Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Die Behandlung der Suizid­be­tei­li­gung im geltenden Strafrecht

In: vorgänge 210/211 (2-3/2015), S. 38-52

Die strafrechtliche Behandlung der Suizidbeteiligung ist aktuell Gegenstand gesetzgeberischer Debatten. Im Rahmen der parlamentarischen Arbeit wird aber die Rechtslage nicht selten ungenau dargestellt. Dies liegt wohl darin begründet, dass sich die Straffreiheit bzw. Strafbarkeit einer Suizidbeteiligung nicht allein aus den einschlägigen strafrechtlichen Normen ergibt; dafür ist vielmehr auch ein Verständnis komplexer rechtsdogmatischer Figuren und der einschlägigen Rechtsprechung notwendig. Georgios Sotiriadis räumt im folgenden Beitrag mit einigen juristischen Missverständnisse zu diesem Bereich auf und zeigt Konsequenzen aus der unübersichtlichen Rechtslage auf.

Die Bewertung der im Bundestag diskutierten Vorschläge zur Neuregelung der Suizidassistenz setzt eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts der Suizidbeteiligung voraus. Im Folgenden wird deshalb die Strafbarkeit der Suizidteilnahme de lege lata analysiert. Dazu wird zunächst eine Abgrenzung zwischen strafloser Suizidteilnahme und strafbarer Tötung auf Verlangen vorgenommen. Anschließend wird auf das Kriterium der Freiverantwortlichkeit des Suizides sowie auf das Problem der strafrechtlichen Rettungspflichten nach einem Suizidversuch eingegangen. Da sich eine Strafbarkeit der Suizidteilnahme nicht nur aus den Tötungsdelikten (§§ 211 ff. StGB) ergeben kann, werden in der gebotenen Kürze auch andere Strafvorschriften, die bei Suizidteilnahme relevant werden können, wie der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c StGB thematisiert.
Zum besseren Verständnis und um den Rahmen nicht zu sprengen, wird auf strafrechtsdogmatische Einzelheiten bewusst verzichtet. Das Gleiche gilt für die Wiedergabe von und die Auseinandersetzung mit der mittlerweile unübersichtlich gewordenen Literatur. Ziel dieses Aufsatzes ist es aber gleichwohl, einen Umriss über die strafrechtsdogmatischen „Untiefen“ der Suizidbeteiligung zu liefern. Dabei lassen sich die Einzelheiten dieses Rechts nicht einfach durch eine Auslegung der relevanten Vorschriften ermitteln, vielmehr spielt bei der Ausgestaltung des Rechts der Suizidbeteiligung die Rechtsprechung eine zentrale Rolle. Aber auch das dabei entstandene Richterrecht lässt sich dogmatisch nicht „sauber“ einordnen. Es unterliegt starken normativen – nicht immer unangefochtenen – rechtsethischen Wertungen. Ähnlich disparat verläuft auch der strafrechtswissenschaftliche Diskurs. In ihm wird aber nicht über die kriminalpolitische Ausrichtung von Sterbehilfe gestritten. Es herrscht weitgehend Konsens bzgl. der Zulässigkeit der passiven und indirekten Sterbehilfe sowie der Zulässigkeit des assistierten Suizides. Rege debattiert werden nur die Begründungswege und -strategien.1
1. Die strafrechtliche Behandlung des assistierten Suizids – vor dem Suizid
a) Die Straflosigkeit des Suizids
Bevor man sich mit der Frage einer eventuellen Strafbarkeit der Suizidteilnahme beschäftigt, stellt sich die viel grundsätzlichere Frage, ob der Suizid als solcher strafbar ist. In der Moralphilosophie gibt es bekanntlich stark differierende Urteile über die ethische Bewertung des Suizids2, nur in der christlichen Theologie wird der Suizid ganz überwiegend missbilligt.3 Die strafrechtliche Antwort auf diese Frage war nicht immer einhellig. Strafrechtsdogmatisch betrachtet lässt der Wortlaut von § 212 StGB („wer einen Menschen tötet“…) keinen eindeutigen Schluss zu. Denkbar wäre auch eine Identität zwischen Täter_in und Opfer. Seit in Krafttreten des Reichstrafgesetzbuches 1871 wird aber in Deutschland eine Strafbarkeit des Suizidenten mehrheitlich verworfen.4
Dieser dogmatische Konsens geht auf rechtsgeschichtliche Argumente sowie auf das Telos der Tötungsdelikte zurück.5 Die graduelle Entkriminalisierung des Suizids seitens des historischen Gesetzgebers zeugt von einem gesetzgeberischen Willen und einem darauf zurückführenden gesellschaftlichen Konsens, den Suizid straflos zu stellen. Zum gleichen Ergebnis kommt man auch, wenn man die historisierende Auslegung verlässt und objektiv teleologisch argumentiert wird. Schutzgut der Tötungsdelikte der §§ 211 ff. StGB ist das Leben eines Individuums, jedoch nicht als ein abstrakter Wert. Entgegen dem oftmals vorgetragenen Gemeinplatz ist der strafrechtliche Schutz des Rechtsguts Leben nicht absolut. Das Leben wird im Strafrecht vielmehr vor Fremdgefährdungen und –verletzungen geschützt.6 Gesetzessystematisch lässt sich diesbezüglich anführen, dass es widersprüchlich wäre, eine einverständliche Fremdtötung, wie z.B. nach einem ernstlichen und ausdrücklichen Verlangen des Getöteten durch § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) privilegierend zu behandeln und gleichzeitig die Selbsttötung (oder genauer: einen Suizidversuch) als einen Fall des Totschlags gem. § 212 StGB strenger zu bestrafen.7 Nicht zuletzt wäre eine Strafbarkeit des Suizids von einer verfassungsrechtlichen Warte aus kaum tragfähig, weil damit mittelbar eine Rechtspflicht zum Leben eingeführt würde, die grundgesetzlich keinesfalls begründbar ist.8 Der Suizid(-versuch) ist somit stets tatbestandslos.9

