Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Sterbehilfe unter der Europä­i­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion (EMRK)

In: vorgänge 210/211 (2-3/2015), S. 79-98

Immer wieder musste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Fragen der Zulässigkeit verschiedener Sterbehilfe-Formen befassen. In seinen Entscheidungen hat er Kriterien und Maßstäbe für die Zulässigkeit der aktiven und passiven Sterbehilfe sowie der Suizidbeihilfe entwickelt. Zugleich ging es in diesen Entscheidungen auch immer darum, was der Staat im Rahmen seiner Schutzpflichten der/dem Einzelnen beim Sterben verbieten darf oder erlauben muss. Die dabei entstandenen Auslegungen und Interpretationen der europäischen Grundrechte aus den Artikeln 2, 3, 8 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stellt Nicola Jacob vor. 

Im Zentrum dieses Beitrags stehen die Ausformungen der Grenzen der staatlichen Schutzpflicht des Lebens aus Art. 2 EMRK und die Ausformungen der Reichweite des Selbstbestimmungsrechtes beim Sterben, das Teil des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK ist. Wie weit darf der Staat unter Berufung auf den Schutz des Lebens das Selbstbestimmungsrecht der/des Einzelnen aus Art. 8 bei Entscheidungen zum Lebensende begrenzen? Was müssen bzw. dürfen die Mitgliedsstaaten der EMRK zur Sicherung des Lebensschutzes und der Selbstbestimmung am Lebensende regeln? Welche Rechte auf Selbstbestimmung am Lebensende haben die Bürger_innen der Mitgliedsstaaten der EMRK? Der EGMR musste in einigen Fällen auch prüfen, ob das Verbot von bestimmten Sterbehilfeformen in einigen Mitgliedsländern u. U. das Folterverbot aus Art. 3 oder das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK verletzt. Zur Frage der Erlaubtheit der aktiven Sterbehilfe an sich hat sich der EGMR noch nicht geäußert. Von besonderem Interesse war und ist es daher, ob unter der EMRK die aktive Sterbehilfe, wie sie in den Beneluxstaaten geregelt wurde, erlaubt ist. Dieser Frage wird abschließend nachgegangen.

Das Recht auf Leben (Artikel 2 EMRK) – die Grenzen der staatlichen Schutzpflicht
Art. 2 EMRK enthält nach der Rechtsprechung des EGMR eine staatliche Schutzpflicht für das Leben, die die Mitgliedsstaaten der EMRK beachten müssen. Nach Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK, ist das Recht auf Leben gesetzlich zu schützen. Im „Paradefall“ Pretty ./. Vereinigtes Königreich (EGMR Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 29.04.2002 – Az. 2346/02, in: NJW 2002, S. 2851 ff.), in dem die an Amyotropher Lateralsklerose erkrankte Britin Diane Pretty von den britischen Strafverfolgungsbehörden begehrte, dass ihrem Ehemann vor einer eventuellen Sterbehilfe-Leistung zugesichert werde, nicht strafrechtlich verfolgt zu werden, führte der EGMR aus, dass Art. 2 EMRK die staatliche Verpflichtung beinhalte, menschliches Leben zu schützen, und zwar auch und gerade durch effektive präventive Maßnahmen wie den Erlass entsprechender Strafvorschriften (Ebd. S. 2851 f., Rdn. 37 ff.). Das in Art. 2 EMRK verankerte Recht auf Leben enthalte keinen negativen Aspekt, d. h., nicht das Recht, zu sterben. Ebenso wenig enthalte es ein Selbstbestimmungsrecht dahin gehend, „dass eine Person das Recht hat, den Tod zu wählen an Stelle des Lebens.“ (Ebd. S. 2852, Rdn. 39). Wohl aber enthalte Art. 2 EMRK Schutzpflichten, die es gebieten, menschliches Leben effektiv zu schützen. Diese starke Betonung der in Art. 2 enthaltenen Schutzpflichten war dem Umstand geschuldet, dass in Großbritannien die Beihilfe zum Suizid verboten ist1. Gleichwohl bedeutet diese Betonung der in Art. 2 enthaltenen Schutzpflicht nicht, dass von Art. 2 EMRK die Formen der passiven, indirekten, aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid verboten werden. Art. 2 EMRK beinhaltet aber keinen gegen den Staat gerichteten Anspruch, sich – ohne staatliche „Einmischung“ – Sterbehilfe leisten zu lassen. Erst recht folgt hieraus nicht der Anspruch, dass dem /der potentiellen Sterbehelfer_in vor Leistung der Sterbehilfe bereits Straffreiheit zugesichert wird.
Die Bedeutung der staatlichen Lebensschutzverpflichtung unterstrich der EGMR auch im Fall in Haas ./. Schweiz (EGMR Haas ./. Schweiz, Urt. v. 20.01.2011 – Az. 31322/07, in: NJW 2011, S. 3773 ff.). Der Beschwerdeführer war seit etwa 20 Jahren manisch-depressiv erkrankt, hatte zwei Suizidversuche unternommen und war mehrfach stationär psychiatrisch behandelt worden. Er ersuchte sodann um Verschreibung einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital. Behördlicherseits wurde seine Bitte abgelehnt; auch von 170 angeschriebenen Psychiater_innen reagierte niemand positiv (Ebd. S. 3773, dortige Sachverhaltsschilderung). Der EGMR positionierte sich deutlich: „Art. 2 EMRK verpflichtet die Behörden, eine Person an einer Selbsttötung zu hindern, wenn sie die Entscheidung dazu nicht frei und in Kenntnis aller Umstände getroffen hat.“ (Ebd. S. 3774, Rdn. 54). Insbesondere dort, wo – wie in der Schweiz – von Gesetzgeber und Praxis ein relativ liberaler Umgang mit der Suizidbeihilfe getroffen worden sei, „müssen geeignete Maßnahmen zur Durchführung einer solchen Gesetzgebung insbesondere zur Verhinderung von Missbrauch getroffen werden.“ (Ebd. S. 3774, Rdn. 57). Die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK reicht daher jedenfalls so weit, als dass der Staat denjenigen, der nicht- oder sogar unfreiwillig Suizid begehen bzw. sich Sterbehilfe leisten lassen will, hieran hindern kann und muss. Zentrales Abgrenzungskriterium ist die freiverantwortliche Entscheidung des Sterbewilligen: Der in Art. 2 EMRK verankerte Schutz des Lebens verpflichte die Mitgliedstaaten dazu,
„durch ein angemessenes Verfahren sicherzustellen, dass die Entscheidung, sein Leben zu beenden, tatsächlich dem freien Willen des Betroffenen entspricht. Das Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung auf Grund eines umfassenden psychiatrischen Gutachtens ist ein Mittel, das diese Anforderungen erfüllt.“ (Ebd. S. 3775, Rdn. 58).
