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Siche­rungs­ver­wah­rung für Erwachsene - kritische Betrachtung des neuen Bundes­rechts

aus: vorgänge Nr. 205 (Heft 1/2014), S. 8-16

(Red.) Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erzwungene Reform der Sicherungsverwahrung hat die Rechtsprechung, Politik und Gesetzgebung in Deutschland in Bewegung gesetzt. In der Folge stellte das Bundesverfassungsgericht sieben Kriterien dafür auf, worin sich Strafhaft und Sicherungsverwahrung künftig unterscheiden sollen. Kirstin Drenkhahn untersucht, inwiefern der Bundesgesetzgeber den gerichtlichen Vorgaben aus Straßburg bzw. Karlsruhe folgt – und was von der gesetzlichen Neuregelung zu erwarten ist. Ihr nüchternes Fazit: die Vorgaben zur Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung beschreiben „nichts qualitativ anderes als den Vollzug der Freiheitsstrafe“; vom viel beschworenen Abstandsgebot zwischen Sicherungsverwahrung und „normalem“ Strafvollzug bleibt kaum etwas übrig, sofern man den Resozialisierungsanspruch des Strafvollzugsgesetzes ernst nimmt.

1. Einleitung

Ende 2009 brachte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Sicherungsverwahrung (1) das deutsche Sanktionenrecht und die deutsche Kriminalpolitik ziemlich durcheinander. In dieser Entscheidung befand der Gerichtshof, dass eine Gesetzesänderung von 1998 gegen das Recht auf Freiheit (Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK) und gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK) verstieß. Mit dem 1998 eingeführten Gesetz war die absolute Befristung der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre auch rückwirkend aufgehoben worden. Angesichts der im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung geringen Zahl an Sicherungsverwahrten im deutschen Strafvollzug waren die Reaktionen aus der Politik recht erstaunlich: Sie reichten von Panik aufgrund der „klaffenden Sicherheitslücke“ bis zu Beleidigtsein ob der vorgeblichen Anmaßung des EGMR, Deutschland zu unterstellen, die Menschenrechte nicht einzuhalten.(2) In der Rechtsprechung herrschte Unsicherheit, was jetzt mit Verwahrten, die in einer mit der des Beschwerdeführers vor dem EGMR vergleichbaren Situation waren, geschehen sollte. Trotzdem wurde im Dezember 2010 ein recht hektisch zusammengebasteltes Gesetz erlassen, das die Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung enger fasste und mit dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) eine Möglichkeit schaffte, Verwahrten, die aufgrund des EGMR-Urteils entlassen werden mussten, doch noch weiter die Freiheit zu entziehen – allerdings zivilrechtlich.(3) Ein Jahr nach Rechtskraft dieses ersten EGMR-Urteils, dem noch etliche gefolgt waren, entschied dann das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2011, dass alle Normen, nach denen Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden konnte und nach denen über die Dauer der Unterbringung entschieden wurde, verfassungswidrig seien, aber für eine Übergangszeit von zwei Jahren mit deutlichen Einschränkungen fortgelten dürften.(4) In diesen zwei Jahren musste nicht nur das Recht der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch (StGB) reformiert und vor allem eine neue Beschreibung dieser Sanktion entwickelt werden, sondern die Bundesländer mussten auch eigene Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetze erlassen.

Die Übergangsfrist ist Ende Mai 2013 abgelaufen. Nun gilt es, Bilanz zu ziehen und zu schauen, wie sich das Recht der Sicherungsverwahrung entwickelt hat. In diesem Beitrag kann allerdings nur auf die Entwicklung des Bundesrechts in Bezug auf Erwachsene eingegangen werden.