b) Die Akzessorietät der Teilnahme
Wenn aber der Suizident/die Suizident_in straflos bleibt, kann dann der/die Teilnehmer_in an einem Suizid bestraft werden? Ein ausdrücklicher Straftatbestand, welcher die Verleitung oder die Beihilfe zur Selbsttötung kriminalisiert, ist im deutschen Strafrecht, anders als in vielen europäischen Rechtsordnungen, bisher nicht vorhanden.10 Die Frage der Strafbarkeit der Suizidteilnahme ist deshalb zu verneinen. Der erste Gedanke, der dagegen spricht, ist strafrechtsdogmatischer Natur und entspringt der Konzeption jeder Teilnahmestrafbarkeit. Demnach gilt gem. §§ 26 f. StGB für die Strafbarkeit der Teilnahmeformen (scil. Anstiftung und Beihilfe) das Prinzip der sog. limitierten Akzessorietät. Das bedeutet, dass die Strafbarkeit des Teilnehmers/der Teilnehmer_in an das Vorliegen einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Tat des Haupttäters/der Haupttäter_in anknüpft. Liegt beim Suizid, wie dargelegt, keine solche Haupttat vor, macht sich auch der Teilnehmer/die Teilnehmer_in nicht strafbar (sog. Akzessorietätsargument).
Oft wird in der Literatur dieses etwas rechtstechnisch anmutende Argument als zu formalistisch angegriffen. Stattdessen wird die rechtsphilosophische Figur der Autonomie und der Eigenverantwortung bemüht, um zur Straflosigkeit des Suizidteilnehmers/der Suizidteilnehmer_in zu gelangen. Denn der Vollzug einer autonomen Entscheidung über die Lebensbeendigung kann nicht Strafbarkeitsrisiken für diejenigen Personen bergen, die letztendlich an der Durchführung dieser fremden autonomen Entscheidung lediglich mitgewirkt haben.11 Meines Erachtens hängen beide Argumente sehr eng miteinander zusammen. Denn die Installierung eines Systems limitierter Akzessorietät in der gängigen Strafrechtsdogmatik hat unter anderem zum Ziel, die Strafbarkeit der Teilnahme in solchen Konstellationen auszuschließen, bei denen eine (nicht tatbestandliche oder rechtswidrige) Handlung als Realisierung von Selbstbestimmungsrechten erscheint.
c) Mögliche Teilnahmehandlungen
Wie kann sich ein_e Suizidwillige_r helfen lassen? Die Förderung einer Selbsttötung kann sehr unterschiedlich ausfallen. Im gegenwärtigen Gesetzgebungsprozess werden vor allem zwei Konstellationen hervorgehoben: a) der sog. ärztlich assistierte Suizid, zugespitzt durch die Verschreibung eines todbringenden Arzneimittels, das der Suizident/die Suizident_in selber zu sich nimmt und b) das Angebot von Sterbehilfevereinen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen durch Vermittlung eines Arztes/einer Ärzt_in, der/die unter bestimmten Bedingungen bereit ist, ein solches Rezept zu erstellen sowie durch Begleitung des gesamten Sterbegeschehens durch so genannte „Sterbehelfer“. Die Konzentration auf diese Konstellationen versperrt den Blick auf die Möglichkeit vieler anderer Fallgestaltungen, deren juristische Beurteilung sich nicht ohne weiteres unproblematisch gestaltet.
Hinsichtlich der Akteure gilt, dass suizidfördernde Beiträge nicht nur von Ärzt_innen geleistet werden können, sondern von sämtlichen Personen, die einen kausalen Beitrag zur Durchführung eines Suizids erbringen. Im Rahmen der Beihilfe ist eine nicht näher zu konkretisierende Kasuistik denkbar: Als Gehilfe/Gehilf_in einer Selbsttötung ist z.B. sowohl der Waffenverkäufer einzustufen, der einem/einer Suizidwilligen im Wissen seines/ihres Vorhabens eine Schusswaffe verkauft, als auch der/die Angehörige des Suizidenten,/der Suizident_in der ihm/ihr die erforderlichen Kugeln verschafft. Als Suizidteilnahme ist darüber hinaus auch die Anstiftung zu einem Suizid zu bewerten, wobei als Anstiftung gem. § 26 StGB die Verursachung einer Tatentscheidung zu bewerten ist. Die Aufforderung gegenüber einer anderen Person z.B. angesichts eines körperlichen oder seelischen Leids Suizid zu begehen, fällt dementsprechend unter Anstiftung, die in der Regel straflos bleiben wird.