Hiernach ist es also denkbar und seitens der EMRK gestattet, ein Verfahren zu entwickeln, in welchem der Wille des/der Sterbewilligen untersucht wird und in dem das Ergebnis durchaus sein kann, dass der/die Sterbewillige freiwillig und eigenverantwortlich aus dem Leben scheiden möchte. Mangels anderweitiger Entscheidungen bis dato müsste ein solches Verfahren jedenfalls dem der Schweiz entsprechen, um den Anforderungen der EMRK Stand zu halten2. Ferner wird durch die Haas-Entscheidung bestätigt, dass bestimmte Formen von Sterbehilfe mit Art. 2 EMRK vereinbar sein können. Die „Grenze“ der Vereinbarkeit liegt dort, wo der freie Wille der/des Betroffenen nicht (mehr) festgestellt werden kann. Ab hier beginnt die staatliche Verpflichtung zum Lebensschutz – und zwar auch gegen den Willen des/der Betroffenen. Dass Art. 2 EMRK auch in Zukunft nicht als Anspruchsgrundlage eingestuft werden kann, ist auch der Entscheidung Hristozov u. a. ./. Bulgarien (EGMR Hristozov u. a. ./. Bulgarien, Urt. v. 13.11.2012 – Az. 47039/11, 358/12, in: NJW 2014, S. 447 ff.) zu entnehmen. Mehrere Beschwerdeführer hatten versucht, die Genehmigung für ein in der Erprobung befindliches, aber nicht zugelassenes Medikament zur Behandlung einer Krebs-Erkrankung zu erhalten. Der EGMR hielt hierzu fest, dass es in Bulgarien durchaus Vorschriften über den Zugang zu nicht zugelassenen Medikamenten gebe, und zwar auch in Fällen, in denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht ausreichten. Aus Art. 2 EMRK folge jedoch nicht, dass der Zugang zu nicht zugelassenen Medikamenten für Kranke im Endstadium in einer bestimmten Art und Weise geregelt werden müsse (Ebd. S. 449, Rdn. 108). Hierfür blieben in der EU die Mitgliedstaaten zuständig und die Vertragsstaaten der EMRK hätten „die Voraussetzungen und die Art und Weise des Zugangs zu nicht zugelassenen Medikamenten unterschiedlich geregelt“ (Ebd. S. 449, Rdn. 108).
Die jüngste Entscheidung des EGMR zu der Frage, welche Schutzpflichten Art. 2 EMRK aufstellt und welche Grenzen diese haben, ist Lambert u. a. ./. Frankreich (EGMR Lambert and Others v. France, Urt. v. 05.06.2015 – Az. 46043/14)3. Der Betroffene Vincent Lambert hatte schwerste Hirnverletzungen bei einem Verkehrsunfall erlitten. Seitdem war er Tetraplegiker und befand sich im Wachkoma (Ebd. Rdn. 11); jegliche Versuche, seinen gesundheitlichen Zustand zu verbessern, scheiterten (Ebd. Rdn. 12 f.). Eine Patientenverfügung hatte Lambert vor seinem Unfall nicht verfasst (Ebd. Rdn. 17). Als – mit Einverständnis der Ehefrau Lamberts – die Nahrungszufuhr eingestellt und die Flüssigkeitszufuhr reduziert werden sollten (Ebd. Rdn. 15), intervenierten Lamberts Eltern und zwei seiner Geschwister (Ebd. Rdn. 16 ff.). Im weiteren Verlauf wurden mehrere ärztliche Spezialist_innen sowie sämtliche Angehörige Lamberts hinzugezogen.
Die Mehrheit der Angehörigen und Ärzt_innen sprachen sich für den Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahmen aus, während die Eltern und zwei der Geschwister dagegen waren (Ebd. Rdn. 19 ff.). Im Januar 2014 sollte die künstliche Ernährung Lamberts abermals eingestellt werden (Ebd. Rdn. 22), wogegen sich die Eltern und zwei Geschwister wieder erfolgreich wehrten (Ebd. Rdn. 23 ff.). Das angerufene Gericht sah Lamberts Recht auf Leben als verletzt an, weil der behandelnde Arzt Lamberts (mutmaßliche) Wünsche falsch ermittelt habe und die lebenserhaltenden Maßnahmen auch nicht als unverhältnismäßig angesehen werden könnten, solange Lambert nicht unter ihnen leide (Ebd. Rdn. 27 f.). Nun wandte sich u. a. die Ehefrau Lamberts an den Conseil d’Etat (Ebd. Rdn. 29 ff.). Nach Einholung eines umfangreichen Sachverständigengutachtens (Ebd. Rdn. 38 ff.) gelangte der Conseil d’Etat zu dem Ergebnis, dass der behandelnde Arzt Lamberts sich bei der Entscheidung, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden, im Rahmen der einschlägigen französischen Gesetze bewegt habe (Ebd. Rdn. 29 ff. und insb. 45 ff.).
