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Die Lüge als Motor der Geschichte. Erinne­rungs­kultur in Vietnam

aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 166-168

Andreas Margara: Der amerikanische Krieg – Erinnerungskultur in Vietnam. regiospectra-Verlag, Berlin 2012, 19,90 €

Wer als Historiker die Quellen nicht sorgfältig prüft und aufbereitet, wird sich im Dschungel der Indochinakriege und ihrer Rechtfertigung schnell verlaufen. Wer als 1968er seine politische Sozialisation durch den „Vietnamkrieg“ hinterfragt, stellt schnell fest, dass sein Bild dieses Krieges von den Massenmedien geprägt wurde. Zahlreiche Falsch- und Fehlinformationen gilt es auszuräumen – gelegentliche Korrekturen bleiben nicht aus. Dabei kann jener andere Blick helfen, den Andreas Margara aus der Sicht der Vietnamesen in seinem lesenswerten Buch auf den „amerikanischen Krieg“ wirft.
Bereits im Titel „Der amerikanische Krieg – Erinnerungskultur in Vietnam“ macht Margara das Thema deutlich, an dem er sich abarbeitet: Das einseitige Bild des Vietnamkrieges, das weitgehend geprägt ist durch die amerikanische Geschichtswissenschaft. Jene konnte sich der Infiltration durch die politische Ideologie nicht in allen Fällen entziehen. Ihre verzerrte Perspektive möchte Margara korrigieren. Eine alternative Perspektive auf den „Vietnamkrieg“ bot bisher in deutscher Übersetzung insbesondere Jonathan Neale („Der amerikanische Krieg: Vietnam 1960 bis 1975“, Köln, 2004). Er vermittelte einen Eindruck von dem Trauma, dass der Krieg bei der us-amerikanischen Nation hinterlassen hat. Bisher fehlt jedoch die Erinnerung und Aufarbeitung aus der Sicht der Opfer der amerikanischen Aggression.
Diesem anspruchsvollen Ansatz widmet sich der Autor in mehreren Schritten. Dabei sind ihm die linientreuen Analysen der vietnamesischen Geschichtswissenschaft mit einer parteikonformistischen Analyse keine Hilfe. Deshalb begibt er sich auf eine eigene Suche nach dem gesellschaftlichen Narrativ des Krieges. Er bereist die Erinnerungsorte in Vietnam und untersucht sie auf ihr Wirkungspotenzial: Denkmäler und Soldatenfriedhöfe, Mausoleen und Museen, Gedenktage und -stätten. Als gemeinsames Erbe sieht er beide Kriegsparteien unter einem kollektiven Kriegstrauma leiden. Die zerstörte Infrastruktur, verwüsteten Landstriche, Bombenkrater und Blindgänger, Landminen und die nachhaltige Wirkung der eingesetzten Herbizide – „agent orange“ – beeinträchtigen aber allein das Leben in Vietnam.
Unter dem Eindruck weitgehend verschlossener Archive und versiegelter Akten gelingt ihm eine Skizze, die sich neben der reichlich verarbeiteten Sekundärliteratur aus seinen Reiseeindrücken und persönlichen Gesprächen speist. Dabei kommt ihm die Öffnung des Staates durch die Mitte der 1980er Jahre begonnenen Doi Moi-Reformen ebenso zupass wie zuweilen eine historiografische Geschichtskritik. Nicht zuletzt hilft ihm eine vietnamesische Tourismusindustrie, die sich der Erinnerungsorte propagandistisch bedient.
Margaras Darstellung gewinnt in den geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen ihr vorrangiges Profil. 3,1 Millionen Kriegstote schätzen die vietnamesischen Quellen. Die vor allem in Nordvietnam verbreiteten Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler erzählen deshalb für nahezu jede Familie die Geschichte des nationalen Befreiungskampfes. Mit einem eigenen Mausoleum wird – gegen seinen testamentarischen Willen – der Vater der Nation Ho Chi Minh („Onkel Ho“) in Hanoi öffentlich geehrt, der noch während des Amerikanischen Krieges am 2. September 1969 verstarb. Realistische Überreste – wie das Wrack des amerikanischen B-52 Bombers im Huu-Tiep-See – sind Erinnerungsstätten für die Opfer und gleichzeitig stolze Quelle des eigenen Patriotismus.