d) Das Kriterium der Freiverantwortlichkeit
Die Straflosigkeit der Hilfe beim Suizid wird jedoch aufgehoben wenn der Suizident/die Suizident_in nicht aus freien Stücken, in der einschlägigen Terminologie also nicht freiverantwortlich handelt. Deshalb ist zu fragen, ob ein Suizid freiverantwortlich sein kann. Dabei handelt es sich um eine Frage, die nicht nur den juristischen Bewertungshorizont überschreitet, sondern wissenschaftstheoretisch anzuzweifeln ist, ob diese Frage überhaupt „beantwortbar“ ist. Gleichwohl entspricht es dem heutigen Konsens in Psychologie und Psychiatrie, dass ein freiverantwortlicher Suizid möglich ist.12 Bei der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit überschneiden sich disziplinäre Vorverständnisse (z.B. der Medizin) und kulturelle Wertungen mit anthropologischen Konstanten (hohe psychische Hemmschwelle für eine Selbsttötung) und gesellschaftspolitischen Zwängen (Tabuisierung jeder Selbsttötung). Dem (Straf)Recht kommt dabei eine integrierende Funktion zu. Erst das strafrechtliche Verständnis der Freiverantwortlichkeit schafft und gewährleistet eine intrasystematische (Rechts-)kohärenz und Rechtssicherheit.
e) Abgrenzung strafloser Suizidteilnahme von der strafbaren Fremdtötung
Das Kriterium der Freiverantwortlichkeit ist deswegen so wichtig, weil es Verantwortungssphären festlegt und somit die Zurechnung einer Handlung zu einem bestimmten Akteur zulässt. Demzufolge bleibt die Teilnahme an einem Suizid dann straflos, solange das Suizidgeschehen auf einer freiverantwortlichen Willensentschließung des Suizidenten/der Suizident_in beruht. Fehlt diese freiverantwortliche Willensentschließung, geht der Beitrag dieser Teilnahme in eine täterschaftliche Fremdtötung über. Es stellt sich die Frage, ob seitens des Mitwirkenden an einem nicht-freiverantwortlichen Suizid ein Tötungsdelikt in mittelbarer Täterschaft vorliegt.
Zur Bewertung der Freiverantwortlichkeit13 werden im strafrechtlichen Schrifttum bisher zwei Ansätze vertreten. Bei diesen theoretischen Konstruktionen handelt es sich nicht um akademische Selbstlegitimationsversuche, vielmehr münden diese verschiedenen Ansätze zur Konkretisierung der Freiverantwortlichkeit in eine jeweils unterschiedliche Behandlung von Hilfen beim Suizid. Je nach dem welchem Ansatz man folgt, kann man zu einer Bejahung der Freiverantwortlichkeit und somit zu einer straflosen Teilnahme kommen oder zu einer strafbaren Fremdtötung.
aa) Die Exkulpationslösung
Nach diesem Ansatz ist eine Suizidentscheidung als freiverantwortlich einzustufen, solange keinerlei Anzeichen für psychische Störungen erkennbar sind, aufgrund derer die natürliche Einsichts- oder Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Tragweite dieser Entscheidung ausgeschlossen oder wesentlich beeinträchtigt sein könnte. Als Maßstab dafür kommen die verschiedenen strafrechtlichen Vorschriften in Betracht, die zur Schuldunfähigkeit oder zu einer Entschuldigung eines Täters/einer Täter_in führen, namentlich die §§ 19, 20 und 35 StGB sowie § 3 JGG. Danach werden für die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit eines Suizids Umstände zugrunde gelegt, bei deren Vorliegen irgendein/e (wohl hypothetische/r) Straftäter_in entschuldigt wäre. Dieser theoretischen Konstruktion haftet eine systematische Schwäche an: die Übertragung von Grundsätzen zur Beurteilung eines fremdschädigenden Verhaltens auf eine Selbstschädigung. Dagegen wird eingewendet, dass die Freiverantwortlichkeit im Fall einer Fremdverletzung anders als für eine unwiderrufliche Selbstverletzung eigener Rechtsgüter zu beurteilen ist. Von dieser Kritik wird jedoch ein gewichtiger Umstand verkannt: Gerade diese Vorschriften legen eine Grenze fest, bis zu der ein Individuum für seine Handlungen als selbst verantwortlich gilt und somit die Verantwortung keinen anderen Dritten zugeordnet werden kann. Wird diese Grenze überschritten, ist der Verantwortungshorizont des Handelnden abgeschlossen, so dass fraglich wird, ob eine dritte Person die Tat verantworten kann. Hinzu kommt eine weitere kriminalpolitische Stärke dieser Lösung: Die Freiverantwortlichkeit ist danach erst dann abzulehnen, wenn beim Suizidenten/bei der Suizident_in verschiedene auch sonst schuldausschließende Umstände vorliegen: Mit der Ausnahme von psychiatrisch-klinisch relevanten krankhaften Erscheinungen steckt dieser Ansatz einen relativ weiten Bereich von straflosen Suizidteilnahmehandlungen ab. Auf diese Weise kann sich der/die Suizidwillige der Hilfe von anderen Personen bedienen, ohne dass diese mit einem Strafbarkeitsrisiko belastet würden. Dadurch wird dem Selbstbestimmungsinteresse des Suizidenten/der Suizident_in zu einer größeren Geltung verholfen, als bei der Einwilligungslösung.14
bb) Die Einwilligungslösung
Nach dieser im Schrifttum wohl vordringenden Auffassung sind die Grenzen der Freiverantwortlichkeit im Rückgriff auf die Dogmatik der rechtfertigenden Einwilligung zu bestimmen. Demnach handelt ein Suizident/eine Suizident_in nur dann freiverantwortlich, wenn er/sie in der Lage ist, die Tragweite seiner Entscheidung richtig zu erfassen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zudem fungiert als Merkmal der Freiverantwortlichkeit die Mangelfreiheit der Willensbildung des Suizidenten/der Suizident_in. Innerhalb dieses Ansatzes wird ebenso auf die Kriterien der Ernstlichkeit des Verlangens gem. § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) Bezug genommen.15 Dieser dogmatischen Konstruktion wohnt eine in der Suizidforschung vertretene Auffassung inne, wonach nahezu jeder Suizid als Endpunkt einer Krankheit oder krankhaften Entwicklung anzusehen sei. Die Mehrheit der Suizide seien Appell-Suizide. Dementsprechend scheint es geboten, die Messlatte der Freiverantwortlichkeit höher zu legen und das Feld der straflosen Suizidbeteiligung zu minimieren. Hier schwingt jedenfalls auch die generalpräventive Erwägung mit, der zufolge die Strafbarkeit der Suizidbeteiligung in Fällen so verstandener fehlender Freiverantwortlichkeit zur Suizidverhinderung führen könnte. Zusammenfassend ist bei diesem Ansatz von einem freiverantwortlichen Suizid nur dann auszugehen, wenn dieser als Ergebnis einer rationalen Abwägung des/der Sterbewilligen erscheint. Nur in diesen Fällen bliebe dann die Suizidbeteiligung seitens eines Dritten straflos.