Nunmehr wandten sich die Eltern und zwei Geschwister Lamberts an den EGMR  (Ebd. Rdn. 80). Eine rechtliche Vertretung Lamberts durch die Angehörigen vor dem EGMR war zwar rechtlich nicht möglich (Ebd. Rdn. 82 ff., insb. auch 102 ff.; 106; 112). Der Gerichtshof prüfte jedoch, ob die eigenen Rechte der Beschwerdeführer_innen aus Art. 2 EMRK durch die Entscheidung des Conseil d’Etat verletzt worden waren (Ebd. Rdn. 82 ff., 102 ff., 106, 115). Der EGMR nahm Bezug auf die Haas-Entscheidung (EGMR Haas, in: NJW 2011, S. 3774, Rdn. 54) und führte aus, dass auf die Lebensschutzverpflichtung aus Art. 2 EMRK zurückgegriffen werden könne, wenn eine mögliche Verletzung des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 8 EMRK im Raum steht (vgl. EGMR Lambert, Rdn. 142). In die Auslegung des in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Selbstbestimmungsrechts fließt nämlich die staatliche Lebensschutzverpflichtung aus Art. 2 EMRK mit ein (vgl. EGMR Haas, in: NJW 2011, S. 3774, Rdn. 54) (siehe hierzu unten). In Lambert führte der EGMR nunmehr aus, dass dies auch „umgekehrt“ möglich sein müsse, d. h., dass bei der Frage nach einer Verletzung von Art. 2 EMRK auch auf Art. 8 EMRK und das von ihm beinhaltete Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens zurück gegriffen werden könne (vgl. EGMR Lambert, Rdn. 142). Genau so, wie die staatliche Lebensschutzverpflichtung im Ergebnis einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht rechtfertigen kann, könne das Selbstbestimmungsrecht auch der staatlichen Lebensschutzverpflichtung Grenzen setzen. Im Rahmen der positiven Lebensschutzverpflichtung hätten aber, so der EGMR weiter, die Konventionsstaaten – auf Grund eines fehlenden Konsens – gerade in Fragen der Sterbehilfe und des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen einen gewissen Ermessensspielraum („margin of appreciation“) (Ebd. Rdn. 144, 147). Einigkeit bestehe lediglich dahin gehend, dass dem Willen des Patienten/der Patientin überragende Bedeutung zukommen solle (Ebd. Rdn. 147). Der Beurteilungsspielraum bestehe daher nicht nur im Hinblick auf die Frage, ob lebenserhaltende Maßnahmen generell abgebrochen werden dürfen, sondern auch im Hinblick auf die Abwägung zwischen dem Schutz des Rechts auf Leben einerseits und dem Schutz des Rechts auf Achtung des Privatlebens und der persönlichen Autonomie andererseits (Ebd. Rdn. 148, 168). Die einschlägigen französischen Normen, wie sie vom Conseil d’Etat interpretiert worden seien, bildeten hierfür jedenfalls einen genügend klaren rechtlichen Rahmen (Ebd. Rdn. 160, 181). Die gesetzlichen Anforderungen seien im Falle Lamberts durch das aufwendige Verfahren sogar überobligatorisch erfüllt worden (Ebd. Rdn. 166, 181 f.), indem alle Beteiligten ausreichend mit einbezogen und alle Aspekte des Falles sorgsam abgewogen worden seien (Ebd. Rdn. 181 f.).
Die Reichweite des Selbstbestimmungsrechtes am Lebensende aus Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)
Zentrale Norm bei der Frage nach Rechten bzw. „Ansprüchen“ aus der EMRK auf Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe ist Art. 8 EMRK. Nach Art. 8 Abs. 1 hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Nach Art. 8 Abs. 2 darf eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Die Diskussion von Fragen der Sterbehilfe und Suizidbeihilfe unter Art. 8 EMRK hat dazu geführt, dass der EGMR nach und nach ein Selbstbestimmungsrecht in Bezug auf die Sterbehilfe anerkannt hat. Bereits in der Pretty-Entscheidung wurde davon ausgegangen, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Selbstbestimmungs- und/oder Autonomierecht enthält (Vgl. EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2853 f., Rdn. 61 ff.)4. Der EGMR sah die Vorstellung von der Autonomie einer Person als wichtigen Grundsatz an, der der Auslegung von Art. 8 zu Grunde liegt (Ebd. S. 2853, Rdn. 61) und führte aus,
„dass die Fähigkeit, sein Leben so zu leben, wie man selbst bestimmt hat, auch die Möglichkeit einschließen kann, Dinge zu tun, die für die Person körperlich oder seelisch schädlich oder gefährlich sind.“ (Ebd. S. 2853, Rdn. 62).
Da Diane Pretty durch ihre Krankheit daran gehindert war, die Schlussphase ihres Lebens selbst zu gestalten, konnte der EGMR einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 nicht ausschließen (Ebd. S. 2854, Rdn. 64 ff.). Die Weigerung der britischen Strafverfolgungsbehörden, bereits vor der Suizidbeihilfe einem/einer potentiellen Sterbehelfer/Sterbehelferin Immunität zuzusichern, sah der EGMR in Pretty aber als gerechtfertigt an. Bei der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei, stehe den Konventionsstaaten der schon erwähnte Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu (Ebd. S. 2854, Rdn. 70). Gerade bei der Sterbehilfe ist dieser Ermessensspielraum erheblich, weil unter den Mitgliedstaaten des Europarates kein Konsens herrscht über das Recht einer Person, zu entscheiden, wann und auf welche Weise sie ihr Leben beenden möchte (Vgl. EGMR Haas, in: NJW 2011, S. 3773, Leits. 3 der Bearb. und S. 3774, Rdn. 55; ebenso EGMR Koch, in: NJW 2013, S. 2953 Leits. 5 der Bearb. und S. 2956, Rdn. 70). Insofern seien Staaten dazu berechtigt, „mit Mitteln des Strafrechts Handlungen zu regeln, die für Leben und Sicherheit einer Person schädlich sind“ (EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2854, Rdn. 74). Drohende Schäden müssten gegen das Selbstbestimmungsrecht abgewogen werden (Ebd. S. 2854, Rdn. 74). Dem britischen Verbot der Suizidbeihilfe liege letztlich die Verletzbarkeit von Personen, auch Sterbewilligen, zu Grunde.
Insofern sei es
„in erster Linie Aufgabe der Staaten, die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit von Missbräuchen zu beurteilen, wenn das allgemeine Verbot der Beihilfe zum Selbstmord gelockert wird oder wenn Ausnahmen vorgesehen werden.“ (Ebd. S. 2855, Rdn. 74).