2.Ver­fas­sungs­recht­liche Vorgaben

Anders als man denken könnte, machte das Urteil des BVerfG von 2011 es nicht erforderlich, dass alle Anordnungsvorschriften der Sicherungsverwahrung neu formuliert würden, denn sie verstießen nicht selbst gegen das Grundgesetz, sondern der Vollzug der Sicherungsverwahrung und damit – obwohl das BVerfG dies nicht deutlich gesagt hat – der Inhalt dieser Sanktion. Das BVerfG hatte bereits in einem Urteil von 2004 das Abstandsgebot entwickelt, von dessen Einhaltung die Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung abhängen sollte.(5) In diesem früheren Urteil erklärte das Gericht nur knapp, was darunter zu verstehen sein sollte: Es sollte im Vollzug der Sicherungsverwahrung einen Abstand zum Vollzug der Freiheitsstrafe geben, der der Allgemeinheit und auch den Verwahrten deutlich machte, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung um keine Strafe handele, sondern etwas qualitativ anderes, nämlich eine Maßregel, die mit einem erheblichen Sonderopfer an Freiheit der Verwahrten verbunden ist. Tillmann Bartsch hat in seiner Untersuchung „Sicherungsverwahrung – Recht, Vollzug, aktuelle Probleme“ (2010) gezeigt, welche Schwierigkeiten die Vollzugspraxis mit der Ausdeutung dieses Postulats hatte. Im Urteil von 2011 zeigte sich das BVerfG jedenfalls unzufrieden mit der Umsetzung und stellte daher sieben Gebote auf, die in der Summe das Abstandsgebot ausmachen sollten.(6)

1. Nach dem ultima-ratio-Prinzip darf Sicherungsverwahrung nur als letztes Mittel angeordnet werden, wenn weniger eingriffsintensive Maßnahmen nicht ausreichen, um dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Rechnung zu tragen. Nach diesem Grundsatz muss dann auch die Vollstreckung vermieden werden bzw. auf die kürzestmögliche Dauer beschränkt werden. Schon im Strafvollzug, dem Vollzug der „normalen“ Freiheitsstrafe, muss deshalb Gefangenen mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung eine intensive Behandlung zur Verringerung des Rückfallrisikos angeboten werden, um die Vollstreckung der Verwahrung überflüssig zu machen.

2. Auch der darauf folgende Vollzug der Sicherungsverwahrung ist nach dem Individualisierungs- und Intensivierungsgebot konsequent auf eine Verringerung des Rückfallrisikos auszurichten. Das bedeutet, dass aufgrund einer „modernen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Behandlungsuntersuchung“ ein individueller Vollzugsplan entwickelt wird, auf dessen Grundlage die Behandlung stattfindet. Neben standardisierten Therapieangeboten müssen bei Bedarf auch individuelle Maßnahmen entwickelt werden. Das BVerfG bezieht sich hier auf die Risiko-Bedürfnis-Perspektive(7) sowie die gesamte Bandbreite der Maßnahmen, die aktuell als bedeutsam für eine gelungene Wiedereingliederung angesehen werden und mahnt eine ausreichende Personalausstattung an.

3. Das Motivierungsgebot bedeutet, dass die Untergebrachten zur Mitwirkung an der Behandlung gezielt motiviert werden sollen und ihnen durch das Behandlungs- und Betreuungsangebot eine realistische Entlassungsperspektive eröffnet werden muss.

4. Das Trennungsgebot bedeutet, dass auch formal der Vollzug der Sicherungsverwahrung von der Freiheitsstrafe getrennt werden muss und das Leben in der Sicherungsverwahrung den allgemeinen Lebensverhältnissen anzupassen ist, soweit Sicherheitsbelange dem nicht entgegenstehen. Es soll aber genügen, wenn Sicherungsverwahrte auf dem Gebiet einer Regelvollzugsanstalt in besonderen Gebäuden oder Abteilungen untergebracht sind und an Angeboten des Regelvollzugs teilhaben können.

5. Nach dem Minimierungsgebot muss der Vollzug der Sicherungsverwahrung freiheitsorientiert sein und also Vollzugslockerungen vorsehen, die auch für die Prognose von besonderer Bedeutung sind. Außerdem muss eine gezielte Entlassungsvorbereitung sowie Unterstützung in der Nachentlassungsphase vorgesehen sein.

6. Das Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot besagt, dass Untergebrachte diese Form des Vollzugs auch wirksam einklagen können müssen und dabei z. B. durch Beiordnung eines Anwalts oder einer Anwältin zu unterstützen sind.

7. Nach dem Kontrollgebot muss die Fortdauer der Sicherungsverwahrung jährlich überprüft werden (anstatt wie zuvor alle zwei Jahre), das Intervall verkürzt sich zudem mit der Dauer der Unterbringung.

