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Die Kirchen­hö­rig­keit des Bundes­ver­fas­sungs­­­ge­richts und sein Selbst­wi­der­spruch

11. August 2015

aus: vorgänge Nr. 209 (Heft 1/2015), S. 123-128

(Red.) Ende vergangenen Jahres bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Kündigung eines Chefarztes, der zuvor in einem Krankenhaus in katholischer Trägerschaft tätig war, wegen dessen Wiederverheiratung. Mit seinem Beschluss vom 22.10.2014 (2 BvR 661/12) hob das Gericht ein gegenteiliges Urteil des Bundesarbeitsgerichtes auf (BAG-Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10). Das BAG hatte das Recht des Chefarztes auf Schutz seiner Ehe und auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit höher gewichtet als das sog. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Das BVerfG entschied jedoch zugunsten des katholischen Krankenhauses.

Über die konkrete Entscheidung hinaus ist der Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG auch insofern bedeutsam, als er konkrete Vorgaben für die Abwägung zwischen den Rechten der Arbeitnehmer_innen einerseits und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bzw. Selbstverständnis andererseits trifft (s. Leitsatz 1 der Entscheidung) und den Umfang der gerichtlichen Überprüfung für Entscheidungen kirchlicher Arbeitgeber erneut einschränkt. Till Müller-Heidelberg kommentiert die Entscheidung.

1. Alle Jahre wieder

Seit dem 1. Januar 2000 war ein katholisch verheirateter Chefarzt der Abteilung Innere Medizin bei einem katholischen Krankenhausträger in Düsseldorf beschäftigt. Im Jahre 2005 trennten sich die Ehepartner und im August 2008 heiratete der Chefarzt standesamtlich seine damalige Lebensgefährtin. Dies führte zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den katholischen Krankenhausträger, da nach der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ die Beschäftigten von katholischen Arbeitgebern zur Loyalität gegenüber den kirchlichen Glaubenssätzen verpflichtet sind und die Ehe nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche unauflöslich ist. Nach Auffassung der Katholischen Kirche lebte der Chefarzt folglich nunmehr im Konkubinat mit zwei Ehefrauen bzw. war die zweite Ehe ungültig. Der Chefarzt habe sich in seinem Arbeitsvertrag zur Einhaltung der Grundordnung verpflichtet.

Mit seinem Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985 (2 BvR 1703/83, BVerfGE 70, 138) hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass nach Artikel (Art.) 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV), der gemäß Art. 140 Grundgesetz (GG) fort gilt, die Religionsgesellschaften „ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für Alle geltenden Gesetzes“ ordnen und verwalten und sie deshalb für ihre Arbeitsverhältnisse auch besondere Loyalitätsverpflichtungen anordnen können, bei deren Verletzung die Arbeitsverhältnisse gekündigt werden können. Allerdings müsse eine Abwägung zwischen diesem Recht der Religionsgemeinschaften und den entgegenstehenden Grundrechten der Arbeitnehmer auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG), auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Grundgesetz), auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) oder auf Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) erfolgen. In Befolgung dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hatten Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht die Kündigung des Chefarztes für unwirksam erklärt, weil sie zum einen gegen das Willkürverbot verstoße, denn die Katholische Kirche hatte in anderen Fällen einer Wiederverheiratung keine Kündigung ausgesprochen, und zum zweiten im vorliegenden Falle der Schutz von Ehe und Familie des Chefarztes schwerwiegender zu berücksichtigen sei als der Verstoß gegen das Postulat der Katholischen Kirche von der Unauflöslichkeit der Ehe.

Mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 ( 2 BvR 661/12) hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, weil es das Verfassungsrecht der Religionsgesellschaften auf selbständige Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten verletze – und damit sich päpstlicher verhalten als der Papst. Unter dem Papst Franziskus hat die im Herbst 2014 in Rom tagende weltweite Bischofssynode Zweifel an der bisherigen Position der Katholischen Kirche zur Unauflöslichkeit der Ehe erkennen lassen, und am 7. Mai 2015 berichtete die Presse bundesweit, dass die katholischen Bischöfe nun eine Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts beschlossen hätten, Scheidung und erneute standesamtliche Heirat sollen nur noch in Ausnahmefällen ein Kündigungsgrund sein. Dies solle auch für das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gelten, was bisher ebenfalls einen schweren Loyalitätsverstoß gegen das katholische Arbeitsrecht darstellte.

2. Selbst­be­stim­mungs­recht der Kirchen?

Grundsätzlich wiederholt das Bundesverfassungsgericht immer wieder, dass der Staat des Grundgesetzes ein weltlicher Staat sei und religionsneutral zu sein habe. Art. 3 Abs. 3 GG bestimme, dass Niemand wegen seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden dürfe. Die Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sei nach Art. 4 GG unverletzlich. Dazu gehöre in der Formulierung des früheren Richters des Bundesverfassungsgerichts Jürgen Kühling auch „das Recht, an eine Heilslehre zu glauben oder auch nicht. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist nicht weniger geschützt als das Fernbleiben, der Kircheneintritt nicht weniger als der Kirchenaustritt“(1).

