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Krise der Demokratie?

aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 94-98

Michael Bäuerle/Philipp Dann/Astrid Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag, Mohr Siebeck Tübingen 2013, 782 S., 154 Euro

Üblicherweise handelt es sich bei Festschriften um ein unverbundenes Sammelsurium von Beiträgen zu höchst unterschiedlichen Themen, von den jeweiligen Autoren und Autorinnen rasch aus der Ablagen-Schublade (oder heute: dem Dateiverzeichnis des PC) gezogen, um einer möglicherweise lästigen Bitte nachzukommen. Davon hebt sich die Bryde-Festschrift wohltuend ab: Viele ihrer Beiträge sind auf ein Generalthema, nämlich Fragen der Demokratie fokussiert.
Zwar enthält sie auch etliche lesenswerte Artikel zu anderen Themen, so z. B. die nur zu berechtigte Warnung von Frank-Walter Steinmeier vor „humanitären Interventionen“ als Ausübung „eines humanitären Faustrechts, bei dem jeder Staat nach eigenem Gutdünken die Menschenrechte interpretiert und sich zu deren Hüter in anderen Staaten aufschwingt.“ (S. 733) – der wieder amtierende Außenminister wird sich an seinem Verdikt messen lassen müssen! Das Augenmerk soll im folgenden aber auf diejenigen Beiträge gerichtet werden, die verschiedene aktuelle Problemstellungen der Verwirklichung des Demokratieprinzips zum Gegenstand haben. Diesem galt schließlich auch das besondere Forschungsinteresse des Jubilars, der von 2001 bis 2011 als Bundesverfassungsrichter amtierte. Er kritisierte in seinen Veröffentlichungen sowohl das „völkische“ Demokratieverständnis, welches das Bundesverfassungsgericht insbesondere in seinen Entscheidungen von 1990 gegen die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts in Hamburg und Schleswig-Holstein zu Grunde legte (dazu Thomas Groß, S. 164 ff.), als auch den „Legitimationskettenfetischismus“ (dazu Hubert Rottleuthner, S. 297). Nichtjuristen muss erklärt werden, was damit gemeint ist: Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet Demokratie, dass sich alle Entscheidungen der Exekutive durch eine ununterbrochene Legitimationskette bis zum Wahlakt des Volkes zurückführen lassen müssen. Das klingt zunächst überzeugend, bedeutet aber den Ausschluss von Mitentscheidungsrechten z. B. von Personalräten oder anderen Gremien, die nicht Teil dieser Legitimationskette sind, auch wenn sie auf andere Weise demokratisch legitimiert sind.
Überzeugend hat Michael Bäuerle in diesem Band die Schwächen der Legitimationskettentheorie anhand einer Thematik herausgearbeitet, die aus bürgerrechtlicher Sicht hochbedeutsam ist, nämlich die Kontrolle der Polizei „von außen“ durch Institutionen der Zivilgesellschaft (vgl. dazu auch vorgänge Nr. 204). Aus der Sicht der Legitimationskettentheorie ist eine solche Kontrolle entbehrlich, ja sogar verfassungswidrig, weil ja das Handeln der Polizei strikt an die vom Parlament erlassenen Gesetze gebunden ist und – neben der gerichtlichen Kontrolle – der internen Kontrolle durch die Vorgesetzten in der Ämterhierarchie unterliegt. Bäuerle verweist hingegen auf die erheblichen Defizite in der Steuerung des polizeilichen Alltagshandelns durch die demokratisch beschlossenen Gesetze: Zum einen seien durch die zahllosen neuen Befugnisregelungen zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ schwer handhabbare Normengebilde entstanden, welche die Polizei zur „auswählenden und selektiven Normenvollziehung“ geradezu einlüden. Zum anderen fördere die „Cop Culture“ innerhalb des Polizeiapparates eine „Verselbständigung polizeilicher Handlungsmuster praeter oder contra legem“ (S. 37). Und wo die Missachtung der gesetzlichen Bindungen durch eine ständig geübte polizeiliche Praxis allzu offensichtlich wird, sei der Gesetzgeber schnell zum „Nachlegen“ von Befugnissen bereit, wenn die Polizei die betreffende Praxis nur nachdrücklich als „unverzichtbar“ für die Aufgabenerfüllung hinstellt. Als aktuelles Beispiel lässt sich hier das Berliner Landesgesetz vom 23. April 2013 nennen, das „zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ die Videoüberwachung auch von friedlichen Demonstrationen erlaubt (s. den Beitrag von Heinrich in dieser Ausgabe, S. 83ff.). Angesichts der beschriebenen Defizite verweist der Autor u. a. auf das in anderen Staaten praktizierte Modell unabhängiger Polizeikontrollkommissionen.

