereich ist die Überflüssigkeit des Verfassungsschutzes und seiner Tätigkeit ganz besonders
offensichtlich. Spionage ist eine Straftat, ihre Verfolgung obliegt den Strafverfolgungsbehörden. Was soll da die
Doppelzuständigkeit einer weiteren Behörde?
In Zeiten der wohl stärksten Spionagetätigkeit fremder Mächte, in der Zeit des Kalten Krieges, gab es diese
Aufgabe des Verfassungsschutzes nicht. Die Spionageabwehr und -verfolgung oblag damals allein der Polizei. Es ist
nicht ersichtlich, dass in jener Zeit unser Gemeinwesen ohne den Schutz der Verfassungsschutzbehörden gefährdeter
gewesen wäre als heute.
Darüber hinaus darf bezweifelt werden, inwieweit überhaupt eine staatliche Spionageabwehrbehörde erforderlich ist.
Nennenswerte Aufklärungserfolge konnte die Spionageabwehr bisher nicht vorweisen. Sie gelangen erst nach 1990, als
die bundesdeutschen Behörden Erkenntnisse aus Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes gewannen und Stasi-
Mitarbeiter sich den westdeutschen Behörden offenbarten.
Soweit die Wirtschaftsspionage betroffen ist, gibt es etwa den Straftatbestand des § 17 UWG und damit ebenfalls die
Kompetenz der Strafverfolgungsorgane. Auch Bestechung, die im Bereich der Wirtschaftsspionage häufig vorkommt, ist
nach § 299 StGB strafbar. Außerdem muss sich jedes Unternehmen selbst gegen das Ausspähen seiner Geheimnisse
schützen, denn das droht ja nicht nur aus dem Ausland. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, weshalb das Ausspionieren
von Siemens durch Nixdorf die staatliche Spionageabwehr nichts angehen soll, wohl aber das Ausspionieren von
Siemens durch russische oder chinesische Staatskonzerne. Der Schutz geschäftlicher und betrieblicher Geheimnisse
ist Aufgabe der Unternehmen selbst, nicht aber einer staatlichen Spionageabwehr.
Schließlich ist der Umfang der Spionageabwehr so gering, dass selbst ihr totaler Wegfall keine nennenswerten
Einbußen an Sicherheit mit sich bringen würde. Laut Verfassungsschutzbericht 2011 (Bund, Seite 414), leitete der
Generalbundesanwalt in diesem Jahr ganze 14 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts geheimdienstlicher
Agententätigkeit bzw. wegen Landesverrats ein, 9 Angeklagte wurden verurteilt. Selbst wenn man einmal offen lässt,
inwieweit an diesen Verfahren überhaupt Erkenntnisse des Verfassungsschutzes beteiligt waren, zeigt sich doch,
dass es sich um eine geringe Sicherheitsgefährdung handelt, die es keineswegs rechtfertigt, dass neben den Landes-
und Bundespolizeien und Staatsanwaltschaften gleichzeitig noch 17 Verfassungsschutzbehörden damit befasst sind. Die
Spionageabwehr ist wie bis 1972 bereits praktiziert bei den Strafverfolgungsbehörden gut aufgehoben.
3. Völkerverständigung: Kein Mittel zur Verbesserung eines ramponierten Ansehens
Weiterhin soll der Verfassungsschutz Informationen sammeln und auswerten über Bestrebungen, die durch Anwendung
von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland
gefährden bzw. solche, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche
Zusammenleben der Völker (Verbot und Strafbarkeit des Angriffskrieges nach Art. 26 GG) gerichtet sind (§ 3 Abs. 1
Satz 1 Ziff. 3 und 4 BVerfSchG).
Auch hier gilt: Sowohl die Anwendung von Gewalt wie auch die Vorbereitung eines Angriffskrieges sind strafbar;
selbst die Mitgliedschaft in einer ausländischen (nicht nur deutschen) kriminellen oder terroristischen Vereinigung
ist nach § 129b StGB in Deutschland strafbar. Folglich ist die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden gegeben.