3. Umsetzung im Bundesrecht

Mit diesen Geboten definierte das BVerfG die Sicherungsverwahrung einfach um – aus einer zuvorderst sichernden Maßregel wurde eine therapeutische Maßregel in sicherer Umgebung.(8) Ausdrücklich wandte sich das BVerfG damit nicht nur an die Bundesländer, die seit 2006 für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Justizvollzugs zuständig sind, sondern auch an die Bundesgesetzgebung – diese neue Maßregel mit altem Namen musste im StGB beschrieben werden.(9) Diesem Auftrag kam man mit der Schaffung des § 66c StGB nach. Außerdem wurden § 67a Abs. 2 und 4 StGB (Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel), § 67c Abs. 1 StGB (Späterer Beginn der Unterbringung), § 67d Abs. 2 StGB (Dauer der Unterbringung) und § 67e Abs. 2 StGB (Überprüfung) geändert. Darüber hinaus wurden flankierende Änderungen im Strafvollzugsgesetz des Bundes (StVollzG) nötig, soweit es um die Überprüfung von vollzuglichen Maßnahmen geht (§§ 109 Abs. 3, 119a StVollzG). Zudem wurde in § 463 Abs. 3 und 4 StPO die Beiordnung eines Verteidiger oder einer Verteidigerin bei Anordnung und Vollstreckung der Sicherungsverwahrung eingefügt.(10)
In § 66c StGB wird beschrieben, was ab 1. Juni 2013 unter der Sicherungsverwahrung zu verstehen ist. In Abs. 1 werden die Einrichtungen, in denen die Maßregel vollzogen wird, anhand ihres Auftrags (Verringerung der Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zur baldigen Aussetzung der Maßregel) und ihrer therapeutischen Ausrichtung (Methodenvielfalt, Bedürfnisorientierung), ihres generellen Regimes (Normalisierung, möglichst geringe Einschränkungen, Trennung vom Regelvollzug) und anhand der Ausrichtung auf die Entlassungsvorbereitung und das Übergangsmanagement beschrieben. Hier finden sich die obengenannten Gebote 1 bis 5 wieder. In Abs. 2 wird postuliert, dass Strafgefangenen mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung bereits während der Strafhaft ein Vollzug anzubieten ist, der am ultima-ratio-Gebot und am Individualisierungs- und Intensivierungsgebot ausgerichtet ist, wobei als Beispiel Behandlung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung genannt wird. Dieses Programm ist anspruchsvoll, stellt aber eigentlich nichts anderes dar als einen konsequent auf Resozialisierung und Wiedereingliederung ausgerichteten Strafvollzug. Das Gesetz beschreibt also hier nichts qualitativ anderes als den Vollzug der Freiheitsstrafe, sondern allenfalls einen vorbildlich ausgestalteten Strafvollzug. Interessanterweise wird dies dem BVerfG zur Ausfüllung des Abstandsgebots voraussichtlich reichen, denn es hatte mit den sieben Geboten ja selbst nichts anderes vorgegeben.(11) Wie diese Form der Unterbringung in der Rechtswirklichkeit aussehen wird, unterliegt allerdings nicht dem Einfluss der Bundesgesetzgebung oder -verwaltung, sondern hängt maßgeblich von den Landesgesetzen zum Sicherungsverwahrungsvollzug und ihrer Implementation ab. Sie werden die Länder vor erhebliche finanzielle Probleme stellen und einen großen Aufwand bei der Rekrutierung geeigneten Fachpersonals erfordern.(12) Auch die Ausrichtung auf Behandlung stellt die Vollzugsverwaltungen vor erhebliche Schwierigkeiten, da in Deutschland zwar das Resozialisierungsprinzip Verfassungsrang hat, aber es kaum Forschung dazu gibt, welche Resozialisierungsmaßnahmen für wen Erfolg versprechend sind.(13)
Die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen, ob entsprechende Angebote auch tatsächlich gemacht werden, ist in § 119a StVollzG geregelt.(14) Dem oder der Sicherungsverwahrten ist von Amts wegen nach § 119a Abs. 6 StVollzG ein Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin beizuordnen. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt gemäß § 121 Abs. 3 StVollzG die Staatskasse. Gefangene und Sicherungsverwahrte können die Gewährleistung eines Vollzugs nach § 66c Abs. 1 StGB auch mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG einklagen. Gemäß § 109 Abs. 3 StVollzG ist dem Antragsteller oder der Antragstellerin dann ein anwaltlicher Rechtsbeistand beizuordnen, es sei denn, dessen Mitwirkung erscheint wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage nicht geboten oder der Antragsteller bzw. die Antragstellerin kann die eigenen Rechte selbst ausreichend wahrnehmen.(15) Auch wenn die Ausweitung der Beiordnungsvorschriften grundsätzlich zu begrüßen ist, weil sie die Rechtsverfolgung für Betroffene erleichtern soll, so birgt sie doch einen Wermutstropfen, denn sie wird zu einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung (jedenfalls bei Unterliegen) führen.(16) Gerichtliche Entscheidungen über die Beiordnung sind anscheinend noch nicht ergangen.
