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Wie es zum Ausch­witz-Pro­zess kam

Ein Gespräch mit Giulio Ricciarelli. Aus: vorgänge Nr. 206/207 (Heft 2-3/2014), S. 107-112

Wie es zum Auschwitz-Prozess kam

Giulio Ricciarelli wurde 1965 in Mailand geboren, machte eine Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule als Theaterschauspieler, war an verschiedenen Schauspielhäusern, trat in zahlreichen TV-Filmen auf und gründete 2000 naked eye filmproduction. Er inszenierte mehrere Kurzfilme und gab jetzt mit „Im Labyrinth des Schweigens“ sein Spielfilmdebüt. Das Drehbuch schrieb er mit Elisabeth Bartel, die bereits 2009 mit den Recherchen und der Stoffentwicklung begann. Vor dem Filmstart traf ich Giulio Ricciarelli im Soho-Haus in Berlin, um mit ihm über seinen Film und die historischen Hintergründe zu sprechen.

Welche Rolle spielt Fritz Bauer für den Film und für Sie?

Das große, große Verdienst von Fritz Bauer war ja, den Prozess anzusetzen, die verschiedenen Taten zu bündeln und die Idee, daraus einen großen Prozess zu machen und dann seinen Staatsanwälten den Rücken freizuhalten. Den eigentlichen Prozess, die mühsame Kleinarbeit, die haben ja tatsächlich die Staatsanwälte gemacht. Im Film haben wir sehr darauf geachtet zu zeigen, dass die Idee, die Initialzündung, von Fritz Bauer kommt. Der Prozess, der Gedanke, die Leute vor Gericht zu stellen, das ist Fritz Bauers großes Verdienst.

Man ist dann aber natürlich in der Position, wo man sich fragt, wie man das filmisch umsetzen kann. Es gibt ja Dokumentarfilme, es gibt sehr viele Bücher. Dem Mann ist praktisch auf ganz vielen Ebenen ein Denkmal gesetzt worden, vollkommen zu Recht. Für mich ist der Fritz Bauer ein ganz großer Humanist gewesen, der es geschafft hat, trotz der ganzen Verletzung und dem ganzen Schmerz für dieses junge Deutschland eine Vision der Aufklärung gehabt zu haben. Er wollte keinen Rachefeldzug, sondern – und ich glaube, dass wir das auch erzählen – er wollte erziehen. Der Prozess, das war ein ganz pädagogischer Ansatz. Deshalb hat er auch vom Kommandanten bis zum Aufseher einen Querschnitt gemacht. Es ist dann auch sehr traurig, wie wenige letztendlich verurteilt wurden. Es gab mehrere Prozesse: diesen, in Nürnberg und in Polen. Und wenn man die alle zusammenzählt, dann sind wir, glaube ich, bei drei Prozent der Täter.

Damals war es schwierig, die Taten gerichtsfest zu beweisen.

Was aber heute anders ist. Fritz Bauer hatte ja ursprünglich vor, Auschwitz als einen großen Mordakt zu betrachten. Sein Ausdruck war die ‚Mordmaschinerie‘, die wir auch im Dialog erwähnt haben. Er sagt: ‚Es war eine Mordmaschinerie und jeder, der daran mitgewirkt hat, hat sich per se schuldig gemacht.‘ Also einfach dort gewesen zu sein und mitgemacht zu haben. Das ist eine Rechtsmeinung, mit der er damals nicht durchgekommen ist. Interessanterweise hat die Bundesrepublik mit Bedacht die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sie eigentlich in das Strafgesetzbuch hätte übernehmen können, nicht übernommen. Es war zu dem Zeitpunkt juristisch gesehen nur als Mord, nicht mehr als Totschlag zu ahnden. Totschlag war verjährt, Mord musste jetzt spezifisch in Einzeltaten nachgewiesen werden. Heute hat sich die Rechtsmeinung geändert. Inzwischen ist man soweit, dass man sagt: ‚Wer dort war, hat sich schuldig gemacht‘. In der Tat versucht man jetzt ja noch diese ganzen neunzigjährigen Männer vor Gericht zu stellen,  was natürlich eine ungeheuer schwierige Situation ist. Die sind Neunzig. Die sind nicht mehr verhandlungsfähig. Die sind nicht mehr haftfähig. Die haben ihr ganzes Leben unbehelligt unter uns gelebt.