Soweit andere, von den Strafgesetzen nicht verbotene Bestrebungen die auswärtigen Belange der Bundesrepublik
Deutschland gefährden sollten (welch schwammige Begrifflichkeit!), können sie ohnehin nicht unterbunden oder
verboten werden, weder vom Verfassungsschutz noch von der Regierung.
4. Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen
Nach § 3 Abs. 2 BVerfSchG wirken die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder mit bei der
Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen oder
Dokumente zugänglich sind, sowie bei solchen Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens- oder
verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder werden sollen, und schließlich bei technischen
Sicherheitsmaßnahmen.
Auch diese Aufgaben wurden bis zum Jahr 1972 nicht von den Verfassungsschutzbehörden wahrgenommen, sondern von den
Einrichtungen, die solche Überprüfungen für nötig befanden nämlich beim jeweiligen Arbeitgeber, sei es im
öffentlichen Dienst, sei es in der Privatwirtschaft. Und genau dort gehören sie auch hin. Selbst heute ist das so,
wie der Verfassungsschutzbericht 2011 (Bund) selbst ausführt: Die Verantwortung für die Sicherheitsmaßnahmen liegt
bei den zuständigen Stellen. (S. 416). Jeder Arbeitgeber, ob öffentlich oder privat, kann und muss sich selbst
soweit erforderlich vor Geheimnisverrat schützen, kann über eigene Sicherheits- bzw. Geheimschutzbeauftragte die
betreffende Person befragen und den Sachverhalt ermitteln. Im Übrigen gehört etwa eine Beratung im Bereich von
technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Aufgabenbereich der Polizei und wird auch heute bereits durch die
Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt sichergestellt. Weiter ist in diesem Bereich tätig z. B. auch das
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik.
5. Organisierte Kriminalität, Mitwirkung bei Einbürgerungen und andere Versuche der Legitimierung von
Verfassungsschutzbehörden
Nach § 1 Abs. 2 BVerfSchG sind Bund und Länder verpflichtet, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes
zusammenzuarbeiten. Daher haben auch die 16 Bundesländer Verfassungsschutzbehörden eingerichtet, teilweise als
Bestandteil der Innenministerien, teilweise als selbständige Landesämter, deren Aufgaben und Befugnisse in
Landesverfassungsschutzgesetzen geregelt sind. Diese übernehmen ganz überwiegend, größtenteils wörtlich, die
Aufgaben nach dem Vorbild des BVerfSchG. Einige Länder allerdings weisen ihrem Verfassungsschutz zusätzliche
Aufgaben zu, nämlich den Schutz vor organisierter Kriminalität, die Mitwirkung bei der Einstellung in den
öffentlichen Dienst, die Überprüfung von Einbürgerungsbewerbern und von Ausländern sowie die Sammlung von
Informationen über fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR. Auch
in dieser Hinsicht ist die Erforderlichkeit einer Verfassungsschutzbehörde für diese Aufgaben zu überprüfen.
Die Landesregelungen zum Schutz vor Organisierter Kriminalität sind verfassungswidrig. Zur Definition der
Organisierten Kriminalität verweisen sie auf die Gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister der Länder
über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität. Die
Gesetzgebungsbefugnis für das Straf- und Strafprozessrecht liegt nach Artikel 74 Abs. 1 Ziff. 1 Grundgesetz beim
Bund. Den Ländern fehlt hinsichtlich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität die Zuständigkeit, sie wäre auch
überflüssig.