Die Einwilligungslösung wird einerseits von einer kriminalpolitisch nachvollziehbaren Intention getragen, nämlich einer erhofften Suizidprävention. Normstrukturell erscheint es auch konsequent, zur Bewertung der Freiverantwortlichkeit eines Suizids die Ernstlichkeit des Verlangens gem. § 216 StGB als Maßstab heranzuziehen. Denn der Straftatbestand des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) demonstriert mit dem Merkmal der Ernstlichkeit, in welchen Fällen dieses Sterbeverlangen freiverantwortlich ist und somit der/die Täter_in eine leichtere Bestrafung verdient. Andererseits stößt dieser Ansatz an seine Grenze bei vielen Irrtumskonstellationen. Dabei geht es um Fälle, in denen jemand eine_n Andere_n zum Suizid veranlasst, indem er/sie z.B. dem Opfer einredet, dass es an einer unheilbaren Krankheit leidet. Diese so genannte Motivirrtümer können jedoch viel belangloser sein, wie z.B. Herbeiführen des Suizidentschlusses beim Opfer wegen angeblich bevorstehender wirtschaftlicher Not, wegen einer durchgefallenen Klausur oder wegen der Zusage, der Täter/die Täter_in werde nach dem Tod des Opfers sein Grab pflegen.16 Nach der Einwilligungslösung führt das Hervorrufen von derartigen Motivirrtümern, zu einem Ausschluss der Autonomie des Sterbewilligen, so dass der/die Täuschende ein_e mittelbare_r Täter_in eines Tötungsdelikts ist. Bestimmte Motivirrtümer können tatsächlich sehr schwer wiegen und die Handlungsspielräume der Betroffenen auf ein Minimum reduzieren, so dass es nahe liegt, die Täuschungshandlung als eine Tötungshandlung anzusehen. Die Wertigkeit dieser Motivirrtümer für die Herbeiführung eines Suizidentschlusses wird jedoch sehr stark vom subjektiven Wertehorizont des Opfers abhängen. Denkbar sind Fälle, in denen nichtige Irrtümer bei bestimmten Personen suizidfördernd wirken, so dass sich fragt, ob sich diese Irrtümer seitens der Suizident_innen nicht leicht vermeiden ließen. Einiges wird jedoch dabei von den Umständen des Einzelfalles abhängen und gerade das stellt die größte Schwäche der Einwilligungslösung dar, nämlich ihr Unvermögen, die hier nötige Rechtssicherheit im gleichen Umfang wie die Exkulpationslösung zu gewährleisten.17

f) Die Abgrenzung zwischen strafloser Suizidbeteiligung und strafbarer Tötung auf Verlangen
Legt man die Freiverantwortlichkeit als das maßgebende Kriterium zugrunde, um straflose Suizidbeteiligung von strafbarer Manipulation eines Tatmittlers/einer Tatermittler_in gegen sich selbst abzugrenzen, drängt sich eine andere, schwierige Frage auf: Warum bleibt die Beteiligung an einem freiverantwortlichen Suizid straflos, während die Tötung eines anderen Menschen nach seinem ernstlichen und ausdrücklichen Verlangen (§ 216 StGB) ein Vergehen darstellt, das mit einer Höchststrafe von 5 Jahren bestraft wird? Dabei wird auf die plausible Erwägung abgestellt, dass im Fall eines eigenhändig begangenen Suizids die Freiverantwortlichkeit eher anzunehmen ist als im Fall der Handlung eines Dritten. Diesem Argument für die Begründung der unterschiedlichen Behandlung von zwei ähnlichen Konstellationen liegt eine Alltagshypothese zugrunde: es sei wahrscheinlicher, dass der Tod auf eine freie Entscheidung zurückgeht, wenn der Suizident den Tod selbst herbeiführt. Diese Unterscheidung scheint somit eine Art Beweisfunktion zu übernehmen. Die Eigenhändigkeit fungiert als eine (widerlegliche) Vermutung der Freiverantwortlichkeit. Darin liegt jedoch ein logischer Fehler, denn die Behauptung des Gegenteils ist weder psychologisch, noch alltagstheoretisch möglich: das Verlangen nach einer Tötung in die Richtung eines Dritten wird durch die Kriminalisierung dieser Tötung zu einer unwiderleglichen Vermutung einer unfreien Entscheidung. Spräche die Einbeziehung einer dritten Person stets für die Nicht-Freiverantwortlichkeit eines Suizidentschlusses, müsste man konsequenterweise auch die Ernstlichkeit des Verlangens gem. § 216 StGB verneinen.18 Dieses Argument verfängt also nicht und reicht nicht zur Legitimation der Abgrenzung zwischen der straflosen Suizidbeteiligung und der strafbaren Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB. Erforderlich sind deshalb andere Argumentationsstränge vorwiegend generalpräventiver und konsequentialistischer Natur. Auch diese dürfen jedoch das Gefälle bei der strafrechtlichen Behandlung nicht ohne weiteres ausräumen.19