Was wollen Sie mit Ihrem Film erreichen?

Wir wollten einen emotionalen Kinofilm machen. Für mich ist Kino das Erleben von Welten und Zuständen; ganz klassisch, wie jemand am Lagerfeuer erzählt, was er erlebt hat und die ganze Gruppe hört zu. So ist Kino für mich. Es muss zum Erleben kommen. Wenn wir uns auf Fritz Bauer konzentriert hätten, hätte man die Geschichte verfälschen müssen. Fritz Bauer war ja ganz klar in seiner Haltung. Er hatte ein dramatisches Leben. Er war immer ein Humanist. Er wusste, was richtig ist und hat da auch nicht gezögert. Und was hätte man dann für einen Film machen können? Man hätte spekulieren müssen, denn vieles ist ja nicht belegt. Oder man hätte Sachen erfinden müssen.

Unser Konzept ist eigentlich, dass wir historisch wirklich genau sind. Wir haben sehr eng mit Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut zusammengearbeitet. Zum Beispiel die amtliche Liste mit den Namen der SS-Männer, die in Auschwitz Dienst hatten und die gefunden wurde. Über diese Liste kam der Auschwitz-Prozess in Gang. Das haben wir gezeigt. Wenn unser Hauptdarsteller die Zeugenaussage vorliest, dann benutzt er die Original-Zeugenaussage zur Ermordung des Jungen, der sich über einen Apfel freute. Wenn der Anwalt sagt: ‚An der Rampe zu selektieren, ist ein Akt der Menschlichkeit‘ – das war die Verteidigungsstrategie eines Anwalts im Prozess. Wir haben also überhaupt kein spekulatives Element. Aber wir haben ganz klar gesagt: Beim Staatsanwalt, da nehmen wir uns die Freiheit; das müssen wir dramatisieren, um in der Geschichte genau zu sein.

Warum ist für Sie die persönliche, emotionale Seite der Geschichte so wichtig?

Ein Kinofilm ist zwei Stunden Lebenszeit. Wenn jemand einen gut recherchierten Artikel über Fritz Bauer liest, weiß er nach zwanzig Minuten wahrscheinlich genauso viel wie bei uns. Was also können wir im Kino machen? Wir können den Zuschauer auf eine emotionale Reise mitnehmen und wir können ihm klar machen, wie die Atmosphäre damals war. Wie es sich anfühlen muss mit dieser Verdrängung. Wie es sich anfühlen muss, wenn ein Opfer einem Täter begegnet. Wie es sich anfühlen muss, wenn ein Junge herausfindet, dass sein Vater vielleicht doch keine reine Weste hatte. Wir haben zum Beispiel einen Oberstaatsanwalt – eine Figur, die ich sehr mag. Der war gar nicht in der Partei. Der ist aber, so wie Adenauer, der Meinung, es muss ein Schlussstrich gezogen werden. Diese Sachen wollten wir erlebbar machen und deshalb haben wir uns bei diesen emotionalen Kern die Freiheit genommen.

Es war damals tatsächlich so, dass die Staatsanwälte das Gefühl hatten, sie kommen ja gar nicht vor. Die tatsächliche Arbeit vor dem Prozess, das haben die Staatsanwälte gemacht. Bauer war der Generalstaatsanwalt und er hat den Auftrag gegeben. Die Initiative und die schützende Hand, das war Fritz Bauer. Und ich glaube, dass wir damit dem Geist von Fritz Bauer gerecht werden. Wenn ich ihn heute fragen könnte, würde er wahrscheinlich sagen: ‚Machen wir einen Film, der möglichst viele Leute erreicht, der spannend ist und diese Geschichte in die Welt bringt.‘ Genau das hat er ja mit dem Prozess gewollt.

Ich finde, sie haben die damalige Zeit, die gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien genau getroffen. So nennt der junge Staatsanwalt Radmann die Sekretärin, die seine Mutter sein könnte, immer Schmittchen.

Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir hatten am Anfang eine Radioansage: ‚Frauen dürfen weiterhin ihren Beruf nur mit Zustimmung des Ehemannes ausüben.‘ Das war ganz interessant. Eigentlich wollten wir folgenden Text einspielen: ‚Ab sofort können Frauen auch ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten‘. Aber das stimmt so nicht. Es gab das Gleichstellungsgesetz. Da stand: ‚Frauen dürfen einen Beruf ausüben, wenn sie ihre häuslichen Pflichten nicht vernachlässigen‘. Das heißt, es war immer noch die Zustimmung des Ehemannes notwendig.

Wir erzählen ja auch die Hierarchien, wie das damals war. Das waren einfach vollkommen andere Zeiten. Die Menschen waren viel hierarchischer. Damals hat ja fast jeder in irgendeiner Form den Krieg mitgemacht. Da waren viel stärkere Gefühlspanzer da, man hat sich einfach nicht so emotional gegeben.

Wie schwer war für Sie der Zugang in diese Welt, die sie auch nicht erlebt haben?

Es war wahnsinnig spannend und auch schön. Ich wurde dann etwas geschichtsbesessen. Man fängt an nachzudenken, nicht nur über diese Zeit. Man beschäftigt sich mit dem Zweiten Weltkrieg, mit dem ersten Weltkrieg. Was mir nie so klar war, wie dünn eigentlich die Schicht der Demokratie ist, wie prekär. Und was Deutschland durchgemacht hat und andere Länder hat durchmachen lassen, bis es das Land wurde, das es heute ist.

Ich bin dabei auch sehr demütig geworden. Die westlichen Länder schauen ja gerne auf andere herab und sagen ‚Ihr müsst das so und so machen.‘ Und dann schaut man in die eigene Vergangenheit und sagt:  ‚Leute, passt mal auf, was wir alles für ein Chaos angerichtet haben, bevor wir dahin gekommen sind.‘ Man hat einen ungeheuren Respekt vor dem Thema. Am Anfang, wenn man das Drehbuch beginnt, ist der nicht so da. Aber als das Projekt real wurde, sagt man sich irgendwann: ‚Um Gottes willen. Wir machen jetzt einen Film zum Thema Auschwitz.‘ Unser Thema sind die Fünfziger Jahre. Aber man nimmt dann natürlich in irgendeiner Form Stellung. Wir hatten da sehr großen Respekt davor. Wir hatten ja einen Verbrechenskomplex, der bestens dokumentiert ist und der Bilder hervorruft. Jeder hat die Bilder und Filme gesehen, heute kennt jeder die Schrecken. Und eigentlich erzählen wir von einer Zeit, in der man das nicht wusste. Deshalb haben wir eine sehr klassische Exposition, weil wir den Zuschauer mitnehmen mussten. Wir mussten ihn mit Hilfe der Hauptfigur in diesen Zustand der Unwissenheit bringen. So dass man sagt: ‚Ja, es war ein Schutzhaftlager gewesen.‘ Das ist historisch belegt, das war damals die Stimmung. Aber man kann es heute tatsächlich nicht glauben. Das Interessante ist eigentlich, das ist ein Gedanke von Alexander Fehling, dass Fritz Bauer und die Auschwitz-Prozesse heute genauso vergessen sind bei der normalen Bevölkerung, wie damals versucht wurde, die Verbrechen zu vergessen.

Wobei die Botschaft der Prozesse bekannt ist.

Ja. Aber bevor ich mich mit dem Prozess beschäftigt habe, wusste ich vieles nicht. Die Mittäterschaft ist ja ein ungeheuer großer und komplexer Vorgang gewesen in Deutschland: vom tatsächlichen Mitmachen, vom Wegsehen, vom Profitieren. Es gibt unglaublich viele Schattierungen. Aber es war in jedem Fall ein ganzes Volk, das sich verirrt hat. Es gab Widerstand. Es gab auch stillen Widerstand. Aber es gab unheimlich viele, die meisten, die einfach mitgemacht haben, die überzeugt waren. Das erzählt der Film.