§ 67a Abs. 2 StGB regelt die Möglichkeit der Überweisung von Sicherungsverwahrten in den Vollzug einer anderen Maßregel. Gemeint ist damit die Verlegung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt, in denen die Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB vollzogen werden. Die Art der Maßregel ändert sich dadurch nicht.(17) Möglich ist diese Verlegung, wenn die Resozialisierung der betroffenen Person dadurch besser gefördert werden kann, also wenn eine psychiatrische Behandlung bestimmter psychischer Störungen im Vollzug der eigentlich angeordneten Maßregel nicht geleistet werden kann.(18) Was die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeht, werden das alle psychischen Störungen einschließlich substanzbezogener Störungen sein, die eine stationäre Behandlung erfordern, sofern es in dem Bundesland kein psychiatrisches Vollzugskrankenhaus gibt, das auf längere Aufenthalte eingerichtet ist. In § 67a Abs. 2 S. 2 StGB ist jetzt vorgesehen, dass diese Überweisungsmöglichkeit auch für Strafgefangene mit vorbehaltener oder angeordneter Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. Außerdem ist in Abs. 4 S. 2 vorgesehen, dass innerhalb von Jahresfrist zu überprüfen ist, ob die Unterbringung tatsächlich positive Wirkungen hat. Diese Überweisungsmöglichkeit wird zu Recht als „Fremdkörper“(19) im Gesetz gesehen. Kranke Strafgefangene können nicht nur nach dem Bundes-Strafvollzugsgesetz (§ 65), sondern auch nach den entsprechenden Regelungen der bereits verabschiedeten Landesgesetze zum Strafvollzug in ein Vollzugskrankenhaus, eine zur Behandlung der Krankheit besser geeignete Vollzugsanstalt oder auch in ein ziviles Krankenhaus verlegt werden. Das gilt auch für Strafgefangene mit psychischen Störungen. In der Praxis ist jedoch die psychiatrische Versorgung im Strafvollzug nicht ausreichend(20) und es scheint, als seien Allgemeinpsychiatrien nicht erpicht auf Patienten, die eigentlich gerade eine Freiheitsstrafe verbüßen. Hinzu kommt, dass vor allem Patienten mit einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung, wie sie unter Sicherungsverwahrten relativ häufig ist, in den Psychiatrien als problematisch angesehen werden und dass es für diese Störungen noch keine zufriedenstellenden Behandlungsmaßnahmen gibt.(21) Trotzdem mag man für eine kleine Gruppe Strafgefangener einem praktischen Bedürfnis nachkommen.(22) Ob die damit verbundenen Hoffnungen auf eine besondere Resozialisierungswirkung berechtigt sind, ist allerdings zweifelhaft.(23)
Da die Sicherungsverwahrung grundsätzlich „später“ im Sinne des § 67c StGB beginnt, nämlich nach Verbüßung der Freiheitsstrafe bzw. im Fall von § 66b StGB nach einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, ergab sich aus den Anforderungen des BVerfG der Bedarf, auch diese Vorschrift anzupassen. Hier geht es um das ultima-ratio-Gebot sowie das Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot. Zudem wird Druck auf die Vollzugsbehörden aufgebaut:(24) Nach § 67c Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt das Strafvollstreckungsgericht die Vollstreckung der Maßregel bereits vor Beginn der Vollstreckung aus, wenn der oder dem Betroffenen „bei Gesamtbetrachtung des Vollzugsverlaufs keine ausreichende Betreuung“ angeboten wurde, wie sie in § 66c StGB beschrieben ist. Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung wäre dann unverhältnismäßig. Ergibt sich vor Vollstreckungsbeginn, dass der Zweck der Sicherungsverwahrung die Unterbringung nicht mehr erfordert (Nr. 1), wird wie früher schon ebenfalls die Maßregel ausgesetzt. In beiden Fällen tritt Führungsaufsicht ein, für die begleitende Weisungen angeordnet werden können. Hier ist darauf hinzuweisen, dass bereits vor dem BVerfG-Urteil vom 4.5.2011 die Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (EAÜ, „elektronische Fußfessel“) als Weisung in § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB eingefügt wurde.(25)
An die Regelung des § 67c Abs. 1 Nr. 2 StGB schließt die neue Fassung von § 67d Abs. 2 S. 2 und 3 StGB an. Danach setzt das Vollstreckungsgericht die bereits begonnene Sicherungsverwahrung zur Bewährung aus, wenn der untergebrachten Person innerhalb einer Frist, die das Gericht bestimmt und die höchstens sechs Monate beträgt, keine Betreuung angeboten wird, wie sie in § 66c Abs. 1 Nr. 1 beschrieben ist. Das Verfahren hat hier drei Schritte(26)i: Zunächst muss das Gericht feststellen, dass der Vollzug nicht den Anforderungen von § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprach, dann muss angeordnet werden, welche Behandlung der untergebrachten Person jetzt konkret anzubieten ist, und es ist eine Frist von höchstens sechs Monaten zu setzen, in der die Anordnung umzusetzen ist. Erst nach Fristablauf darf das Gericht über die Unverhältnismäßigkeit der weiteren Vollstreckung entscheiden. Auch bei dieser Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Mit dieser Vorschrift wird ebenfalls dem ultima-ratio-Gebot und dem Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang weist Cornel zu recht darauf hin, dass die Gerichte personell ausreichend ausgestattet sein müssen, um entsprechende Verfahren zügig voranzutreiben.(27)
In § 67e Abs. 2 StGB wurde nun die Frist für die Überprüfung, ob die Sicherungsverwahrung weiter zu vollstrecken oder auszusetzen ist, auf ein Jahr begrenzt. Nach Ablauf von zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung beträgt die Frist neun Monate. Dies entspricht dem Kontrollgebot.