Die Grenze zur Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln zur Unterscheidung zwischen Täter_innenschaft und Teilnahme: Setzt sich der Suizident/die Suizident_in die Spritze mit dem tödlichen Gift selbst, bleibt bei einer freien eigenen Entscheidung der/diejenige, der/die ihm/ihr das Gift bereitgestellt hat, wegen strafloser Suizidbeteiligung straflos. Wird die Spritze dem Sterbewilligen nach dessen ernstlichem Verlangen durch einen Dritten injiziert, ist der/die Dritte Täter_in eines Tötungsdelikts nach § 216 StGB. Diese Abgrenzung bereitet keine besonderen Probleme, wenn der/die Täter_in einer Tötung auf Verlangen sämtliche Handlungen, die zum Tod des/der Suizidwilligen führen, selbst vollzieht. Viel komplexer verhält es sich, wenn neben der kausal zum Tode führenden Handlung des Täters/der Täter_in (also eines Dritten) das „Opfer“ (mehr oder weniger) aktiv mitwirkt. Paradigmatisch dafür steht der aus den späten 1950er Jahren stammende Gisela-Fall, ein einseitig fehlgeschlagener Doppelsuizid.20 Zwei sich liebende junge Menschen hatten aufgrund der Missbilligung ihrer Liebesbeziehung seitens der Familie den Entschluss gefasst haben, Suizid zu begehen. Nach ihrem Plan sollte der Tod eintreten, indem der Mann die Auspuffgase in das Wageninnere durch Treten des Gaspedals leitete. Die Frau wurde tot aufgefunden, während der Mann den Selbsttötungsversuch überlebte und wegen einer Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB verurteilt wurde.
Seitdem schwelt ein dogmatisch scharfsinniger Konflikt hinsichtlich der Kriterien, die in ähnlichen Situationen zur Abgrenzung zwischen strafloser Suizidbeteiligung und strafbarer Tötung auf Verlangen aufzustellen sind. Die Rechtsprechung knüpft dabei an die faktische Tatherrschaft an.21 Demzufolge kommt es darauf an, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht und welches Gewicht die Verfügung des/der Getöteten über sein/ihr Leben im Rahmen der Umsetzung des Gesamtplans gewonnen hat. Straflose Beihilfe liegt jedenfalls vor, wenn der Todeswillige bis zuletzt die freie Entscheidung und die Kontrolle über den Geschehensablauf behält.22 Beim genaueren Hinsehen wird allerdings deutlich, dass es sich dabei um eine rein wertende Betrachtung handelt, die zu inadäquaten praktischen Ergebnissen führen kann. Denn das Ergebnis dieser Wertung wird davon abhängen, welche Handlung als die maßgebliche Tötungshandlung angesehen wird.23 Beim Injizieren eines tödlichen Gifts kann somit als Tötungshandlung das Spritzen durch den Dritten angesehen werden, so dass eine Fremdtötung vorliegt, oder das Vorhalten des Arms durch den Suizidenten, so dass eine Selbsttötung anzunehmen wäre. Letztendlich ist bei fast jeder Tötung auf Verlangen irgendeine Mitwirkung des Opfers erforderlich, so dass das Ergebnis bei dieser dogmatischen Konstruktion von zufälligen Gegebenheiten des jeweiligen Falls abhängen wird. Deswegen wird diese Ansicht in der Literatur zu Recht kritisiert.24 Ebenso abzulehnen ist der frühere subjektive Ansatz der Rechtsprechung, wonach lediglich auf das voluntative Kriterium abgestellt wurde, ob der/die Suizident_in die Tat als eigene (dann: straflose Suizidbeteiligung) oder als fremde (dann: Tötung auf Verlangen, § 216 StGB) wollte. Ein derartiges Verständnis zur Abgrenzung von Verantwortungssphären steht in unmittelbarem Widerspruch zur Wertung des § 216 StGB. Denn im Idealtypus einer Tötung auf Verlangen unterwirft sich der/die Täter_in immer dem Willen des Opfers, d.h. Der/die Täter_in betrachtet die Tat nie als die eigene und könnte somit nie als Täter gem. § 216 StGB bestraft werden. Darüber hinaus werden unterschiedliche dogmatische Abgrenzungsversuche unternommen, die hier nicht dargestellt werden können. Vorzugswürdiger erscheint jedenfalls der Ansatz von Roxin, demgemäß eine Person einen Suizid selbständig begehe, wenn sie die Grenze zur Handlungsunfähigkeit („point of no-return“) selbst überschreitet.25 Allerdings sind auch innerhalb dieser dogmatischen Konstruktion Wertungswidersprüche nicht immer zu vermeiden.