Gleiches gilt für die Mitwirkung des Verfassungsschutzes bei der Überprüfung von Einbürgerungsbewerbern oder von
Ausländern nach dem Ausländerrecht. Wie überflüssig dies ist zeigt sich schon daran, dass 13 von 16 Bundesländern
solche Überprüfungen für nicht erforderlich halten, ohne dass deshalb die Sicherheit in diesen Ländern geringer
wäre als in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen. Auch dürften sich bei der Überprüfung von Einbürgerungsbewerbern
oder Ausländern nach Maßgabe des Ausländerrechts die vorliegenden Erkenntnisse auf deren früheres Leben im
Ausland beziehen. Solche Erkenntnisse dürfte der Verfassungsschutz als reiner Inlandsgeheimdienst ohnehin nicht
beschaffen. Schließlich ist absolut fragwürdig, warum alle zugewanderten oder hier lebenden Menschen mit
Migrationshintergrund pauschal und präventiv auf angebliche Verfassungstreue oder Sicherheitsrisiken überprüft
werden, die 80 Millionen hier geborenen Deutschen jedoch nicht.
6. Ein neues Feld: Ausländerextremismus
Bleibt noch das Problem des Ausländerextremismus, ein von den Verfassungsschutzbehörden selbst geprägter Begriff.
Es ist sicher richtig, dass politische Konflikte in den Herkunftsländern sich auch auf die hier lebenden Menschen
aus diesen Ländern und unsere Gesellschaft auswirken. Es gilt auch hier: kein Sonderrecht für Migranten, also auch
keine präventive Beobachtung von Migranten. Auch sie sollen nur in den sicherheitsbehördlichen Fokus gelangen
dürfen, wenn sie wie ihre deutschen Mitbürger die Gesetze des Landes übertreten.
7. Wie lange noch: Verfassungsschutz beobachtet die STASI
Schließlich sehen noch drei ostdeutsche Länder, nämlich Sachsen (§ 2 Abs. 1 Ziff. 4), Sachsen-Anhalt (§ 4 Abs. 1
Ziff. 2) und Thüringen (§ 2 Abs. 1 Ziff. 6) eine Aufgabe des Verfassungsschutzes in der Beobachtung und Sammlung
von Informationen über fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungs- und Abwehrdienste der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik im Geltungsbereich dieses Gesetzes. Diese Aufgabe mag historisch-politisch
verständlich gewesen sein in der Zeit nach 1990; nach über 20 Jahren besteht dafür aber keine Berechtigung mehr.
Fazit: Bei kritischer Durchsicht erweisen sich die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben des Verfassungsschutzes
tatsächlich als überflüssig. Eine ersatzlose Streichung würde zu keiner Sicherheitslücke führen.
4. Der Verfassungsschutz ist unkontrollierbar
Geheimhaltung verhindert Kontrolle
Die gesetzlich vorgesehenen mehrstufigen Kontrollmöglichkeiten, mit denen die Kontrolle des Verfassungsschutzes
erreicht werden soll, stellen sich allesamt als ungenügend bis untauglich heraus gleichgültig, ob es sich um die
Binnenkontrolle durch die Aufsichtsbehörden (Innenministerien) handelt, um die eigens eingerichtete
parlamentarische Kontrolle in Bund und Ländern, um die gerichtliche oder die datenschutzrechtliche Kontrolle.
1. Die VS-Gesetze sehen kein Recht von Betroffenen auf Einsicht in VS-Akten vor, sondern lediglich einen Anspruch
auf Auskunft über die zur eigenen Person gespeicherten Daten. Dazu müssen die Antragsteller allerdings auf
Bundesebene und in etlichen Bundesländern einen konkreten Sachverhalt benennen, der Anlass zu einer Beobachtung
oder Speicherung gegeben haben könnte also eine Art Selbstdenunziation; außerdem müssen sie ein besonderes
Interesse an der Auskunft darlegen. Doch selbst wenn diese beiden Hürden erfolgreich genommen sind, kann die
Auskunft vom VS ganz oder teilweise verweigert werden, wenn
eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu besorgen ist,
durch die Auskunftserteilung Quellen (etwa V-Leute oder Verdeckte Ermittler) gefährdet sein können oder
die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu befürchten
ist,
die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile
bereiten würde oder
die Daten oder die Tatsache der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen
der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheimgehalten werden müssen (vgl. § 15 BVerfSchG bzw.
vergleichbare Regelungen in den Landesverfassungsschutzgesetzen).