4. Recht­spre­chung zu diesen neuen Regelungen

Seit Inkrafttreten dieser neuen Vorschriften gab es mehrere Entscheidung auf der Ebene der Landgerichte (LG) und Oberlandesgerichte (OLG) zur Umsetzung des § 66c StGB. Mittlerweile haben mehrere Gerichte festgehalten, dass die neue Regelung in § 67d Abs. 2 S. 2 StGB zur Überprüfung der Vollzugsbedingungen nach § 66c StGB auch auf Personen anzuwenden ist, für die wegen vor dem 31. Dezember 2010 begangener Taten gemäß Art. 316e, 316f EGStGB Übergangsvorschriften gelten. Allerdings beginne der Zeitraum, in dem der Vollzug entsprechend § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB gestaltet werden muss, erst mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1.6.2013.(28)
Das LG Marburg hat in mehreren Beschlüssen(29) gezeigt, wie eine Fristsetzung nach § 67d Abs. 2 S. 2 StGB aussehen kann: Im Tenor der Entscheidung werden Art, Umfang und Gegenstand psychotherapeutischer Maßnahmen sowie der Umfang der Dokumentation gegenüber dem Gericht, die Frist (hier drei Monate) sowie weitere Maßnahmen (hier die wöchentliche Vorstellung beim medizinischen Dienst wegen Selbstverletzungen, umfassende Information des Untergebrachten über Behandlungsangebot der Anstalt und Vorschlag für geeignete Maßnahmen binnen eines Monats) aufgezählt. Außerdem wies das Gericht darauf hin, dass Mängel in der Umsetzung von § 66c StGB nicht mit einer schlechten Personalsituation im Vollzug gerechtfertigt werden können.
Das OLG Nürnberg macht zudem auf die Bedeutung einer umfassenden Sachaufklärung durch die Strafvollstreckungskammer im Hinblick auf die Vollzugsgestaltung nach § 66c StGB aufmerksam.(30) In einem Beschluss vom 23. Oktober 2013, der im Kern die Gewährung von Vollzugslockerungen nach Art. 54 des Bayerischen Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetzes betraf, wies das OLG die Justizvollzugsanstalt, in der der Beschwerdeführer untergebracht ist, deutlich darauf hin, dass die Verschleppung der Vollzugsplanung und der Vollzugsgestaltung entsprechend § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB dazu führen könne, dass eine Frist nach § 67d Abs. 2 StGB mit den entsprechenden Folgen gesetzt werden könne.
Zur Bedeutung des Abstandsgebots im Hinblick auf materielle Unterbringungsbedingungen meinte das LG Aachen,(31) dass die Haftraumgröße nur „Randbereich“ des Abstandsgebots sei und stellte fest, dass ein Zimmer mit 10,54 m2 und zusätzlich 1,20 m2 Sanitärbereich noch ausreichend groß sei. Das OLG Köln und das Kammergericht (KG9 Berlin haben zudem ausführlich untersucht, ob die Einrichtungen, in denen die Beschwerdeführer untergebracht waren, den Anforderungen von § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprachen. Sie kamen jeweils zu dem Ergebnis, dass das der Fall sei, weil es nicht bloß auf die materiellen Vollzugsbedingungen ankomme, sondern das Abstandsgebot ein Gesamtkonzept sei, das staatliche Einrichtungen nur anbieten könnten und dessen Erfolg auch von der Mitwirkung der Untergebrachten abhänge.(32)