2. Die strafrechtliche Behandlung des assistierten Suizids – nach dem Suizidversuch: Das Problem der Unterlassensstrafbarkeit
Als Suizidbeteiligung ist nicht nur eine aktive Förderung des Suizidwillens oder die Veranlassung eines Suizidgeschehens einzuordnen, sondern auch das Untätigbleiben einer Person bei oder nach einem Suizidversuch. Hier stellt sich somit die Frage, inwieweit ein passives Verhalten bei einem Suizidversuch eine Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen (z.B. §§ 212, 13 StGB) für diese Person begründet. Dies setzt allerdings eine Garantenstellung voraus. Fehlt eine solche Garantenstellung, kann sich jedoch eine Rettungspflicht eines Dritten aus dem echten Unterlassungsdelikt des § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) ergeben.
In solchen Fällen drängt sich wieder auf, zur Statuierung von Handlungspflichten das Kriterium der Freiverantwortlichkeit zugrunde zu legen. Demgemäß macht sich wegen eines Totschlags durch Unterlassen derjenige/diejenige strafbar, der eine_n noch lebende_n Suizidenten/Suizident_in antrifft und den Todeseintritt nicht abwendet, obwohl z.B. aufgrund einer dem Täter/der Täter_in bekannten Geisteskrankheit eine freie Willensentschließung nach den Exkulpationsregeln auszuschließen und eine Rettung dem Dritten möglich und zumutbar ist.
Viel differenzierter wird die Frage der Unterlassensstrafbarkeit im Fall eines freiverantwortlichen Suizids diskutiert. Die frühere Rechtsprechung postulierte im Rückgriff auf den Höchstwert des Lebens eine Rettungspflicht für Lebensschutzgaranten stets und ohne Einschränkungen bei jedem Suizid.26 Dieser restriktive Ansatz der Rechtsprechung rekurriert auf die vorhin erläuterte Wertung hinsichtlich des pathologischen Charakters des Suizids.27 In der Folgezeit hat sich die Rechtsprechung von diesem starren Schema entfernt und wertete das passive Untätigbleiben eines Garanten/einer Garant_in eher nach Tatherrschaftskriterien. Eine freiverantwortliche Willensentschließung wurde dadurch grundsätzlich anerkannt, jedoch mit einer erheblichen Einschränkung: Die Verhinderungs- und Rettungspflicht des Garanten/der Garant_in lebt trotz der Freiverantwortlichkeit der Suizidhandlung nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit und bis zum Todeszeitpunkt wieder auf. Denn in solchen Fällen finde im Zeitpunkt des Bewusstseinsverlustes des Suizidenten ein sog. Tatherrschaftswechsel statt, der den Garanten/die Garant_in unter Androhung von Strafe die Pflicht auferlegt, in das Geschehen rettend einzugreifen.28 Diese Rechtsprechungslinie ist einer Reihe von rechtsdogmatischen aber vor allem logischen Einwänden ausgesetzt. Denn sie verlangt vom Garanten/von der Garant_in ein völlig widersprüchliches Verhalten. Dieselbe Person, die im Vorfeld des Suizids dem Suizidenten/der Suizident_in möglicherweise straflose Beihilfe geleistet hat, ist verpflichtet, nach der Bewusstlosigkeit des Suizidenten/der Suizident_in den vorhin geförderten Erfolg zu verhindern. Um einer Strafbarkeit wegen einer Unterlassungsstrafbarkeit zu entkommen, kann der Garant/die Garant_in alternativ den Suizidenten/die Suizident_in vor dem Eintritt der Bewusstlosigkeit allein lassen, so dass die Erfolgsabwendung für den Garanten unmöglich wird. Dabei handelt es sich um einen gewichtigen Wertungswiderspruch, der nicht nur die intrasystematisch nötige Kohärenz auf den Kopf stellt, sondern auch völlig unmenschlich, ja zynisch erscheint. Versuche der Rechtsprechung, z.B. durch die Schaffung einer Abwägungspflicht zwischen dem Lebensschutzinteresse (von wem?) und dem Selbstbestimmungsinteresse des/der Sterbewilligen unter Heranziehung situativer und schwer konkretisierbarer berufsethischer Prinzipien (z.B. für Ärzt_innen) tragen ebenso wenig zur Rechtssicherheit bei.29 Strafrechtsdogmatisch schlüssiger ist somit, auf die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten/der Suizident_in abzustellen: Diese vermag die Garantenpflicht eines Lebensschutzgaranten einer Lebensschutzgarant_in aufzuheben und lässt die Nicht-Verhinderung eines freiverantwortlichen Suizids eindeutig zu.30 Hingegen macht ein Garant/eine Garant_in sich mindestens wegen eines versuchten Tötungsdelikts strafbar, wenn er/sie nach Beendigung des Suizidversuchs merkt, dass der Suizident/die Suizident_in nicht mehr sterben will und trotzdem untätig bleibt.31 Erste Anzeichen, dass allmählich von dieser Rechtsprechung abgerückt wird, bietet die staatsanwaltliche Einstellungspraxis. In einer Einstellungsverfügung der StA München wurde das Unterlassen von Rettungsmaßnahmen zur Verhinderung einer freiverantwortlichen Selbsttötung als nicht strafbar eingestuft.32 Wünschenswert wäre allerdings eine höchstrichterliche Klärung dieses Sachverhalts. Berücksichtigt man die immer stärkere Gewichtung der Patientenautonomie im rechtspolitischen Diskurs, nicht zuletzt durch die Formalisierung des Rechts der Patientenverfügungen im Zivilrecht, ist eine derartige Richtungsänderung auch von der Rechtsprechung zu erwarten.