2. In solchen Fällen können Betroffene die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder einschalten, die das
gesetzlich vorgesehene Recht haben, im Einzelfall die Rechtmäßigkeit von Datenspeicherungen und –
verarbeitungsvorgängen bei den Verfassungsschutzbehörden sowie deren an Betroffene erteilte Auskünfte zu
überprüfen. Dabei passiert es allerdings, dass die Datenschutzbeauftragten falls die Verfassungsschutzbehörden
Quellenschutz behaupten mitunter darauf verzichten, die Unterlagen und Dokumente persönlich bzw. durch einen
Mitarbeiter einzusehen. Statt dessen können sie sich vom Verfassungsschutz den Sachverhalt mündlich erläutern
oder aus den Akten vorlesen lassen, um überhaupt einen Ansatz zur Kontrolle zu haben. Den auskunftssuchenden
Bürgern dürfen die Datenschutzbeauftragten aus Geheimhaltungsgründen keine Auskünfte oder Hinweise über die
Ergebnisse ihrer Prüfungen erteilen. Sie erhalten im Regelfall nur eine schriftliche Mitteilung, dass die
Überprüfung keinen Anlass für die Annahme eines Rechtsverstoßes gegeben habe; im seltenen Einzelfall, dass eine
Beanstandung stattgefunden habe. Mehr erfahren die Auskunftssuchenden nicht, wenn es die Verfassungsschutzbehörde
nicht will.
3. Nach dem Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
(Kontrollgremiumsgesetz – PKGrG) und vergleichbaren Gesetzen der Länder unterliegen die Bundes- und
Landesregierungen hinsichtlich ihrer Verfassungsschutzbehörden der speziellen parlamentarischen Kontrolle. Zwar
haben die hierfür eigens eingerichteten Parlamentarischen Kontrollgremien (PKG) und ihre Mitglieder (Abgeordnete)
entsprechend den VS- und PKG-Gesetzen gewisse Kontrollrechte: so etwa das Recht auf Unterrichtung durch die
Regierung, auf Akteneinsicht und -herausgabe, auf Zutritt zu VS-Dienststellen, zur Befragung von VS-Bediensteten
oder zur Beauftragung eines externen Sachverständigen.
Doch selbst diese gesetzlich bereits recht beschränkte Art von parlamentarischer Kontrolle der Geheimdienste wird
in der Praxis weitgehend ausgehebelt durch die unabweisbaren Geheimhaltungsbedürfnisse des Verfassungsschutzes,
dessen umfassendes, alles dominierendes Geheimhaltungssystem bis hinein in die Kontrollorgane und ihre
Kontrolltätigkeit reicht, diese nachhaltig prägt und ausbremst:
So wird noch nicht einmal allen Fraktionen der jeweiligen Parlamente eine gesetzliche Mitgliedschaft in diesen
Kontrollgremien zugestanden.
So gibt es in der Regel auch kein Minderheitenrecht, um die einzelnen Kontrollbefugnisse zu aktivieren. Die
Opposition (die eigentliche Kontrollkraft gegenüber Regierungshandeln) wird auf diese Weise ausgehebelt.
Die Kontrolleure sind weitgehend auf Auskunftsbereitschaft, Wahrheitsliebe und das Wohlwollen der Regierungen
angewiesen, die Themenschwerpunkte und Umfang der Kontrolle im Wesentlichen selbst bestimmen können.
Darüber hinaus können die für den Verfassungsschutz verantwortlichen Regierungen sogar die Unterrichtung des
Kontrollgremiums und die Erfüllung von Auskunftsverlangen ganz verweigern sowie Verfassungsschützern untersagen,
den Kontrolleuren Auskunft zu erteilen.
