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Wie die „herr­schende Meinung“ zum Sozialstaat entstand

aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 146-149

John Philipp Thurn, Welcher Sozialstaat? Ideologie und Wissenschaftsverständnis in den Debatten der bundesdeutschen Staatsrechtslehre 1949-1990, Mohr Siebeck Tübingen 2013, 634 S., ISBN 978-3-16-152529-2, 89,- Euro

Die meisten juristischen Monographien beschränken sich auf die Erörterung der rechtsdogmatischen Aspekte einer bestimmten Thematik und behandeln deren historisch-gesellschaftliche Hintergründe und Wirkungszusammenhänge, wenn überhaupt, nur am Rande. Davon hebt sich die umfangreiche, vom derzeitigen BVerfG-Präsidenten Andreas Voßkuhle betreute Freiburger Dissertation von John Philipp Thurn wohltuend ab. Ihr zentrales Erkenntnisinteresse ließe sich als „einflusstheoretisch“ beschreiben: Auf welche Weise wird eine bestimmte Auslegung zur „herrschenden Meinung“ und erlangt damit die Hegemonie in der gesellschaftlichen Ideologieproduktion?

Für eine solche Untersuchung eignet sich das – im Grundgesetz nicht näher ausformulierte und begrifflich vage – Sozialstaatsprinzip besonders gut. In dessen Interpretation spiegeln sich die jeweils unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen der rechtswissenschaftlichen Protagonisten, was freilich nicht selten mit der Behauptung kaschiert wird, lediglich ein technisches und unpolitisches juristisches Handwerk zu betreiben. Mit diesem von den deutschen Staatsrechtslehrern selbst gestrickten Mythos der Politikferne räumt Thurn ein gutes Stück weit auf.

Seine Darstellung setzt in der Frühzeit der bundesdeutschen Verfassungsgeschichte ein: Hans Peter Ipsen referierte auf der Staatsrechtslehrertagung 1951 über „Enteignung und Sozialisierung“. Sein Vortrag gipfelte in der Aussage, dass das Grundgesetz mit Art. 15 die Sozialisierung „zum Inhalt seiner wirtschaftspolitischen Entscheidung gemacht“ habe und damit ein Akt der „Ablösung der kapitalistischen Ordnung“ ohne Bruch der legalen Kontinuität stattfinden könne (S. 39/40). Nun war der Referent beileibe kein Vertreter der politischen Linken, sondern durch sein vorheriges Engagement für das Nazi-Regime belastet. Es hätte also durchaus die Vermutung nahe gelegen, dass sich Ipsen durch seine aus heutiger Sicht radikalen Thesen „reinwaschen“ wollte – eine solche opportunistische Haltung ließe sich immerhin dadurch belegen, dass der Referent Jahre später entschieden „wirtschaftliberale“ Positionen vertrat.

Als wichtiger Exponent der „Sozialstaatsdebatte“ der fünfziger Jahre gilt denn auch weniger Ipsen als der sozialistische Wissenschaftler Wolfgang Abendroth. Dieser wollte referieren, als im Jahre 1953 das Thema Sozialstaat auf der Jahrestagung der Staatsrechtler verhandelt werden sollte. Dies wurde seitens des Vorstands der Staatsrechtslehrervereinigung verhindert, obwohl Abendroth selbst – wohl als unbelastetes „Aushängeschild“ gegenüber dem Ausland – in diesen Vorstand gewählt worden war. Der Wissenschaftler trug gleichwohl seine Positionen auf der Tagung vor, und zwar in Gestalt von Diskussionsbeiträgen. In Anknüpfung an den sozialdemokratischen Weimarer Staatstheoretiker Hermann Heller vertrat Abendroth ein Verständnis des Sozialstaats, wonach dieser auf die Ausdehnung des materiellen Rechtsstaats auf die Wirtschafts- und Sozialordnung ziele (S. 44). Die Verfassung räume mithin dem Gesetzgeber die Möglichkeit ein, im Interesse größerer sozialer Gleichheit gestaltend in die Wirtschaftsordnung einzugreifen. Abendroth war also in seinen Positionen durchaus zurückhaltender als Ipsen, der die Vergesellschaftung nicht nur als Möglichkeit, sondern als verfassungsrechtliches Gebot bezeichnete.

Anstelle von Abendroth hielt der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff das Hauptreferat auf der Jahrestagung 1953. Seine zentrale These lautete, dass dem Sozialstaatsprinzip kein Verfassungsrang zukäme, sondern sich dieses nur auf der Ebene der Verwaltung entfalten könne. Rechtsstaat und Sozialstaat seien „auf der Verfassungsebene nicht verschmolzen.“ Er ignorierte damit schlicht den Wortlaut des Grundgesetzes, das ja in Art. 20 Abs. 1 vom „sozialen Bundesstaat“ und in Art. 28 Abs. 1 vom „sozialen Rechtsstaat“ spricht. Tatsächlich war denn auch die Position Forsthoffs unter den Staatsrechtlern nicht mehrheitsfähig. Wie Thurn im Einzelnen nachweist, setzte sich statt dessen eine scheinbar vermittelnde Position als „herrschende Meinung“ der Staatsrechtslehre durch. Danach ist die Sozialstaatlichkeit auf einzelne sozialpolitische Korrekturen beschränkt, wobei der Status quo der ökonomischen Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt wird (vgl. S. 85 u. 444).