Es liegt somit auch im Beurteilungsspielraum des jeweiligen Konventionsstaates, zu entscheiden, ob eine Sterbehilfe in bestimmten Fällen legal sein kann. Insofern ist das unbedingte Verbot der Suizidbeihilfe im Vereinigten Königreich nach Ansicht des EGMR nicht unverhältnismäßig, da zugleich „ein System der Durchsetzung und Aburteilung“ bestehe,
„das es erlaubt, in jedem Einzelfall dem öffentlichen Interesse an einer Strafverfolgung Rechnung zu tragen sowie den fairen und angemessenen Anforderungen an Sühne und Abschreckung.“ (Ebd. S. 2855, Rdn. 76).
Infolgedessen sei auch die Weigerung der britischen Strafverfolgungsbehörden, dem Ehemann Prettys bereits vorab Straffreiheit zuzusichern, nicht unverhältnismäßig. Die Ausnahme einzelner oder Gruppen von Personen von der Gesetzesanwendung begegne vielmehr erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken (Ebd. S. 2855, Rdn. 77).
Die Art und Weise der Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 8 EMRK durch den EGMR im Falle Prettys hat im Anschluss daran für die Rechtspraxis im Umgang mit dem Beihilfeverbot zum Suizid erhebliche Folgen. Aus dem Verständnis von Art. 8 Abs. 1 EMRK im Falle Prettys wurde ein Recht auf Veröffentlichung von Kriterien, die die Strafverfolgungsbehörden bei ihrer Ermittlungsarbeit zu Grunde legen, gefolgert5.
Debbie Purdy setzte vor dem House of Lords durch, dass die britischen Strafverfolgungsbehörden die Kriterien veröffentlichen, welche sie bei der Verfolgung von Fällen der Suizidbeihilfe anwenden. Im Gegensatz zu Pretty ging es Purdy nicht darum, dass ihrem potentiellen Sterbehelfer vorab Immunität zugesichert werden sollte. Sie wollte vielmehr Informationen über die Verfolgung von Suizidbeihilfe erlangen, um selbst abschätzen zu können, ob sie ihren Mann darum bitten kann, sie auf eine Reise in die Schweiz zu begleiten, auf der sie Suizid begehen wollte (Vgl. Lord Hope of Craighead, House of Lords, Purdy, S. 13, Rdn. 31). Den britischen Strafverfolgungsbehörden wird durch den Suicide Act grundsätzlich ein gewisses Ermessen bei der Frage, ob sie in Fällen der Suizidbeihilfe eine Strafverfolgung aufnehmen oder nicht, eingeräumt6.
Der Anwendungsbereich des Ermessens und die Art und Weise der Ausübung müssten jedoch, so Lord Hope of Craighead, klar erkennbar sein, da nur so dem/der Einzelnen ein Schutz gegen willkürliche Eingriffe gewährt werden kann (vgl. Lord Hope of Craighead, House of Lords, Purdy, S. 18, Rdn. 41, m. w. N.). Insofern reichten die bisherigen Entwicklungen in der britischen Rechtswirklichkeit nicht dazu aus, um die erforderliche Rechtssicherheit in Fällen des assistierten Suizids zu gewährleisten. Den von der EMRK aufgestellten Kriterien der „accessibility“ und „forseeability“ würde bis dato nicht gerecht (Ebd. S. 24, Rdn. 53). Insofern wurde der Anspruch Purdys nicht daraus abgeleitet, dass die Strafverfolgungsbehörden ein Ermessen als solches hatten. Vielmehr wichen die britische Gesetzeslage und die Wirklichkeit der Strafverfolgung so eklatant voneinander ab, dass es im Interesse Purdys lag – und von ihrem Selbstbestimmungsrecht gedeckt wurde –  eine wohl informierte und autonome Entscheidung treffen zu können7. Im Ergebnis wurde dem Begehren Purdys stattgegeben und vom Director of Public Prosecutions gefordert, eine straftatspezifische Richtlinie zu veröffentlichen, in der die Fakten und Umstände, die bei einer Entscheidung über die (weitere) Strafverfolgung in Fällen wie Purdy berücksichtigt werden, offen gelegt werden8. Diese Richtlinie wurde später unter dem Titel „Policy for prosecutors in respect of cases of encouraging or assisting suicide“ veröffentlicht9.
In der Entscheidung Haas stellte der EGMR dann ausdrücklich fest, dass das Recht einer Person, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet sein soll, Teil des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sei; vorausgesetzt, diese Person könne ihren Willen frei bilden und entsprechend handeln (Vgl. EGMR Haas, in: NJW 2011, S. 3773 Leits. 1 der Bearb. und S. 3774, Rdn. 51). Diese Rechtsprechung bestätigte der EGMR u. a. in Koch ./. Bundesrepublik Deutschland (Vgl. EGMR Koch ./. Bundesrepublik Deutschland, Urt. v. 19.07.2012 – Az. 497/09, in: NJW 2013, S. 2953 ff., S. 2953 Leits. 3 der Bearb. und S. 2955, Rdn. 52) und im Wesentlichen auch in Hristozov u. a. (Vgl. EGMR Hristozov, in: NJW 2014, S. 450, Rdn. 116). Aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folge jedoch kein Anspruch dahin gehend, dass ein Staat einem/einer Sterbewilligen den Zugang zu einem todbringenden Mittel ohne weitere Prüfung ermöglichen muss (Vgl. EGMR Haas, in: NJW 2011, S. 3774 f., Rdn. 55 ff.). In die Interpretation des Art. 8 Abs. 1 fließe die staatliche Lebensschutzverpflichtung aus Art. 2 EMRK mit ein (Ebd. S. 3774, Rdn. 54; siehe schon oben). Das bedeutet, dass die staatliche Lebensschutzverpflichtung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Grenzen setzt. Insofern verfolge, so der EGMR in Haas, das nach dem Schweizer Recht vorgeschriebene Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung das berechtigte Ziel, die Sterbewilligen vor einer voreiligen Entscheidung zu schützen sowie Missbräuche zu verhindern und zwar insbesondere dahin gehend, „dass ein nicht urteilsfähiger Patient eine tödliche Dosis […] erhält“ (Ebd. S. 3774, Rdn. 56). Gerade dann, wenn – wie in der Schweiz –
„ein Land eine liberale Lösung wählt, müssen geeignete Maßnahmen zur Durchführung einer solchen Gesetzgebung insbesondere zur Verhinderung von Missbrauch getroffen werden.“ (Ebd. S. 3774, Rdn. 57).