Eine weitere spannende Thematik, dem sich gleich mehrere Beiträge der Festschrift widmen, ist das Pro und Contra von Volksentscheiden. Während Andreas F. Paulus, zur Zeit amtierender Bundesverfassungsrichter, ein vorsichtig abwägendes Plädoyer für die Einführung von Volksentscheiden auch auf Bundesebene hält, betrachtet Ralf Kleindiek die Ausübung unmittelbarer Demokratie eher als Gefahr für das deutsche System repräsentativer Demokratie. Bezogen auf das Beispiel einiger erfolgreicher Volksentscheide in Hamburg kritisiert der Autor, dass diese Volksgesetzgebung „ohne das Volk stattgefunden“ habe, weil der Inhalt des Gesetzes nur von einer kleinen Gruppe von Personen verhandelt worden sei (S. 194). Gegen das Transparenzgesetz wendet er ein, dass dieses entgegen seinem Anspruch Vertrauen gerade abschaffe. „Denn wenn alles bekannt ist, wenn alle alles wissen, dann brauche ich kein Vertrauen in das Geschehen der Dinge, die ich bisher nicht durchschauen kann.“ (S. 197). – Bei dieser Argumentation wird freilich der Unterschied zwischen einer transparenten Verwaltung, auf die das Gesetz abzielt, und transparenten Bürgern ausgeblendet. Auch ist das treuherzige Postulat „Vertraut uns doch!“ gerade typisch für autoritäre Regierungen, während weitgehende Transparenz staatlichen Handelns notwendige Voraussetzung für eine funktionierende demokratische Kontrolle ist. Im Übrigen sollte Kleindiek als Hamburger Staatsrat (= Staatssekretär) wissen, dass auch parlamentarische Gesetze nur von einer Handvoll von Personen in den jeweils zuständigen Ministerien ausgearbeitet werden. Die Forderung nach Transparenz zielt dabei gerade auf das Erkennen der Einflussnahme von Lobbyisten insbesondere aus der Wirtschaft.Damit gerät ein weiterer Aspekt im gegenwärtigen Demokratiediskurs ins Blickfeld, der vor allem unter dem Begriff der „Postdemokratie“ erörtert wird. Der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier benennt zwar richtig die Symptome des weit verbreiteten Zweifels am Funktionieren des gegenwärtigen Systems demokratischer Entscheidungsfindung (S. 263 ff.), dringt aber nicht zu den gesellschaftlichen Ursachen hierfür vor, sondern begnügt sich mit Appellen an die Politiker für mehr Stetigkeit und Verlässlichkeit. Auch in den meisten anderen Beiträgen der Festschrift bleiben die gesellschaftlichen bzw. ökonomischen Hintergründe der gegenwärtigen Entwicklung zumeist im Dunklen, was wohl dem verengten juristischen Blickwinkel geschuldet ist. Immerhin verweist der Zivil- und Medienrechtler Friedrich Kübler kenntnisreich auf die Mechanismen der Marktkräfte im Presse- und Fernsehbereich und warnt, dass Medienkonzentration nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch politischen Einfluss verschaffe (S. 208).