a) Die Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB)
Probleme bereitet schließlich die Frage der Anwendbarkeit der Strafvorschrift der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Die Diskussion kreist um die Auslegung des Merkmals „Unglücksfall“ im § 323c StGB. Stellt ein freiverantwortlicher Suizid einen solchen Unglücksfall dar, der eine strafbewehrte Solidarität von jeder dritten Person fordert? Auch dies ist umstritten. Denn die Rechtsprechung sieht in jedem Suizidversuch einen Unglücksfall, früher unter Berufung auf das Sittengesetz33, später unter Heranziehung des Schutzzwecks des § 323c zum solidarischen Lebensschutz. Dabei spielen auch Praktikabilitätserwägungen eine Rolle. Dem Adressaten/der Adressat_in der Norm dürfte es in aller Regel unmöglich sein, die Freiverantwortlichkeit einer Suizidsituation mit der nötigen Sicherheit festzustellen.34 Einer solchen Betrachtung wird in der Literatur entgegengehalten, dass die zulässige Grenze einer grammatikalischen Auslegung des Unglücksfalls bereits überschritten wird, wenn ein freiverantwortlicher Selbstschädigungsakt als ein äußeres Ereignis umgedeutet wird. Darüber hinaus ist ein Wertungswiderspruch nicht zu übersehen, wenn einerseits die aktive Suizidbeteiligung im Vorfeld straflos bleibt und andererseits die nachfolgende Respektierung des freiverantwortlichen Suizidwillens strafrechtlich belangt werden soll.
Letztlich scheint diese Rechtsprechung, die in jedem freiverantwortlichen Suizid einen Unglücksfall sieht, das Telos der Strafnorm des § 323c StGB zu missverstehen: Der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung schützt weder sittlich begründbare Solidaritätspflichten noch kommunitaristisch aufzufassende Gesellschaftsinteressen. Die unterlassene Hilfeleistung bezweckt stattdessen einen sekundären Schutz von Individualinteressen jeder in Not geratenen Person.35 Demgemäß wird eine strafbewehrte Hilfspflicht erst dann aktiviert, wenn situativ eindeutig wird, dass der Suizident/die Suizident_inentweder nicht frei handelt oder an seinem ursprünglich freien Willensentschluss nicht mehr festhält.
b) Die Strafbarkeit eines/einer Suizidbeteiligten für Betäubungsmittelstraftaten
Nach der geltenden Rechtslage kann eine Suizidbeteiligung eine strafrechtliche Haftung aus den Vorschriften des BtMG (Betäubungsmittelgesetz) zur Folge haben. Für Ärzte/Ärzt_innen, die z.B. Pentobarbital zum Zweck der Suizidbeihilfe verschreiben, kann das Überlassen dieser nach Anlage III des BtMG verschreibungspflichtigen Substanz gem. § 29 I Nr. 6b i.V.m. § 13 I S. 1 BtMG strafbar sein. Denn § 13 I S. 1 BtMG erlaubt Ärzt_innen die Verschreibung dieser Mittel nur im Rahmen einer ärztlichen Behandlung, wenn die Anwendung im oder am menschlichen Körper begründet ist. Ein Verständnis des Merkmals „begründet“, so dass die Verwendung dieser Mittel zum Suizid gedeckt wäre, würde eindeutig die Auslegungsgrenzen dieses Rechtsbegriffs überschreiten. Sowohl die Orientierung des BtMG am Schutzzweck der Volksgesundheit als auch die ergänzende Heranziehung des Standesrechts sprechen dafür, dass das Überlassen solcher Substanzen von Ärzt_innen zum Suizid nicht begründet ist und somit eine Strafbarkeit wegen eines Betäubungsmitteldelikts mit sich bringt.36
Denkbar wäre jedoch in ähnlichen Fällen im Rückgriff auf einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund (z.B. einen Notstand) zu einer Straflosigkeit des Arztes/der Ärzt_in zu gelangen. Der BGH lässt dies offen und signalisiert, dass eine Berufung auf die Gewissensfreiheit des Arztes hier durchaus erwägenswert ist.37 An dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Rechtsunsicherheit die betroffenen Ärzte vom Bereitstellen dieser Substanzen zu Suizidzwecken eher abschrecken würde. Durch diese Weigerung der Rechtsprechung, sich klar zu positionieren, wird somit die grundsätzliche Wertung des Gesetzgebers, die Suizidbeteiligung straflos zu halten, wenn auch nicht konterkariert, mindestens aber relativiert.38
c) Der Widerspruch zwischen Straf- und Standesrecht
Die rechtliche Einordnung der Straflosigkeit der Suizidbeteiligung bei einem freiverantwortlichen Suizidentschluss sowie die Abgrenzung von ähnlichen Handlungsmustern in der klinischen Praxis wie den Figuren des Behandlungsabbruchs (sog. passive Sterbehilfe) und der todbeschleunigenden Leidensminderung (sog. indirekte Sterbehilfe) werden, wie bereits erläutert, vom Pflege- und vom medizinischen Personal oft verkannt, das aus einer Furcht vor einem Strafverfahren nicht die angemessenen, ja gebotenen Handlungsentscheidungen trifft. Das ist der Grund, warum in der einschlägigen Diskussion eine Verrechtlichung dieser Materie zur Förderung der Rechtssicherheit verlangt wird.39 Diese Verwirrung hinsichtlich der rechtlichen Lage wird potenziert durch einen normativen Widerspruch zwischen Strafrecht und Standesrecht. (S. den Beitrag von Robert Poll in diesem Heft.)