Während die Abendroth-Forsthoff-Kontroverse unter interessierten Wissenschaftler_innen schon weitgehend bekannt war, fördert Thurn in seiner Untersuchung bislang unterbelichtete Mechanismen der Hegemoniebildung in der Zunft der Staatsrechtslehrer zu Tage. Viele Mitglieder der angesehenen „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ waren durch ihre das Nazi-Terrorregime legitimierenden Veröffentlichungen belastet, was etwa 50 Jahre lang kollektiv „beschwiegen“ wurde. Auch die völlige Unterrepräsentanz von Frauen wurde jahrzehntelang kaum wahrgenommen. Noch 1981 sprach ein Bericht über die Jahrestagung von „über 200 Teilnehmer(n) und ihre(n) Damen“ (S. 273). 1979 ergriff zum ersten Mal mit Ilse Staff von der Uni Frankfurt eine Frau das Wort auf der Jahrestagung. Unter den Mitgliedern dominierten „liberalkonservative Sichtweisen auf Staat und Gesellschaft“ (S. 442). Eine verfassungsrechtliche Linke kam auf den Staatsrechtslehrertagungen nicht mehr zu Wort, nachdem Abendroth und Ridder sich aus der Vereinigung zurückgezogen hatten (S. 569). Die wenigen Vertreter_innen linker Positionen wurden aus dem akademischen Disput ausgegrenzt, indem ihnen „Politisierung“ vorgeworfen und die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde. Frappierendes Beispiel für diese auch heute noch wirksame Ausgrenzungsmethode ist ein Brief Forsthoffs an seinen Lehrer Carl Schmitt aus dem Jahre 1954, in dem Abendroth als „jugendbewegter Phantast und in keinem Sinne ein Jurist“ abqualifiziert wurde (S. 110, Fn. 499). Die umfangreiche, 1973 erschienene Monographie „Das Grundrecht auf Mitbestimmung“ des bekannten sozialdemokratischen Arbeitsrechtlers Wolfgang Däubler wurde in einer Besprechung als „politische Kampfschrift“ gebrandmarkt, die „ihre wissenschaftliche Aufmachung nur als Kampfmittel benutzt.“ (S. 368, Fn. 544).(5) Um diesen exkludierenden Mechanismen zu entgehen, argumentierten die wenigen in der Vereinigung verbleibenden „progressiven” Wissenschaftler_innen defensiv, indem sie ihre Positionen als „konservativ“ oder als „eigentlich liberal“ etikettierten (S. 530).

Am Ende der Untersuchung unternimmt der Autor noch einen Ausblick auf die Entwicklung nach 1990. Dass es sich bei der behaupteten Politikferne der Staatsrechtslehre um pure Ideologie handelt, belegt ein weiteres Mal die massive Kritik der meisten Staatsrechtler an den Vorschlägen zur Verankerung sozialer Grundrechte im Rahmen der Debatte um eine gesamtdeutsche Verfassung in den Jahren 1989/90. Pessimistisch stimmt der Blick auf das Schicksal des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebots im Zuge der weiter voranschreitenden Integration in die EU: Statt Offenheit für sozialstaatlich motivierte Eingriffe in die Wirtschaftsordnung herrscht jetzt der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 119 u. 120 AEUV). Damit findet die in Deutschland herrschende, auf den Erhalt der ökonomischen Machtverhältnisse gerichtete Verfassungsinterpretation ihre Entsprechung auf EU-Ebene.

Auch wenn sich diese ernüchternde Einsicht bei Thurn nicht in dieser Deutlichkeit findet – die Rezensent wünscht sich mehr solcher Untersuchungen, die den Anspruch einer wirklichen Rechtswissenschaft ernst nimmt, indem sie die Entwicklung juristischer Dogmatik in ihrer Geschichtlichkeit und Interessengebundenheit beleuchtet.

Martin Kutscha
ist Staatsrechtsprofessor im Ruhestand und Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union.

Anmerkungen:

(5) Übrigens wurde auch die juristische Dissertation des Rezensenten, in welcher der sog. Radikalenerlass einer verfassungsrechtlichen Kritik unterzogen wurde, von dem „Extremismusforscher“ Eckhard Jesse in der F.A.Z. v. 3.8.1981 als Versuch gewertet, „die orthodox-marxistische Position theoretisch abzusichern“. Nicht nur in der Ära des Kalten Krieges bedeutete dies eine Art publizistisches Todesurteil für eine Karriere in der Rechtswissenschaft.

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