Die Beratungen der PKG sind ihrerseits geheim. Die Mitglieder der Gremien sind zur Geheimhaltung aller
Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen bei ihrer Tätigkeit bekannt geworden sind prinzipiell auch ihren
Mitarbeitern und Fraktionen gegenüber.
Die gesetzlich geregelten Beschränkungen der Kontrolle werden noch durch die beschränkte Ausstattung der
Kontrollgremien verschärft: So versuchen sich etwa auf Bundesebene ganze elf Bundestagsabgeordnete an der
(unlösbaren) Aufgabe, die über 10 000 Geheimdienstler des Bundesamts für Verfassungsschutz, des
Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) zu kontrollieren.
4. Das Geheimhaltungssystem des Verfassungsschutzes erfasst nicht nur die parlamentarische Kontrolle, sondern
auch die Justiz, die den Geheimdienst ebenfalls kontrollieren soll und zumeist ebenfalls daran scheitert. Die
Gerichtsprozesse, in denen Geheimdienste oder V-Leute eine Rolle spielen, werden tendenziell zu
rechtsstaatswidrigen Geheimverfahren. In den Verfahren werden aus Gründen des Quellenschutzes, der
Ausforschungsgefahr oder des Staatswohls Akten manipuliert oder geschwärzt und Zeugen gesperrt; treten VS-
Mitarbeiter nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen auf; berichten Zeugen vom Hörensagen über Aussagen aus
zweiter Hand (etwa der V-Mann-Führer über die Auslassungen seines V-Mannes). All dies widerspricht
rechtsstaatlichen Prinzipien eines Gerichtsverfahrens.
5. Die zahlreichen Vertuschungsaktionen und Aktenschredder-Skandale des Verfassungsschutzes, wie sie nach dem
Aufdecken der NSU-Mordserie bekannt wurden, sind für diese Verdunklungsstrategien symptomatisch. Entsprechend
herrscht in den Verfassungsschutzbehörden eine Mentalität des Geheimhaltens, Vertuschens und Schredderns.
6. Diese Intransparenz und das strukturell-chronische Kontrolldefizit begünstigen eigenmächtige Operationen der
Geheimdienste im rechtsfreien Raum, begünstigen das Überschreiten rechtsstaatlicher Grenzen und
Grundrechtsverletzungen, wie sie immer wieder unfreiwillig ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.
Kontrollverbesserungen sind keine Lösung
Bloße Kontrollverbesserungen rühren jedenfalls nicht an diese problematischen Strukturen, sondern legitimieren
diese zusätzlich und werden letztlich daran scheitern. Ein Geheimdienst wird sich, auch mit gegen ihn gerichteten
erweiterten Kontrollkompetenzen, niemals wirksam und voll kontrollieren lassen, ohne seinen Geheimdienstcharakter
zu verlieren. Und tatsächlich haben sich bislang alle diesbezüglichen Versuche als ungenügend, ja als untauglich
erwiesen. Denn ein wirklich transparenter und voll kontrollierbarer Geheimdienst ist und bleibt ein Widerspruch in
sich zumindest, solange eine Entgeheimdienstlichung des Verfassungsschutzes nicht auf der politischen Agenda
steht und umgesetzt wird. (24)
Aus diesen Gründen reicht es eben nicht aus, lediglich den Mythos des Geheimen anzukratzen und dabei das
Geheime ungeschoren zu lassen. Denn das unkontrollierbare V-Mann-Unwesen und das sich mit dem Quellenschutz und
der aufrecht zu erhaltenden Funktionsfähigkeit der Dienste selbst begründende Geheimhaltungssystem werden sich
letztlich nur aufbrechen lassen, wenn der Einsatz von V-Leuten unterbunden, die Verstrickung des
Verfassungsschutzes etwa in Neonaziszenen und -parteien endlich beendet wird und damit auch die Symbiose von
Verfassungsfeinden und Verfassungsschützern. (25) Einheitliche Standards für Auswahl und Führung von V-Leuten sowie
die geplante zentrale Erfassung aller V-Leute beim Bundesamt für Verfassungsschutz lösen jedenfalls keines der
Probleme, die ihr Einsatz systembedingt aufwirft und die die Kontrolle über dieses System regelmäßig ins Leere
laufen lassen.