3. Ausblick
Nach alledem bleibt die Suizidbeteiligung in den Fällen eines freiverantwortlichen, eigenhändigen Suizides nach den Vorschriften des StGB straflos. Diese Einsicht scheint unter den Ärzt_innen nicht gefestigt zu sein. Sie wähnen sich gleichwohl einer Strafverfolgungsgefahr ausgesetzt. Dieses Phänomen ist nicht zuletzt rechtstheoretisch interessant. Denn es zeigt, dass eine Strafvorschrift manchmal auch außerhalb ihres rechtsdogmatischen Radius Handlungsspielräume begrenzt und somit individuelle Freiheit beschränken kann.
Zudem ergibt die kursorische Analyse des strafrechtlichen Status Quo im Bereich der Suizidbeteiligung ein verwirrendes Bild: Einerseits ist eine gesetzgeberische Wertung zu registrieren, die Suizidbeteiligung straflos zu stellen. Dabei kann nicht, wie von einigen Gesetzentwürfen gegenwärtig behauptet wird, von einer planwidrigen Strafbarkeitslücke die Rede sein. Die Straflosigkeit der Suizidteilnahme beruht auf einem kriminal- und verfassungspolitischen Konsens, die Autonomie eines freiverantwortlich handelnden Individuums zu respektieren, Suizid zu begehen. Dieser Konsens würde jedoch durch die Strafbarkeit einer an einem Suizid beteiligten Person ausgehöhlt. Aus diesem Grund fehlt bisher eine ausdrückliche Strafbestimmung zur Suizidbeteiligung. Lediglich nicht-freiverantwortliche Suizidhandlungen, denen der Verdacht der Manipulation anhaftet, werden durch Rechtsfiguren des Allgemeinen Teils des Strafrechts (konkreter durch eine Strafbarkeit eines Totschlags wegen mittelbarer Täterschaft) kriminalisiert. Das Strafrecht enthält zugleich mit dem Straftatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) eine zentrale Norm, welche die Grenzen einer zulässigen Suizidbeteiligung im Normalfall aufzeigt. Wie bereits erörtert, ist jedoch diese gesetzgeberische Entscheidung in kompliziert gelagerten Konstellationen nicht frei von Wertungswidersprüchen. Diese grundsätzliche Straflosigkeit der Suizidteilnahme wird vom Nebenstrafrecht (im BtMG) sowie vom Standesrecht stark relativiert. Denn das Betäubungsmittelrecht macht es den Ärzt_innen unmöglich, ohne Strafbarkeitsrisiko suizidwilligen Patient_innen durch die Verschreibung der einschlägigen Präparate zu helfen. Das Berufsrecht der Ärzt_innen mindert in vielen Bundesländern deren Handlungsspielräume.
Zu dieser schwer verständlichen Rechtslage trägt auch die Rechtsprechung bei. In einigen nicht unwichtigen Fallkonstellationen, vor allem im Bereich der Strafbarkeit durch Unterlassen nach einem freiverantwortlichen Suizidversuch, wurde ein Richterrecht geschaffen, das nicht nur widersprüchlich und wirklichkeitsfern erscheint, sondern auch die gesetzgeberische Entscheidung statt zu konkretisieren, verwässert.
Diese Umstände – Widersprüchlichkeit und Rechtsunsicherheit – führen zu einer interessanten, jedoch äußerst kritischen Situation: die Rechtsadressaten/Rechtsadressat_innen sehen oft von Suizidbeteiligungshandlungen ab, auch wenn diese Handlungen rechtsdogmatisch betrachtet nicht strafbar sind. Die Reichweite eines Strafverbots ist also faktisch größer, als der demokratisch legitimierte Gesetzgeber es beabsichtigte. Dieser Umstand mag für einen Rechtswissenschaftler aus rechtstheoretischer Perspektive interessant erscheinen, für die Betroffenen kann er jedoch tragisch sein, vor allem wenn man die verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechte ernst nehmen will. Deshalb wäre eine Aktualisierung des gesetzgeberischen Willens, die Suizidbeteiligung straflos zu stellen zu begrüßen. Dabei müssten die rechtsdogmatischen Widersprüche, welche die Suizidbeteiligung faktisch erschweren, beseitigt werden. Gleichzeitig würde man so Rechtssicherheit schaffen.
Denn bei der Problematik von Sterbehilfe und Suizidbeteiligung stellt die Rechtssicherheit nicht nur ein rechtliches Gebot, sondern und vor allem eine humanitäre Pflicht dar. Dem kommt der Gesetzgeber mit den jetzt vorgelegten Entwürfen erkennbar nicht nach.

GEORGIOS SOTIRIADIS  Dr. jur., Jahrgang 1979, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Georg Steinberg, EBS Universität für Wirtschaft und Recht. Seine wichtigste Buchveröffentlichung: Die Entwicklung der Gesetzgebung über Gewinnabschöpfung und Geldwäsche unter Berücksichtigung der jeweiligen kriminalpolitischen Tendenzen, Duncker und Humblot, Berlin, 2009. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur strafrechtlichen Erfassung der Suizidteilnahme.
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