Die Aufhellung der eben genannten Blindstellen steht dagegen im Mittelpunkt der neuesten Untersuchung von Frank Deppe, der an der Universität Marburg bis 2006 Politikwissenschaft gelehrt hat und von einem marxistischen Gesellschaftsverständnis ausgeht:

Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, VSA Verlag Hamburg 2013, 304 S., 24, 80 Euro

„Die Geschichte der Demokratie ist durch den Widerspruch zwischen formeller politischer Gleichheit (falls das allgemeine Wahlrecht überhaupt durchgesetzt ist) und der gesellschaftlichen Ungleichheit als der Basis auch von politischen und kulturellen Machtasymmetrien bestimmt,“ so formuliert Deppe bereits in der Einleitung das Grunddilemma der Demokratieentwicklung (S. 10). Richtig verweist er darauf, dass der Begriff der „Demokratie“ höchst unterschiedlich verstanden wird, trotz seines normativen Kerns, nämlich des Anspruchs einer Selbstregierung des Volkes („demos“). Diesen haben Klassiker wie Jean Jaques Rousseau und Karl Marx sowie in neuerer Zeit Wolfgang Abendroth näher entfaltet, wie der Autor im Einzelnen darlegt. Deppe stellt indessen auch die Theoretiker der anderen Seite vor, die wie schon Aristoteles und Alexis de Toqueville vor einer „Herrschaft des Pöbels“ warnten. Als Vordenker des heute herrschenden Neoliberalismus werden Friedrich A. Hayek und Vilfredo Pareto zitiert, die für eine unbedingte Freiheit des Eigentums und des Marktes und gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsordnung plädierten. Deren Lehren haben sich heute weltweit durchgesetzt. Deppe spricht vom „Marktstaat“, der die Entgrenzung nach innen und außen betreibe und damit die sozialen Errungenschaften aus der Zeit des „Golden Age“ des Kapitalismus (der „sozialen Marktwirtschaft“ des sog. „rheinischen Kapitalismus“ in Deutschland) preisgebe. „Die Märkte werden von Regelungen und Kontrollen ‚entfesselt’ bzw. ‚entgrenzt’, die der Ökonomie durch die Gesellschaft und den demokratischen Staat auferlegt waren – und zwar als Resultat der historischen Erfahrungen jener ökonomischen und politischen Katastrophen, der Kriege, Krisen und totalitären Systeme, die das 20. Jahrhundert vor allem in seiner ersten Hälfte auszeichneten, gleichzeitig als Ausdruck bestimmter Kräftekonstellationen zwischen Kapital und Arbeit, in der Gesellschaft wie im Staat, national und international.“ (S. 136). Der angebliche „Sachzwang“ der Märkte trete damit allerdings in einen offenen Gegensatz zum Anspruch der Demokratie, dass die gewählte Volksvertretung die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen je nach den Mehrheitsverhältnissen zum Ausgleich bringt. Diese Entmachtung der nationalen Parlamente wird von den Protagonisten des globalen Freihandels durchaus begrüßt. Deppe zitiert als Beispiel den Ökonomen Christian v. Weizsäcker: „Die Weltprobleme werden dadurch gelöst, dass man der Wirtschaft die Führungsrolle vor der Politik überlässt.“ (S. 141). Damit wird allerdings zugleich das Dogma hinfällig, wonach es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft gibt.

Deppe sucht auch nach Antworten auf die Frage, warum die Aushöhlung der demokratischen Substanz beim „demos“ als dem eigentlichen Subjekt demokratischer Herrschaft auf so wenig Widerstand stößt. Er verweist auf das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts längst „verstaatlichter“ Parteien und deren Abkoppelung von den Alltagserfahrungen der Bevölkerung angesichts der ökonomischen Krise und zunehmender Unsicherheit der Lebensperspektive. Das Verhalten der Individuen werde weniger durch die Staatsgewalt zur Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse gezwungen. Auch die eher passive Reaktion auf die Erfahrung von sozialer Ungleichheit, Unsicherheit und Krisen sei keine Folge der Drohung von Seiten des Staates mit politischer Repression. „Die Disziplinierung der Individuen erfolgt eher über die Zwänge des Arbeitsmarktes, auf dem sowohl der hohe Sockel der Massenarbeitslosigkeit als auch die Ausweitung der Prekarität und des Niedriglohnsektors eine enorme materielle Belastung, aber auch einen Anpassungsdruck verstärken, der ‚abweichendes Verhalten’ (auch die Kritik der herrschenden Verhältnisse oder Beteiligung an Formen des Widerstandes) schnell bestraft.“ (S. 147). Der Druck, sich nicht um das „Gemeinwesen“, sondern um die individuelle Selbsterhaltung zu kümmern, werde zudem durch den ständigen Wettbewerb und die Angst vor dem sozialen Absturz aufrechterhalten. Nur eine schmale Schicht von Erfolgreichen werde „mit Reichtum und Glamour belohnt; sie stehen im Rampenlicht einer vom Profit gesteuerten Medienwelt, die vom Leben der Reichen und Schönen berichtet.“

