Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 201/202: Verfassungsschutz in der Krise?

Wider die Gering­schät­zung der sozialen Menschen­rechte

aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 164-166

Eberhard Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völker-, europäischen und deutschen Recht, Mohr Siebeck Tübingen 2012, 234 S., ISBN 978-3-16-152244-4, 59,- Euro

„Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“ – Der Grundgedanke in diesem eindringlichen Appell Friedrich Schillers lässt sich freilich auch trocken-juristisch formulieren: Das Grundrecht z. B. auf freie Wahl der Ausbildungsstätte in Artikel 12 Grundgesetz (GG) „wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“ Diese Einsicht findet sich bereits im Numerus-Clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972. Gleichwohl haben Rechtsprechung und die große Mehrheit der Juristen in Deutschland nicht die Konsequenz daraus gezogen, dass die klassischen Abwehrrechte wie die Berufsfreiheit oder die Unverletzlichkeit der Wohnung einer Ergänzung durch soziale Grundrechte bedürfen, die den Staat zur Schaffung eben der genannten „materiellen Voraussetzungen“ für die Grundrechtswahrnehmung verpflichten. Die juristische Profession, so klagt der Osnabrücker Sozialrechtler Eichenhofer im Vorwort seines Buches, misstraue den sozialen Rechten. „Begründen diese nicht ganz unerfüllbare Erwartungen oder bewirken sogar, dass die Republik eine andere würde?“ Für den Autor ist diese Haltung überraschend, „enthüllt sie doch Geschichtsvergessenheit und mangelnden Wirklichkeitssinn.“ Der Sozialstaat gründe in den Staaten Europas auf einer Jahrhunderte alten Tradition. Die sozialen Menschenrechte sind „in Europa und der Welt eingehend ausgearbeitet und umfassend gewährleistet und geschützt. Davon weiß das deutsche Publikum allerdings wenig und darum weiß es kaum.“ Das Buch will insoweit Nachhilfeunterricht leisten; damit ist es zugleich eine engagierte Streitschrift für die Anerkennung der sozialen Menschenrechte.
Eichenhofer erschließt die Thematik aus verschiedenen Perspektiven: Er spürt den ideengeschichtlichen Wurzeln nach und nimmt Stellung zu den kritischen Einwänden gegen soziale Grundrechtsgewährleistungen. Sodann erläutert er die wichtigsten sozialen Menschenrechte, nämlich das Recht auf Arbeit, das Recht auf Gesundheit, die Rechte auf Fürsorge und auf Wohnung, das Recht auf Bildung sowie das Recht auf soziale Sicherheit. Bekanntlich ist keines dieser Rechte ausdrücklich im Grundgesetz verankert. In den Artikeln 20 und 28 ist lediglich das Sozialstaatsgebot verankert. Das Grundgesetz, so die Kritik von Eichenhofer, „leidet so an der Paradoxie, dem Sozialen zwar einen elementaren Rang beizumessen, aber dessen Inhalte ganz und gar im Ungefähren zu belassen.“ (S. 51). Dies ist indessen keineswegs Ausdruck sozialer Blindheit der Verfassungsväter und -mütter, sondern dem Charakter des Grundgesetzes als Provisorium geschuldet: Strittige Punkte wurden einfach ausgeklammert, um deren Regelung einer künftigen, in freier Entscheidung vom deutschen Volke zu beschließenden Vollverfassung vorzubehalten (vgl. Artikel 146). Die Verfassungen der Bundesländer sind insoweit deutlich ausführlicher; deren Inhalt kommt hier allerdings etwas zu kurz. Dafür geht der Autor ausführlich auf die europarechtlichen sowie die internationalen Rechtsquellen ein, in denen soziale Menschenrechte gewährleistet sind. Dargestellt werden u. a. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 („UNO-Sozialpakt“) sowie die Europäische Sozialcharta. In diesem Rahmen werden auch die drei Dimensionen der Gewährleistung der internationalen Menschenrechte dargelegt, nämlich Achtung (obligation to respect) und Schutz durch den Staat (to protect), aber auch dessen Verpflichtung, durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung die Voraussetzungen für die Geltung zu schaffen (to fulfill).
Wie wenig ernst diese völkerrechtlichen Verpflichtungen von der Rechtspraxis in Deutschland genommen werden, zeigt das Beispiel des Rechts auf Bildung in Artikel 13 des UNO-Sozialpakts, der u. a. die Einführung der Unentgeltlichkeit des Hochschulunterrichts vorsieht. Im Streit um die Zulässigkeit von Hochschulgebühren hat das Bundesverwaltungsgericht diese Bestimmung 2009 einfach entgegen ihrem Wortlaut „interpretiert“ und damit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt (vgl. Grundrechte-Report 2010, S. 202 ff.). Generell wird in Deutschland den in völkerrechtlichen Verträgen gewährleisteten Menschenrechten – meist unter Verweis auf Artikel 59 Absatz 2 GG – nur der Rang von einfachen Gesetzen zugebilligt, dagegen kein Verfassungsrang. Dieser „ganz herrschenden Auffassung“ tritt Eichenhofer unter Berufung auf Artikel 1 Absatz 2 GG entgegen. Dort heißt es: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Der Autor verweist auf den zeitlichen Hintergrund der Entstehung des Grundgesetzes: Kurz zuvor war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet worden. Das in der genannten Norm enthaltene „Bekenntnis“ dürfe deshalb keineswegs als unverbindliche Formel abgetan werden. „Art 1 II GG stellt die internationalen Menschenrechte als Referenzordnung den eigenen Grundrechten voran, um aufzuzeigen: die Grundrechte sind die deutsche Konkretisierung der internationalen Menschenrechte und diesen also gerade nicht über-, sondern vielmehr untergeordnet.“ (S. 194).
Bei der Frage der Einklagbarkeit folgt Eichenberger wiederum der allgemeinen Auffassung: Soziale Menschenrechte sind danach nicht unmittelbar einklagbar. Aber, so der Autor, sie seien gleichwohl nicht weniger rechtlich verbindlich als die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte; eingefordert werden könnte ihre Ausgestaltung durch entsprechende Akte der Gesetzgebung.
Zu kritisieren an der Darstellung sind nur wenige Punkte: Manches ist etwas knapp geraten, mitunter sind die Nachweise nicht korrekt. So wird auf S. 18 Hegel zitiert, in Fußnote 51 aber auf Rousseau verwiesen. Und wenn auf S. 52 behauptet wird, der in Art. 28 GG enthaltene Begriff des sozialen Rechtsstaates habe keine Tradition, wird Hermann Heller unterschlagen, der diesen Begriff schon 1930 prägte. Abgesehen davon handelt es sich bei diesem Buch um ein insgesamt sehr lesenswertes und überzeugendes Plädoyer für die Anerkennung der sozialen Menschenrechte, das all’ jenen nachdrücklich zur Lektüre empfohlen sei, die meinen, nur die klassischen Abwehrrechte seien „echte“ Grundrechte.

DR. MARTIN KUTSCHA   ist Professor für Staatsrecht an der HWR Berlin und Mitglied im Beirat der HU.

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