5. Fazit

Festhalten lässt sich für die ersten Monate, dass das Programm, das § 66c StGB vorgibt, sehr ambitioniert ist und seine erfolgreiche Implementation von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, die nicht in der Hand der Bundesgesetzgebung oder -verwaltung liegen, sondern vor allem die Ausstattung der Vollzugseinrichtungen durch die Länder und den Stil der Anstalt bei der Umsetzung betreffen. Die Vollstreckungsgerichte haben bereits begonnen, ihre Kontrollfunktion aus § 67d Abs. 2 StGB wahrzunehmen und Einrichtungen, die sich bei der Umsetzung der neuen Anforderungen etwas schwer tun, auf die möglichen Konsequenzen hinzuweisen, nämlich die Entlassung der untergebrachten Person.

DR. KIRSTIN DRENKHAHN ist Juniorprofessorin für Strafrecht und Kriminologie an der Freien Universität Berlin. Sie untersucht vor allem die rechtliche Stellung von Langzeitgefangenen und deren Lebensbedingungen.

Anmerkungen:

(1) EGMR, M. gegen Deutschland, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (Online: hudoc.echr.coe.int/sites/eng/Pages/search.aspx)

(2) Dazu Kirstin Drenkhahn, Christine Morgenstern: Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen – Der Streit um die Sicherungsverwahrung. ZStW 124 (2012), S. 132-203 (171).

(3) Vgl. Hans-Ludwig Kröber: „Psychische Störung“ als Begründung für staatliche Eingriffe in Grundrechte des Individuums. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 5 (2011), S. 234-243; Christine Morgenstern: Krank – gestört – gefährlich: Wer fällt unter § 1 Therapieunterbringungsgesetz und Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK? Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 6 (2011), S. 974-981 (Online: www.zis-online.com/).

(4) BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. (Online: www.bverfg.de/entscheidungen/).

(5) BVerfG, Urteil v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01, Rn. 124-126.

(6) BVerfG, Urteil v. 4.5.2011, a.a.O., Rn. 103 ff., 112-118.

(7) Prinzipien angemessener Behandlung: risk – need – responsivity, D.A. Andrews, James Bonta, R.D. Hoge: Classification for effective rehabilitation. Criminal Justice and Behavior 17 (1990), S. 19-52; D.A. Andrews, James Bonta, J. Stephen Wormith: The recent past and near future of risk and/or need assessment. Crime & Delinquency 52 (2007), S. 7-27.

(8) Kirstin Drenkhahn: Secure preventive detention in Germany: Incapacitation or treatment intervention? Behavioral Sciences and the Law 31 (2013), S. 312-327 (320 ff.); Jürgen L. Müller: Die Regelungen der Sicherungsverwahrung im Lichte des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 04.05.2011 in ihren Auswirkungen auf Psychiatrie und Psychotherapie. Neue Kriminalpolitik 24 (2012), S. 54-61.

(9) Vgl. Erol Pohlreich: Die Gesetzgebungskompetenz für den Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft nach der Föderalismusreform I, in: Beatrice Brunhöber, Tobias Reinbacher, Moritz Vormbaum, Katrin Höffler, Johannes Kaspar (Hrsg.): Strafrecht und Verfassung, Baden-Baden 2013, S.

117-138. Siehe auch Heinz Cornel: Zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung des Bundesministeriums der Justiz vom 9. November 2011. Neue Kriminalpolitik 24 (2012), S. 2-4 (2).

(10) Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012, BGBl. I 2012, 2425, in Kraft getreten am 1.6.2013. Zur Beiordnung nach § 463 StPO Cornel, a.a.O., S. 3.