In einem eigenen Kapitel wird das Jahr 2008 als Wendepunkt dargestellt. Im „autoritären Wettbewerbsetatismus“ kehre nunmehr der Staat zurück, was aber nicht eine Rückkehr zum „demokratischen Kapitalismus“ der Golden-Age-Periode bedeute, sondern eine Verstärkung der disziplinierenden Elemente. Die Aushöhlung der Demokratie erreiche vor dem Hintergrund des politökonomischen Kerns der Großen Krise eine neue Qualität. Es etabliere „sich ein – immer mehr auf Elemente der Staatsgewalt und der Repression zurückgreifender – ‚autoritärer Konstitutionalismus’“ (S. 153). – Für einen solchen qualitativen Sprung nach 2008 bleibt Deppe allerdings die Belege schuldig. Die Disziplinierung der Armen, Übergriffe der Polizei bei Protestdemonstrationen, Überwachung der Telekommunikation, all’ das gab es auch schon vorher, wie die seit 1997 regelmäßig erscheinenden Grundrechte-Reporte anschaulich belegen. Und die Bundeskanzlerin kann sich nach wie vor im Lichte hoher Beliebtheitswerte in der Bevölkerung Deutschlands sonnen, weil sie das Gefühl vermittelt, „unser Land“ stünde auch in der globalen Krise gut da und seine wirtschaftspolitischen Rezepte sollten auch den kränkelnden Staaten Südeuropas zu Vorbild gereichen. Angesichts dieser Situation mangelt es der These von der zunehmenden Repression jedenfalls für Deutschland an Überzeugungskraft, insoweit hätte man sich etwas mehr argumentativen Tiefgang gewünscht.

Freilich beschränkt sich die Untersuchung Deppes nicht auf das eigene Land. Interessant ist die Darstellung der demokratischen Perspektiven in den USA („One Dollar – One Vote“), in Putins Russland, in der aufsteigenden Weltmacht China sowie in Indien, der „volkreichsten Demokratie der Welt“. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Erörterung der Frage, welche Chancen den verschiedenen Volksbewegungen für eine Erneuerung der Demokratie zukommen. Richtig verweist Deppe auf die gewaltigen Unterschiede zwischen den verschiedenen Protestbewegungen der Gegenwart, von der Arabellion über die Blockupy-Aktionen bis zu den Protesten gegen den Sozialabbau z. B. in Griechenland und Spanien. Sie stellen zweifellos eine Reaktion auf die „Große Krise“ dar (so S. 273), haben jedoch auch andere Ursachen wie z. B. ethnische Konflikte. Als Beispiel für die Ambivalenz von Protestbewegungen sei hier nur die Ukraine genannt, wo der schließlich erfolgreiche Widerstand gegen die Regierung Janukowitsch aus höchst gegensätzlichen politischen Vorstellungen gespeist wurde. So muss die Untersuchung Deppes denn auch mit einem großen Fragezeichen enden. Gleichwohl enthalten beide hier vorgestellten Werke eine Fülle von Anregungen zum Weiterdenken über eine Frage von existenzieller Bedeutung für uns alle.

PROF. DR. MARTIN KUTSCHA ist Professor i. R. für Staatsrecht in Berlin und Mitglied im Vorstand der HU.

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