Trotz dieser verfassungsrechtlich gebotenen Religionsneutralität des Staates des Grundgesetzes leitete das Bundesverfassungsgericht aus der Bestimmung Art. 137 Abs. 3 WRV, wonach jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für Alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet, ab, dass die Kirchen ein eigenständiges Arbeitsrecht entwickeln dürften. Dies führte zum Ausschluss von Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht, zum weitgehenden Ausschluss des Tarifvertragsrechts und zur Schaffung von kircheneigenen Kündigungsgründen im allgemeinen Arbeitsrecht – somit zu einem kirchlichen Sonderarbeitsrecht.(2)

Dabei verkennt das Bundesverfassungsgericht, dass den Religionsgesellschaften die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten nur „innerhalb der Schranken des für Alle geltenden Gesetzes“ verfassungsrechtlich verbürgt ist und dass die Grundrechte ebenso wie das Tarifvertragsgesetz oder das Kündigungsschutzgesetz „für Alle geltende Gesetze“ sind, die folglich Ausnahmen für kirchliche Arbeitgeber nicht zulassen. – Dies war zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung völlig unstreitig, die mit ihrem Art. 137 WRV lediglich in das Grundgesetz inkorporiert wurde und folglich weiter gilt, während das Bundesverfassungsgericht daraus ein neues Recht geschaffen hat.

Besonders bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht – und ihm folgend die Arbeitsgerichte – maßgeblich darauf abstellt, dass die von den Religionsgesellschaften beschäftigten Arbeitskräfte sich in ihrem Arbeitsvertrag ausdrücklich den Loyalitätsverpflichtungen der Grundordnung der Kirchen unterworfen hätten. Dabei wird verkannt, dass der Arbeitnehmer sich typischerweise keineswegs freiwillig den Formulierungen des Arbeitsvertrages unterwirft, sondern diese ihm als allgemeine Geschäftsbedingungen vom Arbeitgeber unabänderlich vorgegeben werden – was die Gerichte in anderer Hinsicht durchaus berücksichtigen und entsprechende Regelungen in Arbeitsverträgen auf ihre Angemessenheit überprüfen und ggfs. verwerfen. Ebenso wird verkannt, dass Arbeitnehmer kirchlicher Arbeitgeber sich großenteils nicht freiwillig in den kirchlichen arbeitsrechtlichen Dienst begeben. Mit ca. 1,3 Millionen Beschäftigten sind die Kirchen nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland, da hierzu nicht nur die Pfarreien zählen, sondern auch alle Tätigkeitsbereiche etwa der Caritas und der Diakonie und somit unzählige Krankenhäuser, Altersheime, Sozialdienste, Kindergärten, Schulen und Bildungseinrichtungen. In weiten Teilen Deutschlands hat die Kirche in diesen Bereichen nahezu ein Monopol als Arbeitgeber. Als Arzt, Sozialarbeiter, Krankenschwester, Altenpflegerin, Kindergärtnerin oder Pädagoge hat man häufig keine Wahl, zu welchem Arbeitgeber man gehen möchte.

3. Unkenntnis des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts von seiner eigenen Recht­spre­chung?

In den letzten beiden Jahrzehnten hatten sich in Literatur und Rechtsprechung durchaus Lockerungen von der strikten Selbstbestimmung der Kirchen im Arbeitsrecht angedeutet.(3) Zwar sollten allein die Kirchen und nicht die Gerichte entscheiden, was sie für einen Loyalitätsverstoß nach ihrem eigenen Selbstverständnis halten, aber indem der arbeitsrechtliche Grundsatz, dass es keinen absoluten Kündigungsgrund gibt, sondern immer eine Interessenabwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers vorgenommen werden müsse, auch im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts trotz des angeblichen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen angewandt wurde, konnte zwischen dem kirchlichen Loyalitätsverstoß und den Grundrechten der Arbeitnehmer abgewogen werden. Mit dem Beschluss vom 22. Oktober 2014 ist das Bundesverfassungsgericht aber in das Mittelalter zurückgekehrt, als kirchliche Glaubenssätze auch das weltliche Leben rechtlich bestimmten. Dabei hat es obendrein seine eigene Rechtsprechung in diesen Fragen missachtet.