Wer die problematischen Folgen von nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden nicht hinnehmen will, wer die mit
nachrichtendienstlicher Tätigkeit zwangsläufig verbundene Abschottung und Eigenmächtigkeit der Geheimdienste für
rechtsstaatsfeindlich, freiheitsschädigend und demokratiewidrig hält der muss den VS-Behörden diese
nachrichtendienstlichen Methoden versagen. Das bedeutet, ihnen die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Führen von
V-Leuten und zum Infiltrieren verdächtiger Szenen und Parteien zu entziehen. Solchen Überlegungen stehen weder
das Grundgesetz noch eine Landesverfassung entgegen. Weder muss es einen administrativen Verfassungsschutz geben,
noch muss er als Geheimdienst ausgestaltet sein.
Fazit: Der Verfassungsschutz ist ersatzlos abzuschaffen
In den voranstehenden Kapiteln haben wir dargelegt:
1. Der Verfassungsschutz ist kein Frühwarnsystem
2. Der Verfassungsschutz ist schädlich
3. Der Verfassungsschutz ist entbehrlich
4. Der Verfassungsschutz ist unkontrollierbar
Es gibt Befürchtungen, bei einer Abschaffung des Verfassungsschutzes müsste die Polizei das zuvor
geheimdienstlich beobachtete Terrain übernehmen, und die Polizei selbst würde damit vermehrt in geheimdienstliche
Verfahrensweisen verstrickt. Anstelle des erhofften Gewinns von weniger Geheimdienst wäre eine
Vergeheimdienstlichung der Polizei zu erwarten. Diese Gefahr sehen wir nicht. Die den Verfassungsschutzbehörden
zugewiesenen Aufgaben sind, wie in Kapitel 3 dargelegt, überflüssig. Deshalb müsste auch keine andere Behörde, etwa
die Polizei, sich dieser Aufgaben annehmen. Unsere Sorge gilt gleichwohl dem längst zu beobachtenden Prozess der
Vergeheimdienstlichung von Teilen der Polizei, mit zunehmend abgeschotteten Strukturen und nachrichtendienstlichen
Methoden. Dort werden umfangreiche Dateien nach geheimdienstlichen Grundsätzen geführt, die sich nicht mehr an
polizeirechtliche Schranken halten, und auch völlig legales Verhalten polizeilich erfassen. Diesem Prozess
fortschreitender Vergeheimdienstlichung der Polizei, der das im Sicherheitsbereich immer schon bestehende
Kontrolldefizit nochmals rasant anwachsen lässt, gilt es in gleicher Weise entgegenzuwirken wie dem Treiben des
Verfassungsschutzes selbst.
Die bisherige gesetzliche Kernaufgabe des Verfassungsschutzes besteht darin, angebliche Bestrebungen
festzustellen und zu erfassen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Die dafür
notwendigen Informationen beschafft sich der Verfassungsschutz durch das Beobachten von völlig legalem Tun; oder
in der Sprache des Geheimdienstes: durch die Sammlung von Anhaltspunkten für das Vorliegen von Bestrebungen.
Zentrale Instrumente des Verfassungsschutzes sind dabei der Verdacht und die hoheitliche Verrufserklärung. Mit
ihnen operiert er jenseits der Grenze transparenten und kontrollierbaren Herrschaftsvollzuges.
