Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Entkri­mi­na­li­sie­rung für Flucht­helfer!

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 115-124

EU-Sicherheitspolitiker fordern schon länger eine schärfere Verfolgung von Schleppern und Schleusern, um die unkontrollierte Einwanderung in die Union zu unterbinden. Wie rücksichtslos einige Schlepper vorgehen, wenn sie die Einreise bzw. Weiterreise von Flüchtlingen in der EU organisieren, wurde spätestens im August diesen Jahres deutlich, als in Österreich ein LKW mit 71 toten Flüchtlinge entdeckt wurde. Die Menschen waren in einem unbelüfteten, nicht-klimatisierten Kühlfahrzeug über die ungarisch-österreichische Grenze geschmuggelt worden und dabei erstickt.
Lassen sich solche Tragödien mit schärferen Gesetzen gegen Schlepper und Schleuser verhindern? Handelt es sich bei den sog. Schleppern und Schleusern nur um geldgierige und gewissenlose Geschäftemacher? Welche (rechtlichen) Alternativen gibt es, um dubiosen kommerziellen Fluchthelfer/innen das Handwerk zu legen? Axel Nagler beschreibt in seinem Beitrag die Strafvorschriften gegen Fluchthilfe und schildert einige Strafverfahren der letzten Jahre. Dabei werden zahlreiche Widersprüche der aktuellen Rechtsprechung deutlich. Er plädiert deshalb für eine Kehrtwende in der europäischen Grenzpolitik, um Fluchtkorridore und einen geregelten Zugang zu den Asylrechtssystemen der EU zu schaffen.

Die Menschen umgehen und überrennen mittlerweile massenhaft einfach die Grenzbefestigungen und Polizeikordons, um dorthin zu gelangen, wo sie in Frieden und unter menschenwürdigen Umständen leben können. Das sieht offenbar auch die Bundesregierung so, die in den letzten Wochen unter Aufgabe der Regeln der Dublin-Abkommen und aller Einreisebestimmungen mehreren zehntausend Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland ermöglicht hat.
Gleichzeitig steigt die Anzahl der Strafverfahren gegen Menschen, die Flüchtlingen die Reise bis nach Mitteleuropa erst ermöglicht, die ihnen Wege über die Grenzbefestigungen gezeigt, sie begleitet, untergebracht, transportiert und versorgt haben, sprunghaft an. Nach Pressemeldungen sind derzeit ca. 2.600 Ermittlungsverfahren gegen Fluchthelfer_innen anhängig, oft ganz normale Familienväter. 800 Personen sitzen deswegen in Untersuchungshaft, 600 von ihnen allein in Bayern, wo die Justizvollzugsanstalten an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen.
Viele dieser Menschen, gemeinhin verächtlich „Schleuser“ genannt, gehören nicht vor ein Strafgericht; ihr Handeln ist, wenn es im nachstehend geschilderten Sinne geschah, nicht strafwürdig, sondern lobenswert. Der Zynismus der Politik, die einerseits das Elend und die Verfolgung in den Herkunftsstaaten beklagt, andererseits aber der Einreise verfolgter und gequälter Menschen nahezu unüberbrückbare Hindernisse in den Weg setzt, ist unerträglich. Die Europäische Union, die ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sein will, und ihre Mitgliedstaaten haben ein System geschaffen, das es den hilfsbedürftigen Menschen unmöglich macht, ohne Fluchthelfer_ innen nach Europa zu gelangen. Diese dann vor Strafgerichte zu stellen und in Gefängnisse zu sperren, ist pharisäerhaft widersprüchlich und zutiefst inhuman.