(11) Michael Bock, Sebastian Sobota: Sicherungsverwahrung: Das Bundesverfassungsgericht als Erfüllungsgehilfe eines gehetzten Gesetzgebers? Neue Kriminalpolitik 24 (2012), S. 106-112 (106 f.); Drenkhahn/Morgenstern, a.a.O., S. 193 f.; Drenkhahn, a.a.O., S. 321.

(12) Große Bedenken hat auch Axel Boetticher: Zur nachhaltigen Reform der Sicherungsverwahrung. Neue Kriminalpolitik 24 (2012), S. 149-165 (158 f.).

(13) Vgl. Kirstin Drenkhahn: Der deutsche Strafvollzug zwischen Über- und Unterbelegung, in: Axel Dessecker, Rudolf Egg (Hrsg.): Justizvollzug in Bewegung, Wiesbaden 2013, S. 67-84 (81); Müller, a.a.O., S. 59 f.

(14) Vgl. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Sicherungsverwahrung: Auf dem Weg in ruhigeres Fahrwasser. Deutsche Richterzeitung 91 (2013), S. 74-75 (75).

(15) Dazu Wolfgang Lesting, Johannes Feest: Die Neuregelungen des StVollzG durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Strafverteidiger 33 (2013), S. 278-281.

(16) Cornel, a.a.O., S. 3.

(17) Thomas Fischer: Strafgesetzbuch, 61. Aufl., München 2014, § 67a Rn. 6.

(18) Vgl. Müller, a.a.O., S. 59.

(19) Fischer, a.a.O., § 67a Rn. 5b.

(20) Norbert Konrad: Germany, in: Hans Joachim Salize, Harald Dreßing, Christine Kief (Hrsg.): Mentally disordered persons in European prison systems, Mannheim 2007, S. 154-160.

(21) Boetticher, a.a.O., S. 163 f.; Müller, a.a.O., S. 59; zur Prävalenz von psychichen Störungen bei Sicherungsverwahrten: Elmar Habermeyer, Daniel Passow, Knut Vohs: Is psychopathy elevated among criminal offenders who are under preventive detention pursuant to section 66 of the German Criminal Code? Behavioral Sciences and the Law 28 (2010), S. 267-276; Elmar Habermeyer, Peter Puhlmann, Daniel Passow, Knut Vohs: Kriminologische und diagnostische Merkmale von Häftlingen mit angeordneter Sicherungsverwahrung. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtspflege 90 (2007), S. 317-330.

(22) Müller, a.a.O., S. 59.

(23) Fischer, a.a.O., § 67a Rn. 5b.

(24) Boetticher, a.a.O., S. 159.

(25) Dazu Rita Haverkamp, Andreas Schwedler, Gunda Wössener: Die elektronische Aufsicht von als gefährlich eingeschätzten Entlassenen. Recht & Psychiatrie 30 (2012), S. 9-20; Frank Häßler, Holger Schütt, Jerzy Pobocha: Überwachung mittels „elektronischer Fußfessel“. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 7 (2013), S. 56-61; Andreas Maltry: Gerichtliche Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht beim Einsatz der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (EAÜ). Bewährungshilfe 60 (2013), S. 117-129.

(26) Dazu Fischer, a.a.O., § 67d Rn. 13a.

(27) Cornel, a.a.O., S. 3.

(28) Brandenburgisches OLG, Beschluss v. 2.1.2014 – 1 Ws 165/13; KG Berlin, Beschluss v. 4.9.2013, 2 Ws 327/13 u. a., Strafverteidiger 2014, 145-148; OLG Frankfurt, Beschluss v. 4.7.2013 – 3 Ws 136/13, 3 Ws 137/13, NStZ-RR 2013, 359-360.

(29) LG Marburg, Beschluss v. 13.9.2013, 7 StVK 109/12, und v. 28.10. 2013, 7 StVK 191/13.

(30) OLG Nürnberg, Beschluss v. 10.10.2013, 1 Ws 361/13; Beschluss v. 23.10.2013, 1 Ws 421/13, Strafverteidiger 2014, 151-152.

(31) LG Aachen, Beschluss v. 9.9.2013, 33i StVK 537/13.

(32) KG Berlin, Beschluss v. 4.9.2013, 2 Ws 327/13 u. a., Strafverteidiger 2014, 145-148; OLG Köln, Beschluss v. 4.9.2013, III-2 Ws 303/13, 2 Ws 303/13.

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