Die parlamentarische Mehrheit sowie der exekutive Mainstream fordern als Konsequenz aus dem NSU-Skandal eine
bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern und weitere Zentralisierung der Behörden. Wenn beschränkte Kräfte
gebündelt werden, dann kann das zu allseitigem Vorteil sein. Wenn sich aber systematische Unfähigkeit mit
systematischer Unfähigkeit verbündet und zusammenwirkt, wie wir es von den 17 Verfassungsschutzbehörden in Bund und
Ländern vorgeführt bekommen, dann Gnade uns vor so viel geballter Inkompetenz.
Mit der Auflösung des Verfassungsschutzes würde eine bürokratische Struktur abgeschafft, die außer sich selbst
eine zumindest gleich große Zahl von Anhängern vermeintlich staatsgefährdender extremistischer Bestrebungen in
Gestalt von V-Leuten finanziell wie organisatorisch unterstützt. Das damit verbundene Dilemma hat die
Zurückweisung des Verbotsantrages gegenüber der NPD im Jahre 2003 in aller Deutlichkeit gezeigt.
In Zeiten knapper Kassen und der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse sollte auch ein Blick auf die Kosten
Entscheidungshilfe leisten. Nach den amtlichen Zahlen hat das Bundesamt für Verfassungsschutz rund 2 700 volle
Stellen, die 16 Landesbehörden haben zusammen rund 3 000 Stellen. Insgesamt sind also rund 5 700 hauptamtliche
Mitarbeiter in den Verfassungsschutzbehörden beschäftigt. Die laufenden Personalausgaben betragen mindestens eine
Viertelmilliarde Euro. Rechnet man die Versorgungs- und Beihilfekosten, die Sach- und Investitionskosten sowie die
Zahlungen an V-Leute und andere Ausgaben hinzu, so wird man von Gesamtausgaben in Höhe von derzeit jährlich
mindestens einer halben Milliarde Euro für die Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen
können. Das ist rausgeworfenes Geld und eine Verschwendung, die wir uns angesichts der staatlichen
Gesamtverschuldung in Deutschland für einen wie in diesem Memorandum erläutert insgesamt entbehrlichen und vor
allem schädlichen Behördenapparat nicht leisten können und nicht leisten sollten.
Jeder aufmerksame Zeitungsleser und jeder Nutzer der sonstigen Medien ist in der Lage, demokratiefeindliche und
menschenrechtsverletzende Bestrebungen gewahr zu werden und auf diese angemessen zu reagieren, und so geschieht es
auch! Eine Vielzahl von Bürgern in den Kommunen überall in unserem Land hat sich in den letzten Jahren zu
Initiativen zusammengeschlossen, deren Ziel es ist, dem Neonazismus, Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit
entgegenzuwirken. In kaum einer Kommune ist es heute noch möglich, dass neonazistische und faschistische Gruppen
Aufmärsche oder Versammlungen durchführen können, ohne dass dagegen öffentlich protestiert wird. Diese Gruppen und
Initiativen, die mutig und für jeden sichtbar Demokratie und Menschenrechte verteidigen, gilt es zu fördern und zu
unterstützen. Sie sammeln und recherchieren ihre Informationen über die Verächter unserer Freiheitsrechte und deren
Aktivitäten selbst, der Verfassungsschutz ist dabei überflüssig.
Schaffen wir den Verfassungsschutz ersatzlos ab. Er ist zu nichts gut, sondern hält nur die Zivilgesellschaft
davon ab, sich demokratie- und menschenrechtswidrigen Bestrebungen in offener Diskussion entgegenzustellen.
Anmerkungen
1 S. den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, BT-Drs. 17/8453 v. 24.1.2012.
2 Ausnahme Die Linke“ und Teilausnahme bei Bündnis 90/Die Grünen: Fraktionsbeschluss vom 27.11.2012 Für eine Zäsur in der deutschen Sicherheitsarchitektur Auflösung des Verfassungsschutzes, Neustrukturierung der Inlandsaufklärung und Demokratieförderung“.