Die besondere Rolle der Frau als Kämpferin gewinnt Gestalt in Denkmälern der allenthalben als nationale Heldenmutter verehrten Nguyen Thi Thu, die neun Söhne im Kampf gegen Franzosen und Amerikaner verlor. Besondere Kapitel widmet der Autor dem Hoa Lo („Heißer Ofen“) genannten Zentralgefängnis in Hanoi, dem Massaker von My Lai und der Schlacht um die US-Militärbasis Khe Sanh. Im „Maison Central“ zählen sich die Vietnamesen einerseits zu den Opfern der Greuel französischer Besatzer wie andrerseits als wohlwollende Aufseher über die später gefangengenommenen amerikanischen Piloten.
Historische Museen in Hué, Saigon, Hanoi und Da Nang widmen sich der Zeit bis zur Unabhängigkeit. Die Jahre nach dem Krieg präsentieren das Revolutionsmuseum (zur Geschichte der Kommunistischen Partei Vietnams), das „B-52“-Siegesmuseum sowie das Museum für Militärgeschichte. In ihnen spiegelt sich das nationale Erwachen mit Hilfe der Kriegsreliquien und die Entschlossenheit des vietnamesischen Volkes, sich mit einfachsten Waffen einem technisch überlegenen Feind zu stellen. Ein herausragendes Zeugnis jener Identität, die der „Vater der Nation“ seinem Volk hinterlassen hat, findet sich im Ho Chi Minh-Museum in der Nähe des Mausoleums in Hanoi.
Kürzere Darstellungen beschreiben Ehrungen und Gedenktage, in denen die Vietnamesen des Nordens eins sind mit ihrer Geschichte – und den Süden aus dieser Erinnerung zwanghaft ausklammern. In der Erinnerungskultur hat die Wiedervereinigung bislang nicht stattgefunden.
Seinen Zugang zu den personalen Erinnerungen und Verstörungen des vietnamesischen Volkes erschließt sich der Autor vornehmlich aus der Distanz. Kurze Abhandlungen gelten dem Bild des Soldaten nach seiner Rückkehr ins Dorf und zur Familie, aber auch dem mythischen Umfeld des Todes in der vietnamesischen Kultur. Die wirtschaftliche Reformen des Doi Moi, Kriegstourismus sowie Kriegsnostalgie und der damit einhergehende gesellschaftliche und kulturelle Wandel verändern seither Muster und Modelle der Aufarbeitung von Erinnerung.
Hier fehlt der Arbeit leider ein fassbarer Zugriff auf die Zeit des Bürgerkriegs zwischen Nord- und Südvietnam nach der Eroberung des Präsidentenpalasts in Saigon am 30. April 1975 bis zur Wiedervereinigung der beiden Teile am 2. Juli 1976. Die „Marginalisierung Südvietnams“ vermag nicht zu erklären, dass es auch im neuen Vietnam Sieger und Verlierer gibt. „Ahnen- und Totenkulte“ sind gängige Metaphern einer animistischen Kultur, die sich im Buddhismus ihre Rituale bewahrt: Karma erwirbt der Mensch in der vietnamesischen Gesellschaft nicht – wie im westlichen Denken – durch eine historisch-kritische Analyse der Vergangenheit, sondern durch die opferbereite Bewältigung allein der Gegenwart. Dabei bietet den Vietnamesen die Familie Hilfe und Trost. Ein derartiger Zugang zur Erinnerungskultur  eröffnet sich dem westlichen Besucher nur schwerlich.
Margara bedient sich mit den Gedenkstätten, Museen und Friedhöfen der herkömmlichen Einfallstore der Erinnerungskultur, um das Trauma des vietnamesischen Volkes 37 Jahre nach dem „amerikanischen Krieg“ zu erfassen. Er erweist sich unter diesen Voraussetzungen als hilfreicher Zugang und lesenswerter Begleiter für eine nachdenkliche Reise in eigene und fremde Vergangenheit.

ALBERT KLÜTSCH   geb. 1944, Rechtsanwalt, Schauspieler und Autor („Auf der Suche nach dem Mythos Mekong“, 2010) war von 1980 bis 1990 Abgeordneter und rechtspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion NRW. Seine Erfahrungen speisen sich aus Reisen nach Südostasien seit 1970 und seiner Tätigkeit als Reiseleiter in der Region. www.der-schauspieler.de

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