Während es im Fall Haas noch um die Reichweite des Selbstbestimmungsrechtes bei der Sterbehilfe und seine möglichen Begrenzungen durch die staatliche Lebensschutzpflicht ging, forderte der EGMR dann in Gross ./. Schweiz (EGMR Gross ./. Switzerland, Urt. v. 14.05.2013 – Az. 67810/10)10 aus Art. 8 EMRK – ähnlich wie das britische House of Lords in Purdy – vom betroffenen Mitgliedstaat die Schaffung konkreter Inhalte in Bezug auf die Sterbehilfe. Der Wunsch der dortigen Beschwerdeführerin Gross, eine Dosis Natrium-Pentobarbital zur Verfügung gestellt zu bekommen, um ihr Leben zu beenden, sei Teil des Rechts aus Art. 8 EMRK (Ebd. Rdn. 60). Demgegenüber stelle es einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar, dass das Schweizer Recht keine klaren Kriterien für den Fall aufstellt, in dem ein/e nicht schwer kranke/r, aber frei verantwortlich entscheidende/r Sterbewillige/r eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital erhalten möchte, um sich das Leben zu nehmen (Ebd. Rdn. 66 f., 69). Dies sei, so der EGMR in Gross, für Betroffene wie für Ärzt_innen gleichermaßen abschreckend (Ebd. Rdn. 65 f.). Auf Grund der bestehenden Unsicherheit werde der/die Sterbewillige in einem sehr wichtigen Bereich seines/ihres Lebens Qualen ausgesetzt (Ebd. Rdn. 66). Dies würde unterbleiben, wenn es eindeutige, staatlich anerkannte Richtlinien gäbe, die die Umstände definierten, ob und wie Ärzt_innen einem/einer freiverantwortlich handelnden, aber nicht tödlich erkrankten Sterbewilligen eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital verschreiben dürfen (Ebd. Rdn. 66, 69).
Dass auch nationale Gerichte in Fragen der Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe eine mögliche Rechtsverletzung nach der EMRK prüfen müssen, bekam die bundesrepublikanische Justiz zu spüren. In Koch ./. Bundesrepublik Deutschland bejahte der EGMR eine Verletzung der Rechte des Ehemannes einer schwer kranken Frau aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, die erfolglos versucht hatte, in Deutschland eine Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital zu erhalten und zwischenzeitlich in der Schweiz Suizid begangen hatte. Der Ehemann hatte den von seiner verstorbenen Frau begonnen Rechtsstreit fortgeführt, wobei die deutschen Gerichte sich allerdings schon mit der Begründetheit der Klage nicht auseinander gesetzt hatten, weil sie die Rechte des Ehemannes als nicht verletzt ansahen (Vgl. EGMR Koch, in: NJW 2013, S. 2953, Sachverhaltsschilderung). Der EGMR hielt dies für eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK. Zwar könne der Ehemann nicht etwaige Rechtsverletzungen seiner verstorbenen Frau geltend machen, da die Rechte insofern höchstpersönlich und nicht übertragbar seien (Ebd. S. 2956 f., Rdn. 78 ff.). Die eigenen Rechte des Ehemannes aus Art. 8 Abs. 1 EMRK erforderten aber eine Auseinandersetzung mit der materiellen Rechtslage, und dies – auf Grund der Subsidiarität – schon vor den deutschen Gerichten (Ebd. S. 2956, Rdn. 65 ff.).
Im „zweiten Teil“ des innerstaatlichen Rechtsstreits, den Koch im Wege der Restitutionsklage führte, hob das Verwaltungsgericht (VG) Köln sein früheres Urteil auf, wies aber die Klage Kochs im Ergebnis trotzdem ab (Vgl. VG Köln, Urt. v. 13.05.2014 – 7 K 254/13, in: BeckRS 2014, 52372). Das VG Köln ging nunmehr von einer eigenen Klagebefugnis Kochs aus Art. 8 Abs. 1 EMRK aus (Ebd.), was es zuvor noch abgelehnt hatte (Vgl. VG Köln, Urt. v. 21.02.2006 – 7 K 2040/05, in: BeckRS 2006, 22244). In der Begründung führte das VG Köln aus, dass die verstorbene Ehefrau Kochs keinen Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb eines bestimmten Betäubungsmittels zum Zwecke der Selbsttötung gehabt habe. Dem habe ein zwingender Versagungsgrund entgegen gestanden, weil das Mittel gezielt zur Selbsttötung habe eingesetzt werden sollen.
Zwar gehöre
„zur notwendigen medizinischen Versorgung auch die Versorgung mit schmerzstillenden Medikamenten am Ende des Lebens […], selbst wenn als Nebenwirkung hierbei ein schnellerer Eintritt des Todes“ erfolge (VG Köln, Urt. v. 13.05.2014 – 7 K 254/13, in: BeckRS 2014, 52372).
Dies sei „jedoch medizinisch und ethisch streng abzugrenzen von der Aushändigung eines tödlichen Betäubungsmittels zur gezielten Lebensbeendigung.“ (Ebd.) Auch die Entscheidung des EGMR in Koch führe nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn der EGMR habe
„den Vertragsstaaten […] einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Verwirklichung der Rechte des Art. 8 EMRK eingeräumt, der auch die Möglichkeit umfasst, eine Sterbehilfe durch die Verschreibung oder Gewährung tödlicher Medikamente auszuschließen.“ (Ebd.)