3 Wir benutzen bewusst nicht das schönfärberische Modewort der Sicherheitsarchitektur, weil dieses eine in unseren Augen nicht vorhandene, souveräne Gestaltungsmacht suggeriert.
4 U. a. Claus Leggewie und Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz, Berlin 2012.
5 Az. 1 BvR 1072/01.
6 Az. 1 BvR 1106/08.
7 S. dazu 3. Internationales Russell-Tribunal, Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Band 1, Berlin 1978, S. 176 ff.
8 S. Tagesspiegel v. 12.9.2005, Hopp, hopp, hopp … Berufsverbote stopp“.
9 Vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgericht vom 21.7.2010 in Sachen Bodo Ramelow/Bundesamt für Verfassungsschutz (6 C 22.09), RN 88, 105; mit dem die übereinstimmenden Urteile der Vorinstanzen aufgehoben wurden (vgl. Udo Kauß, Abschied vom einfachen Feindbild, in: Grundrechte-Report 2010, S. 185 sowie Burkhard Hirsch, Der Abgeordnete und das Bundesamt für Verfassungsschutz, in: Grundrechte-Report 2011, S. 192ff.). Über die gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde ist noch nicht entschieden.
10 S. Weser Kurier v. 30.8.2012, Hat Verfassungsschutz geschlampt?“.
11 Das war nur der letzte Auslöser für die oben beschriebene Neuorganisation des Berliner Verfassungsschutzes. Dem voran ging u. a. die Bespitzelung des SPD-Abgeordneten Erich Pätzold, Mitglied der parlament. Kontrollkommission des Geheimdienstes, durch einen V-Mann des Verfassungsschutzes (s. Der Spiegel v. 19.12.1988, 99 Luftballons. Der Berliner Innensenator Kewenig ge rät wegen der Sammelwut seines Verfassungsschutzes immer weiter unter Druck“).
12 Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, Stuttgart 2007, S. 266.
13 BVerfG, Beschluss vom 18.3.2003 2BvB 1/01 u. a.
14 In: Bürgerrechte und Polizei CILIP Nr. 17, Heft 1/1984.
15 Erschienen erstmals 2003, neu 2012 als e-book/neobooks bei Droemer-Knaur.
16 S. Bürgerrechte und Polizei CILIP Nr. 28, Heft 3/1987, S. 16.
17 Diese Zahlen wurden übereinstimmend vom Tagesspiegel, der Zeit, der Frankfurter Rundschau und zwei weiteren Zeitungen recherchiert.
18 S. BT-Drs. 17/7161 v. 27.9.2011; vgl. Tagesspiegel v. 9.11.2011, Versandete Spuren. An wie vielen Morden trägt der rechte Terror schuld?“.
19 BVerfGE 39, 334ff mit ablehnenden Sondervoten Rupp und Seuffert.
20 Vgl. hierzu Der deutsche Sonderweg: Berufsverbote“ in Kapitel 2 (S. 59f.).
21 Vgl. das Bundesverfassungsgericht zum Extremismus“-Begriff in Kapitel 1 (S. 56f.).
22 S. Kapitel 1 (S. 54f.).
23 Ganz exemplarisch der Entwurf des sog. Jahressteuergesetz 2013, wonach Vereinigungen oder Gruppierungen, die in auch nur einem der jährlich erscheinenden 17 Verfassungsschutzberichte als extremistisch“ aufgenommen worden sind, von vorneherein jede öffentliche Förderungsfähigkeit und Gemeinnützigkeit mit allen daran geknüpften Vorteilen verlieren (vgl. Offener Brief von Bürgerrechtsorganisationen an den Bundestag, in: HU-Mitteilungen Nr. 217, Heft 2/2012).
24 S. dazu Gusy, Kontrolle der Nachrichtendienste, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2/2008, S. 38f.
25 Vgl. Gössner, Geheime Informanten, München 2003 (2012).