Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 206/207: Geheimdienstliche Kommunikationsüberwachung außer Kontrolle?

Politik mit den Mitteln des Strafrechts

aus: vorgänge Nr. 206/207 (Heft 2-3/2014), S. 99-101

Internationale Liga für Menschenrechte & Digitalcourage (Hrsg.), Spionage adé. Massenüberwachung und globale Datenspionage: Wir erstatten Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienste. Verlag Art d’Ameublement, Berlin/Bielefeld 2014,
150 Seiten, 8.- €.
ISBN 978-3-934636-14-9

In der Auseinandersetzung um Überwachungsfragen zeigt sich seit Jahren eine zunehmende Verrechtlichung politischer Debatten, wie auch umgekehrt eine Politisierung von Recht. Immer wieder klagen Opposition und zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Schutzansprüche gegenüber staatlichen Gesetzen oder Praktiken ein. Die Verfahren gegen die Online-Durchsuchung von Computern, gegen die Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten oder den elektronischen Einkommensnachweis ELENA haben zweifellos dazu beigetragen, dass die damit verbundenen Datenschutz-Probleme eine stärkere öffentliche Aufmerksamkeit erhielten. Die Gerichte sollten darüber befinden, wie weit die Privatsphäre angesichts der zunehmenden Digitalisierung öffentlicher Verwaltungsabläufe zu schützen sei, allen voran bei neuen Befugnissen für Polizei und Geheimdienste. Auch wenn sich einige Hoffnungen auf einen gerichtlich gestärkten Datenschutz nicht erfüllten[1], gab es auch bürgerrechtliche Erfolge zu verbuchen.

Vor diesem Hintergrund ist die gemeinsam von der Internationalen Liga für Menschenrechte und dem Verein Digitalcourage herausgegebene Broschüre zu sehen. Sie dokumentiert eine gemeinsame Strafanzeige beim Generalbundesanwalt, die die beiden Herausgeber zusammen mit dem Chaos Computer Club gegen Mitglieder der deutschen Bundesregierung und leitende Mitarbeiter_innen der Geheimdienste wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligungen an den Überwachungsmaßnahmen der NSA und anderer ausländischer Dienste erstattet haben. Für die Strafanzeige wurde um öffentliche Unterstützung geworben, ihr schlossen sich nach Angabe der Initiatoren fast 3.000 Personen an. Mit der Massenanzeige wurde der bisherige Pfad von Massenbeschwerden verlassen, die sich meist um Rechtsschutz für die Betroffenen mühten.

Doch zum Inhalt des Bandes: Den Auftakt bildet ein Essay des Bremer Rechtsanwalts und Publizisten Rolf Gössner, ausgewiesener Experte in Sachen Geheimdienste und selbst jahrzehntelanges „Beobachtungsobjekt“ des Verfassungsschutzes. Er geht auf die Einbindung Deutschlands in die US-amerikanische Sicherheitsarchitektur, die Beteiligung deutscher Behörden an den Überwachungsmaßnahmen und die neue Dimension der globalen, verdachtsunabhängigen Kontrolle des Kommunikationsverhaltens ein. Im Kern zielten diese Bemühungen auf eine informationelle Vorherrschaft zur „Sicherung politischer, ökonomischer und militärstrategischer (Hegemonial-)Interessen“ der Vereinigten Staaten in einer zunehmend von asymmetrischen Konflikten geprägten Welt. Dagegen verweist Gössner auf den notwendigen Schutz der informationellen Selbstbestimmung und die Integrität von IT-Systemen, auf die moderne demokratische Gesellschaften notwendig angewiesen sind. Wenn abweichende Meinungen und Interessen sofort observiert werden, sind Meinungsfreiheit und Pluralität in Gefahr – das mag man gern unterschreiben.

Den Hauptteil der Broschüre macht der mit 64 Seiten sehr umfangreiche Schriftsatz der gemeinsamen Strafanzeige aus, die die Herausgeber_innen am 3. Februar 2014 beim Generalbundesanwalt gestellt haben. Die gute Nachricht vorweg: Die juristische Begründung von Strafanzeigen gehört sicher nicht zu der Art von Literatur, für die sich ein größeres Publikum interessiert. Im vorliegenden Fall braucht sich jedoch niemand abschrecken zu lassen, der Text ist auch für Nicht-Jurist_innen gut verständlich und nachvollziehbar. Die Anzeige enthält noch einmal ausführliche Darstellungen zu den allgemeinen Dimensionen und Auswirkungen der digitalen Massenüberwachung sowie den politischen wie medialen Reaktionen auf die Enthüllungen Edward Snowdens.

Es folgt die Darstellung des strittigen Sachverhalts. Dabei werden in weiten Passagen Medienberichte, Wikipedia- und Literatur-Auszüge referiert, in denen von den Ausspähungen durch NSA, GCHQ und der mutmaßlichen Kooperation mit deutschen Stellen die Rede ist. Die Zusammenstellung ist irritierend, denn es werden verschiedenste Aktivitäten der Geheimdienste (Abhörprogramme, Datentransfers, Infiltrationen), gemeinsame Datenbanken, kooperierende Firmen, bauliche Gegebenheiten und gemeinsam unterhaltene Objekte bunt aneinander gereiht. Zudem sind die Textauszüge sehr umfangreich und enthalten auch viel Prosa. Nur ein Beispiel: „Der Linken-Abgeordnete Jan Korte ist mit den Antworten [der Bundesregierung] nicht zufrieden …“ (S. 90) Dafür hat Jan Korte sicher gute Gründe – als Bestandteil einer Strafanzeige irritieren solche Passagen, denn für derartige Meinungen und Wertungen sind Strafverfolgungsbehörden (glücklicherweise) nicht zuständig.

Nach einer kurzen Würdigung der grund- und menschenrechtlichen Schutzbereiche werden die strafrechtlich relevanten Tatverdachtsmerkmale gegen die einzelnen Beschuldigten erörtert und mit den gegebenen gesetzlichen Bestimmungen zur geheimdienstlichen Zusammenarbeit abgeglichen. Diese Ausführungen im Einzelnen juristisch zu bewerten, ist hier nicht möglich. Wie sich der Generalbundesanwalt zu der Anzeige verhalten hat, ist bekannt. [2]
Fünf Pressemitteilungen der an der Strafanzeige beteiligten Organisationen und Rechtsanwälte (Schultz & Förster aus Berlin), Textauszüge aus Medienberichten zur Strafanzeige sowie eine mehrseitige Auflistung von Medienbeiträgen (deren Mehrwert für den/die Leser_in nicht ganz ersichtlich ist) runden den Band ab.

Die Broschüre dokumentiert ein sehr engagiertes Vorhaben, darin liegt ihr Wert. Neueinsteiger_innen und junge Menschen, die sich an den jetzt veröffentlichten Machenschaften von NSA und Co. politisieren, werden darin sicher manche neuen Zusammenhänge erkennen. Für jene, die sich schon länger mit dem Thema Geheimdienste beschäftigen oder die auf sachliche Informationen über den NSA-Skandal aus sind, bietet die Broschüre dagegen wenig Neues.

Sven Lüders

[1] S. beispielhaft den Beitrag von Plöse in diesem Heft.

[2] „Generalbundesanwalt zu ‚Cyberspionage‘ und ‚Kanzlerin-Handy‘, Pressemitteilung 17/ 2014 des GBA vom 4.6.2014, abrufbar unter https://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=16&newsid=506.

Dateien

nach oben