Wie schon im grundlegenden Urteil vom 4. Juni 1985 führt das Bundesverfassungsgericht auch im Beschluss vom 22. Oktober 2014 (2 BvR 661/12, Rdnr. 118) aus, dass der Staat (das Arbeitsgericht) im Kündigungsschutzprozess das „glaubensdefinierte Selbstverständnis der Kirche … seinen Wertungen und Entscheidungen zugrunde zu legen (und) … einer Bewertung solcher Glaubensregeln sich zu enthalten“ hat – allerdings nur, solange dies glaubensdefinierte Selbstverständnis der Kirche „nicht in Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen steht … wie sie im allgemeinen Willkürverbot und in den Begriffen der guten Sitten und des ordre public ihren Niederschlag gefunden haben“. Dabei „vergisst“ das Bundesverfassungsgericht, dass nach seiner eigenen Rechtsprechung (und der des Bundesgerichtshofs) die katholische Unauflöslichkeit der Ehe dem deutschen ordre public widerspricht. Art. 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, ist „eine wertentscheidende Grundsatznorm für das gesamte Ehe- und Familienrecht“(4), die es verbietet, die Nichtanerkennung des deutschen Scheidungsurteils durch das Spanische Recht hinzunehmen. Die Nichtanerkennung des deutschen Scheidungsurteils (sei es nach spanischem Familienrecht, sei es nach katholischem Selbstverständnis) ist ein Verstoß gegen den ordre public des deutschen Rechts nach Maßgabe von Art. 6 GG (Rdnr. 67).(5) Das Bundesverfassungsgericht hat also ohne Not die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben und sich mit sich selbst in Widerspruch gesetzt.

4. Zurück zum Grundgesetz

Die ehemaligen Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts Christine Hohmann-Dennhart und Renate Jäger haben darauf hingewiesen, dass nach Art. 1 Abs. 3 GG „die nachfolgenden Grundrechte … Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden, und es nicht sein kann, dass der Staat (durch seine Arbeitsgerichte) sich von diesen Bindungen selbst befreit, indem er nicht selbst handelt, sondern Andere mit weitgehender oder vollständiger staatlicher Finanzierung für sich handeln lässt. Kindergärten und Schulen etwa werden – auch in kirchlicher Trägerschaft – weitestgehend vom Staat finanziert, Krankenhäuser und Altersheime zu 100 Prozent von den Sozialleistungsträgern. Es widerspricht dem grundgesetzlichen Auftrag, wenn der Staat durch seine Finanzierung diese Aufgaben faktisch auch in kirchlicher Trägerschaft sicherstellt, der Kirche jedoch das Bestimmungsrecht überlässt. „Denn letztlich finanziert er (der Staat) hier Grundrechtseinschränkungen, die ihm selbst verboten sind“(6)

Die Ankündigung der deutschen katholischen Bischöfe, das kirchliche Arbeitsrecht zu ändern, ist ein wichtiger und begrüßenswerter Schritt, kann aber das Problem nicht lösen. Denn nach den Presseberichten sollen lediglich die Verstöße bei einigen kirchlichen Loyalitätsverpflichtungen, nämlich bei einer zweiten standesamtlichen Heirat oder beim Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, weniger scharf sanktioniert werden, während der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft, der nach Art. 4 GG uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Schutz genießt, weiter als Kündigungsgrund bestehen bleibt. Und selbst bei einer zweiten standesamtlichen Heirat soll nach dem neuen kirchlichen Arbeitsrecht lediglich die Automatik der Kündigung entfallen. Sie soll „nur in Ausnahmefällen Kündigungsrelevanz“ behalten. Welche Ausnahmefälle das sein sollen, bleibt ungewiss.

Deshalb muss weiter betont werden, dass unsere Verfassung ein kirchliches Sonderarbeitsrecht nicht vorsieht (auch die Weimarer Reichsverfassung ein solches nicht kannte), dass Art. 137 Abs. 3 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG den Religionsgesellschaften lediglich die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten „innerhalb der Schranken des für Alle geltenden Gesetzes“ garantiert und zu den allgemein geltenden Gesetzen neben den Grundrechten u.a. auch das Kündigungsschutzgesetz gilt – und zwar ohne Einschränkungen auch im kirchlichen Bereich.

DR. TILL MÜLLER-HEIDELBERG   Jahrgang 1944, ist Rechtsanwalt, Beiratsmitglied und langjähriger Bundesvorsitzender der Humanistischen Union, Gründungsmitglied der IALANA und Herausgeber des Grundrechte-Reports. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu verfassungsrechtlichen Fragen und zu Sicherheitsbehörden.

Anmerkungen:

(1)  Jürgen Kühling, Ich glaub’s nicht. Kirchenaustritt und Religionsfreiheit im Sozialrecht, in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2007, S. 82.

(2)  Ausführliche kritische Darstellung bei Müller-Heidelberg, Kirchliches Sonderarbeitsrecht?, vorgänge Nr. 203 (3/2013), S. 75 ff.

(3)  Vgl. im Einzelnen Müller-Heidelberg, a.a.O.

(4)  Bundesverfassungsgericht vom 4. Mai 1971, 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58, Rdnr. 29.

(5)  So auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 27. November 1996 – XII ZR 126/95, in: FamRZ 1997, S. 542.

(6)  Hohmann-Dennhart/Jäger, in: Hanau/Kühling (Hrsg. ), Selbstbestimmung der Kirchen- und Bürgerrechte, Erste Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften, 2004, S. 64.

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