Bei der im Rahmen von Art. 8 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 EMRK gebotenen Abwägung hinsichtlich der Frage, „ob der Staat seine […] positiven Verpflichtungen zum effektiven Schutz des Selbstbestimmungsrechts verletzt“ habe, sei es
„nicht zu beanstanden, wenn ein Vertragsstaat den Gefahren des Fehlgebrauchs von Betäubungsmitteln für Gesundheit und Leben eines Menschen den Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen über die Gestaltung seines Lebensendes einräumt. Denn hierdurch wird der überragenden Bedeutung des Rechts auf Leben bzw. der Schutzpflicht des Staates für das Leben und den erheblichen Missbrauchsgefahren Rechnung getragen.“ (Ebd.)
Zwar gewinne in einem Falle „wie dem vorliegenden, in dem ein freier und nachvollziehbarer Entschluss zur Lebensbeendigung vorliegt, […] der Eingriff in das Recht zur Selbstbestimmung am Lebensende an Bedeutung“ (Ebd.). Dem Selbstbestimmungsrecht müsse dennoch nicht der Vorrang eingeräumt werden. Denn weder müsse das geltende Betäubungsmittelgesetz
„dahingehend erweiternd ausgelegt werden, dass in diesem Fällen die medizinische Versorgung auch die Versorgung mit Arzneimitteln zur Selbsttötung umfasst, noch ist der Gesetzgeber nach Art. 8 EMRK verpflichtet, für diese Fälle eine Ausnahmeregelung zu schaffen.“ (Ebd.).
Entscheidend wird auch in Zukunft sein, dass die Mitgliedstaaten der EMRK im gesundheitlichen Bereich einen erheblichen Ermessensspielraum haben (Vgl. EGMR Hristozov, in: NJW 2014, S. 447, Leits. 5 der Bearb. und S. 451, Rdn. 123 f.). Denn die jeweiligen staatlichen Behörden und Gerichte sind „am besten dazu in der Lage […], Prioritäten, die Verwendung von Ressourcen und die sozialen Bedürfnisse zu beurteilen“ (Ebd. S. 447, Leits. 5 der Bearb. und S. 450, Rdn. 119). Bzgl. der Genehmigung der Verwendung eines (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels ist – wie in den anderen Fällen – zu berücksichtigen, dass
„die Betroffenen wegen ihrer Verwundbarkeit und des Fehlens eindeutiger Daten über mögliche Risiken und Nutzen solcher Medikamente vor einer Behandlung geschützt werden, die ungeachtet des Endstadiums ihrer Krankheit eine Gefahr für Leib und Leben sein kann“ (Ebd. S. 451, Rdn. 122).
Darüber hinaus sollen vom nationalen Gesetzgeber aufgestellte medizinische Standards nicht abgeschwächt oder umgangen werden (Ebd.). Sofern im jeweiligen Mitgliedstaat eine Interessen- und Risikoabwägung stattfindet, ist es nicht Aufgabe des EGMR, zu prüfen, ob es eine noch bessere Möglichkeit gegeben hätte, einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu finden. Die Prüfung des EGMR beschränkt sich vielmehr darauf, ob staatliche Stellen den ihnen zustehenden Ermessensspielraum überschritten haben (Ebd. S. 451, Rdn. 125).
Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter)
Das Verbot von Sterbehilfe oder assistiertem Suizid ist keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, die Suizidbeihilfe nicht strafrechtlich zu verfolgen oder gar eine rechtmäßige Möglichkeit einer Sterbehilfe zur Verfügung zu stellen (Vgl. EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2851, Leits. 2 der Bearb. und S. 2852 f., Rdn. 49 ff.). Bei der Definition des in Art. 3 EMRK verankerten Begriffes der „Behandlung“ geht der EGMR von einer Art „Misshandlung“ aus, „die ein Mindestmaß an Schwere erreicht und körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid mit sich bringt“ (EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2853, Rdn. 52, m. w. N.). Dieses Voraussetzungen sah der Gerichtshof im Falle Pretty als nicht erfüllt an und zwar auch nicht bei der Frage nach der „Unmenschlichkeit“ des britischen Verbots der Suizidbeihilfe an sich (Ebd. S. 2853, Rdn. 54). Insofern zeigten die Richterinnen und Richter zwar Verständnis für die tatsächliche Situation der Beschwerdeführerin und das von ihr empfundene Leiden (Ebd. S. 2853, Rdn. 55). Aus Art. 3 EMRK folge aber keine positive Schutzverpflichtung des Staates dahin gehend, eine Sterbehilfe zu erlauben. Denn hierdurch würde der Staat Handlungen billigen müssen, die darauf abzielten, Leben zu beenden, obwohl er nach Art. 2 EMRK grundsätzlich zum Lebensschutz verpflichtet ist (Ebd. S. 2853, Rdn. 55 f.; siehe auch oben unter Art. 2 EMRK).
Auch die Weigerung der bulgarischen Behörden im Falle Hristozov u. a., die Verwendung des bis dato nicht zugelassenen Medikaments zu genehmigen, ist keine Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (vgl. EGMR Hristozov, in: NJW 2014, S. 447, Leits. 4 der Bearb. und S. 449 f., Rdn. 111 ff.). Denn anderenfalls würde der Vorschrift des Art. 3 EMRK eine extensive Auslegung zukommen, auf die sie nicht abzielt bzw. nicht angelegt ist (vgl. EGMR Hristozov, in: NJW 2014, S. 450, Rdn. 113; siehe schon EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2853, Rdn. 54). Ebenso wenig verpflichtet Art. 3 EMRK die Mitgliedstaaten, „die Unterschiede der in verschiedenen Ländern gewährten Gesundheitsversorgung zu mildern“ (EGMR Hristozov, in: NJW 2014, S. 450, Rdn. 113, m. w. N.). Aus Art. 3 EMRK folgt also jedenfalls kein positiver Anspruch auf Annäherung verschiedener Standards bei der Gesundheitsversorgung, wenngleich eine Untergrenze dahin gehend gezogen werden kann, dass jemand einer derart schlechten gesundheitlichen Versorgung, die zu einer schweren Gesundheits- oder gar Todesgefahr führen kann, nicht ausgesetzt werden darf (vgl. EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2853, Rdn. 52 mit Verweis auf EGMR D ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 02.05.1997 – 146/1996/767/964, in: NVwZ 1998, 161 ff. Siehe dort S. 162, Rdn. 51 ff.).
Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot)
Es stellt schließlich auch keine Diskriminierung nach Art. 14 EMRK dar, wenn es einem/einer Sterbewilligen faktisch verwehrt ist, Suizid zu begehen. Nach Auffassung des EGMR in Pretty gibt es
„eine sachliche und vernünftige Rechtfertigung dafür, nicht grundsätzlich zwischen Personen, die physisch in der Lage sind, Selbstmord zu begehen, und solchen, die das nicht sind, zu unterscheiden.“ (EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2855, Rdn. 89).
Ähnlich wie im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gebe es auch bei Art. 14 EMRK gute Gründe, keine Unterscheidung zwischen Menschen, die ohne Hilfe Suizid begehen können, und solchen, die dies nicht können, zu treffen. Der Schutz des Lebens würde „ernsthaft untergraben“ und die Missbrauchsgefahr erheblich vergrößert (vgl. EGMR Pretty, in: NJW 2002, S. 2855 f., Rdn. 89.).
Aktive Sterbehilfe unter der EMRK
Die Benelux-Staaten (Niederlande, Belgien und Luxemburg) haben sowohl die aktive Sterbehilfe als auch die Beihilfe zur Selbsttötung in den vergangenen Jahren legalisiert. Dabei haben alle drei Staaten in den jeweiligen Gesetzen eine Reihe von Bedingungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit ein Sterbehelfer/eine Sterbehelferin sich nicht strafbar macht.
Die Kriterien, die in den Benelux-Staaten die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung von der Strafbarkeit ausnehmen, gelten für beide Begehungsformen gleichermaßen. Die jeweils einschlägigen Rechtsnormen weisen viele Gemeinsamkeiten auf11. So darf eine Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe grundsätzlich nur von einem Arzt / einer Ärztin geleistet werden12. Diese/r muss bestimmte Sorgfaltsanforderungen erfüllen, um straffrei zu bleiben13. Beispielsweise beinhalten die im niederländischen Gesetz festgeschriebenen, vom Arzt/von der Ärztin zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen, dass er/sie a) zu der Überzeugung gelangt ist, dass ein freiwilliges und wohlüberlegtes Sterbeverlangen vorliegt, b) er/sie davon überzeugt ist, dass das Leiden des Patienten/der Patient_in aussichtslos und unerträglich ist, c) den Patienten/die Patient_in über seine/ihre Situation und die bestehenden Aussichten aufgeklärt hat, d) mit dem Patienten/der Patientin zu der Überzeugung gelangt ist, dass es für die Situation keine vernünftige andere Lösung gibt, e) mindestens einen anderen unabhängigen Arzt/eine andere unabhängige Ärztin zu Rate gezogen hat, die/der den Patienten/die Patientin gesehen hat und f) die aktive Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe medizinisch sorgfältig ausgeführt hat14. Ähnliche Anforderungen beinhalten auch das belgische15 und das luxemburgische16 Sterbehilfegesetz. Zentrale Kriterien sind nach allen drei Gesetzen eine umfassende Aufklärung des Patienten/der Patientin, ein aussichtsloser und unerträglicher Krankheitszustand, eine aktuelle und freiverantwortliche Sterbeentscheidung sowie die Hinzuziehung mindestens eines anderen Arztes/einer anderen Ärztin. Darüber hinaus sind jeweils Kommissionen zur Überprüfung von geleisteter Sterbehilfe bzw. Suizidbeihilfe eingerichtet worden17. Diese beurteilen auf Grund eines vom Arzt/von der Ärztin zu verfassenden Berichts, ob dieser/diese die Sorgfaltskriterien eingehalten hat18. Sofern die Kommission zu der Auffassung gelangt, dass dies nicht der Fall ist, kann sie die Strafverfolgungsbehörden einschalten19.
Aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe sind in den Benelux-Staaten damit auch weiterhin grundsätzlich unter Strafe gestellt. Nur unter Einhaltung sämtlicher Sorgfaltskriterien begehen Ärztinnen und Ärzte, die Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe leisten, keine Straftat. Eine Überprüfung dessen findet erst nach Ausführung der Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe statt. Niemand kann sich also im Vorfeld bereits einer Immunität sicher sein. Eine Überprüfung der Gesetzeslage in den Benelux-Staaten durch den EGMR hat bis dato nicht stattgefunden. Allerdings können an Hand der bisher erarbeiteten Kriterien Indizien für die Zulässigkeit der aktiven freiwilligen Sterbehilfe unter der EMRK festgestellt werden. Die EMRK gewährt in Art. 8 Abs. 1 ein Selbstbestimmungsrecht, zu dem auch die Entscheidung gehört, selbst über das Ende des eigenen Lebens zu bestimmen (Pretty; Haas; Koch; Gross). Dem Einzelnen muss es möglich sein, eine wohl informierte und überlegte Entscheidung zu treffen (Purdy). Die Entscheidung muss freiwillig und in Kenntnis aller relevanten Umstände getroffen werden (Haas). In diesem Falle ist der Staat auch nicht dazu verpflichtet, das Leben der/des Sterbewilligen gegen ihren/seinen Willen zu schützen (Haas). Vor diesem Hintergrund ist die Legalisierung einer aktiven freiwilligen Sterbehilfe unter der Voraussetzung der umfassenden Aufklärung der/des Sterbewilligen und deren/dessen frei verantwortlich getroffener Sterbeentscheidung vorstellbar.
Da der Staat grundsätzlich nach Art. 2 EMRK zum Lebensschutz verpflichtet ist (Pretty; Haas), kann er im Rahmen seines Beurteilungsspielraums unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit die Ausführung der Sterbehilfe verbieten (Pretty; Haas; Lambert). Aus der EMRK kann also kein Anspruch auf Sterbehilfe abgeleitet werden (Pretty; Haas). Daher ist auch ein Verbot der aktiven freiwilligen Sterbehilfe mit der EMRK vereinbar, wenn der jeweilige Gesetzgeber zu dem Ergebnis gelangt, dass Missbrauchsgefahren oder Risiken zu hoch sind.