Aber wenn man heute Filme über diese Zeit sieht, hat man unheimlich oft das Gefühl, dass es nur eine kleine Clique gab, die alle verführt und unterdrückt hat. Und als die weg waren, dann haben wir sofort alles aufgearbeitet. Das heutige Bewusstsein, dass die Amerikaner und die Russen uns befreit haben, das war damals nicht vorhanden. Damals glaubte man, wir Deutschen haben den Krieg verloren. Es ist alles zerstört, lasst uns nach vorne blicken und das Land wieder aufbauen. Aber die Russen wurden nicht als Befreier empfunden. Natürlich, die Leute, die von den Nazis unterdrückt waren, die haben das anders gesehen. Aber das Volk hat einfach, im Gefühl, den Krieg verloren. Und da erzählen wir uns, glaube ich, kulturell immer noch eine Geschichte, die nicht stimmt, weil die leichter zu ertragen ist: ‚Ja, es war schlimm, aber als es dann vorbei war, haben wir sofort anerkannt, was da war.‘ Aber so war es nicht. Und genau das ist eigentlich ein Beitrag, den der Film leisten will.

Gleichzeitig wollten wir auch einen Film machen, der funktioniert, wenn jemand gar nichts weiß. Also einfach die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der sich der Vergangenheit, der Schuld seines Vaters und der Gesellschaft stellt.

Der Film ist wie ein klassischer Polit-Thriller aufgebaut, in dem der Held ein Komplott aufdeckt.

Eigentlich ist der seelische Bogen des Helden der Kern unserer Dramaturgie. Was macht es mit ihm? Diese Ungläubigkeit, die Verzweiflung, dann auch der Hass, die Verurteilung. Uns war dieses humanistische Element ganz wichtig. Er hat ja seinen Vater im Krieg verloren. Er hat aber auch als Charakterschwäche diese Rechthaberei, dieses Wissen, was Gut und was Falsch ist. In einer der Schlüsselszenen, wenn er am Zaun von Auschwitz steht, sagt er: ‚Ich weiß nicht, was ich selber getan hätte, wenn ich dort gewesen wäre.‘ Und ich finde ehrlich gesagt diese Demut eine tolle Entwicklung des Charakters. Ein Psychoanalytiker hat einmal gesagt: der beste Schutz vor dem Faschismus ist die Erkenntnis, wie sehr er in einem selber steckt. Diese Mechanismen, wenn es auf die Schwachen geht oder jemand ausgegrenzt wird, gibt es überall. Ich mag diese Demut sehr und die Entwicklung der Figur, die dann sagt: ‚Für mich ist es das richtige, diesen Prozess zu machen.‘

Sie haben sich während der Arbeit an dem Film sicher auch mit der Frage beschäftigt, wie ein Staat mit Schuld umgehen kann?

Man muss sich das ansehen, was man als Volk getan hat. So wie ein Mensch, der persönlich Schuld hat und der er sich stellen muss, muss sich auch ein Volk dieser Schuld stellen. Ich mache keine Vergleiche. Dieser Holocaust ist einzigartig und wir haben darüber einen Film gemacht. Ich glaube, dass es ein unglaublich schmerzhafter Prozess ist und ich glaube, dass er vollführt werden muss. Mir fällt aber auch auf, dass er normalerweise nicht sofort passiert. Auch in Deutschland ist er ja nicht sofort passiert. Es hat achtzehn Jahre gedauert.

Sie kennen sicher „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Da geht es darum, dass die, die die Revolution machen, irgendwann geköpft werden, weil die, die vorher verwaltet haben, nachher wieder das Ganze übernehmen. Die Revolution frisst ihre Kinder. Ich glaube, das ist ein universelles Thema. Ich habe keine Lösung dafür, aber ich bin ganz klar der Meinung, dass, wenn Deutschland sich nicht dieser Schuld gestellt hätte, es verloren gewesen wäre. Ich halte das für ungeheuer wichtig. Im Auschwitz-Prozess ist das das erste Mal passiert. Es gab natürlich immer Kriegsprozesse. Heute sind solche Prozesse ein Teil unserer Kultur geworden. Das ist ein ungeheurer Verdienst, und der liegt eindeutig bei Fritz Bauer und diesen Staatsanwälten.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Axel Bußmer.

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