Umgekehrt setzt aber auch das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK Grenzen. So können Verfahren geschaffen werden, die der Ermittlung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens der/des Betroffenen dienen und die den Anforderungen aus Art. 2 EMRK genügen. In Bezug auf die Schweiz und Frankreich liegen bereits Entscheidungen des EGMR vor (Haas; Gross; Lambert). Bis auf Weiteres können sich andere Mitgliedstaaten bei der Frage danach, ob ein Sterbehilfe-Gesetz gegen Art. 2 EMRK verstößt, an den Vorgaben aus der Schweiz und aus Frankreich orientieren. Die Benelux-Staaten haben in ihren jeweiligen Gesetzen entsprechende Vorgaben dahin gehend getroffen, dass ein frei verantwortliches und wohlüberlegtes Sterbeverlangen der/des Patienten/Patientin vorliegt und sich diese/r in einer medizinisch aussichtslosen und unerträglichen Lage befindet. Er/sie muss umfassend aufgeklärt worden sein. Auch darf es keine Behandlungsalternative zur Sterbehilfe geben. Ferner muss mindestens ein weiterer Arzt/eine weitere Ärztin zu der Entscheidungsfindung hinzu gezogen werden. Damit soll – wie im Schweizer Verfahren zur Suizidbeihilfe – sicher gestellt werden, dass der/die Sterbewillige zum Einen sein/ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben kann, zum Anderen aber der jeweilige Staat dem Lebensschutz ausreichend Rechnung trägt.
Darüber hinaus gibt es weder ein Recht auf Zusicherung von Straffreiheit im Vorfeld der Sterbehilfe-Handlung (Pretty) noch ein Recht auf rezeptfreien Zugang zu Natrium-Pentobarbital (Haas). Insofern liegt kein Verstoß gegen die EMRK vor, wenn ein Mitgliedstaat die Sterbehilfe nur mit Hilfe eines detaillierten Verfahrens zulässt. Überdies ist auch die Entscheidung der Benelux-Staaten, erst im Nachgang der Sterbehilfe-Leistung durch die entsprechende Kommission die Rechtmäßigkeit der Sterbehilfe überprüfen zu lassen, konventionskonform. Bevor die Sterbehilfe nicht ausgeführt worden ist, kann sich der handelnde Arzt/die handelnde Ärztin einer Immunität vor der Strafverfolgung nicht sicher sein. Ferner ist ein Staat nach der EMRK nicht dazu verpflichtet, den Zugang zu nicht zugelassenen Medikamenten in einer bestimmten Art und Weise zu regeln (Hristozov). Diese Vorgaben können weder als Folter/unmenschliche Behandlung noch als Diskriminierung angesehen werden (Pretty; Hristozov). Vor diesem Hintergrund verstößt es nicht gegen die EMRK, wenn ein Staat die freiwillige Sterbehilfe nicht legalisiert oder lediglich bestimmte Formen hiervon zulässt. Ein Staat ist jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR dazu verpflichtet, klare Richtlinien aufzustellen, die die Umstände definieren, in denen Ärzte/Ärztinnen einem freiverantwortlich entscheidenden, aber nicht tödlich Kranken möglicherweise eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital verschreiben dürfen (Gross). Wenn also ein Staat schon liberalere Regelungen zur Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe getroffen hat, dann ist der jeweilige Gesetzgeber gefordert, für Klarheit dahin gehend zu sorgen, ob ein/e nicht tödlich Erkrankter/Erkrankte, der/die aufgeklärt ist und frei verantwortlich handelt, sich Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe leisten lassen darf.
Fazit
Für die aktuelle Debatte in Deutschland und das laufende Gesetzgebungsverfahren bedeutet die oben getroffenen Feststellungen Folgendes: Vor dem Hintergrund der zentralen Vorgabe aus der Rechtsprechung des EGMR, dass Art. 2 EMRK dem Staat die Verpflichtung zum Schutz des Rechts auf Lebens auferlegt, ist der Gesetzgeber gehalten, Auswirkungen und Risiken eines möglichen Gesetzes im Rahmen seines Ermessenspielraumes zu beurteilen. Hiernach kann er den Einzelnen/die Einzelne auch vor sich selbst schützen, er muss es aber dann nicht, wenn der/die Betroffene freiverantwortlich handelt. Die staatliche Schutzpflicht endet also dort, wo der/die Einzelne eine eigenverantwortliche und freiwillige Sterbeentscheidung trifft.
Zum Anderen ist – bei einer Zulassung bestimmter Formen der Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe – entscheidend, wie das zugehörige Verfahren ausgestaltet wird, d. h., wie der Staat gesetzlich sicherstellt, dass der/die Einzelne nicht gegen seinen/ihren Willen in seinem/ihrem Recht auf Leben beeinträchtigt wird. Orientieren kann sich der Gesetzgeber bis auf Weiteres an den Verfahren in der Schweiz (Suizidbeihilfe) und in Frankreich (passive Sterbehilfe). Die in den Benelux-Staaten erlassenen Gesetze zur Legalisierung der Sterbehilfe und der Suizidbeihilfe zeigen, dass ein umfangreiches und detailliert ausgestaltetes Verfahren erforderlich ist, um eine Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe als zulässig ansehen zu können. Insbesondere muss der wirkliche Wille des Patienten/der Patientin ermittelt und damit zum Einen seinem/ihrem Selbstbestimmungsrecht, zum Anderen aber auch der Verpflichtung zum Schutz des Lebens Rechnung getragen werden. Insofern kann auch nicht im Vorfeld der Sterbehilfe-Leistung – man denke an Pretty – eine Immunitätszusage gegenüber dem potentiellen Sterbehelfer/der potentiellen Sterbehelferin abgegeben werden. Eine Handlung – sei sie strafbar oder auch nicht – kann erst beurteilt werden, wenn sie begangen wurde. Daher kann nur vorab durch ein möglichst vielschichtiges, aber gleichzeitig transparentes Verfahren abgesteckt werden, welche Handlung gegebenenfalls straffrei bleibt.

NICOLA JACOB   Jahrgang 1983, Dr. jur., Richterin in Nordrhein-Westfalen, Buchveröffentlichung: Aktive Sterbehilfe im Rechtsvergleich und unter der Europäischen Menschenrechtskonvention (2013).
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