Zur Rechtslage

Die Rechtslage sieht derzeit nach der Rechtsprechung der Strafgerichte „ganz einfach“ aus: Die Einreise eines schutzbedürftigen Menschen aus Russland, Syrien, Uganda oder sonst wo, der nicht über ein Visum oder einen sonstigen Aufenthaltstitel verfügt und nicht direkt an der Grenze um Asyl nachsucht, ist unerlaubt und mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht. Wenn er aber an der Grenze um Asyl nachsucht, wird ihm Einreise verweigert, sofern er aus einem „sicheren Drittstaat“ (das sind die Staaten der Europäischen Union, Norwegen und die Schweiz) kommt. Da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist, ist es so gut wie ausgeschlossen, ohne fremde Hilfe legal in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen.
Daneben haben nach den so genannten Dublin-Verordnungen Flüchtlinge und um internationalen Schutz Nachsuchende, die das Gebiet der Europäischen Union erreichen, ihr Asylverfahren grundsätzlich in dem Staat durchzuführen, indem sie zuerst in die EU eingereist sind. Das hat zur Überlastung sämtlicher mit der Durchführung von Asyl- und Schutzverfahren befassten Systeme in Griechenland, Italien und Malta und neuerdings Ungarn geführt, weshalb eine große Zahl von Gerichten bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Rückführung von Flüchtlingen in diese Länder untersagt haben. Das ist auch der Grund dafür, dass Flüchtlinge sich weigern, sich z.B. in Ungarn registrieren zu lassen.
Damit ist eine erlaubte Einreise nach Deutschland für Flüchtlinge so gut wie ausgeschlossen; stellen sie ihren Asylantrag nach dem illegalen Grenzübertritt unverzüglich, steht ihnen allerdings strafrechtlich der persönliche Strafausschließungsgrund des Art. 31 Genfer Flüchtlingskonvention zur Seite.
Anstiftung und Beihilfe zur unerlaubten Einreise sind aber im Aufenthaltsgesetz zum Sondertatbestand erhoben, wenn der Gehilfe hierfür einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt oder wiederholt oder zu Gunsten von mehreren Ausländern – z.B. einer ganzen Familie – handelt. Wer in diesen Fällen gewerbsmäßig handelt oder als Mitglied einer Bande, ist mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bedroht. Wer beide Alternativen erfüllt, hat eine Mindeststrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren zu erwarten.
Das juristisch Perfide an dieser Konstruktion ist, dass der persönliche Strafausschließungsgrund, der die Flüchtlinge selbst vor Strafe schützt, für den/die Helfer_in nicht gilt. Das tatsächlich Perfide ist, dass die Fluchthelfer_innen wegen der Kriminalisierung jeder Tätigkeit für die Organisation der Reise hohe Preise an Fahrer_innen, Grenzbeamt_innen, für Unterkünfte, Führer_innen und Papiere zahlen und von den Flüchtlingen verlangen müssen, so dass ihnen gewerbsmäßiges Handeln fast immer unterstellt wird, auch wenn tatsächlich von ihnen selbst kein Gewinn erzielt wird oder sie als Taxifahrer nur ihren Job machen. Die Strafdrohungen sind dann gleich sehr hoch. Gleichartige Regeln existieren in allen Staaten der Europäischen Union.

Einige Beispiele

a) Die Syrer

Vor dem Landgericht Essen ist unlängst ein Straferfahren wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Menschen aus Syrien mit der Verhängung von nicht mehr bewährungsfähigen Freiheitsstrafen gegen drei der Angeklagten zu Ende gegangen. Drei weitere Angeklagte, die sich nicht offensiv verteidigt haben, erhielten zwar Bewährungsstrafen, aber daneben erhebliche Geldauflagen (in einem Fall 110.000,–€) und anschließend die Kündigung durch ihren Arbeitgeber.
Die Flüchtenden wurden auf dem Landwege, per Schiff oder per Flugzeug mittels gefälschter Dokumente nach Griechenland gebracht. Dort blieben sie zunächst, wurden untergebracht und verpflegt, teilweise mit Ausweisdokumenten für die Weiterreise versehen und dann in verschiedene Länder wie Österreich, Italien, Spanien, Frankreich, Belgien und Deutschland gebracht. In diesen Ländern haben sie in der Regel um Asyl oder internationalen Schutz nachgesucht und, soweit bekannt, ausnahmslos erhalten.
Diese Fluchtwege kosten Geld: Es müssen gefälschte Papiere besorgt, Transportmittel angemietet oder Fahrkarten und Flugtickets gekauft werden, es müssen Unterkünfte für die verschiedenen Zwischenstopps auf den Reisen und Verpflegung besorgt und Helfer_innen gewonnen werden. Dies alles ist, weil illegal, aufwändig und besonders teuer. Die Polizei hat im Rahmen der Ermittlungen tausende von Telefonaten abgehört, in denen natürlich auch von Geld die Rede ist, zum Teil von Beträgen zwischen 4.000 und 10.000 € pro Person, teilweise noch darüber hinaus. Hieraus erwuchs die Beschuldigung, die Angeklagten hätten gewerbsmäßig gehandelt, um aus dem Elend der Flüchtlinge für sich selbst Profit zu ziehen. Aus den Urteilsbegründungen geht allerdings hervor, dass das Gericht nicht feststellen konnte, dass bei den Verurteilten ein nennenswerter Gewinn eingetreten ist. Das ist angesichts der immensen Kosten, die die Organisation einer solch illegalen Reise verursacht, nicht verwunderlich.
Die Helfer hatten von Fall zu Fall in unterschiedlichen Konstellationen je nach Anforderung Leute aus dem Krisengebiet heraus gebracht, die entweder mit ihnen verwandt waren, aus dem gleichen Ort oder der gleichen Gegend stammten. Die Flüchtlinge haben in der Beweisaufnahme betont, dass sie immer fair behandelt, gut untergebracht und mit allen notwendigen Unterstützung bis hin zu ärztlicher Versorgung bedacht waren und sich ausdrücklich bei einem der am härtesten bestraften Angeklagten für ihre Rettung bedankt.
Allen geflohenen Personen ist in Europa Schutz vor dem Grauen des syrischen Bürgerkrieges und den humanitären Katastrophen in den an Syrien angrenzenden Ländern und den dortigen Flüchtlingslagern geboten worden. Diejenigen aber, die es ihnen überhaupt ermöglicht haben, diesen Schutz und diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, steckt man ins Gefängnis und hindert nicht nur sie an weiterer Hilfestellung, sondern bezweckt natürlich auch, andere von ähnlichen Hilfeleistungen abzuhalten. Diese Art von Pharisäertum ist unerträglich.
Die Revisionen dieser Fluchthelfer sind vom Bundesgerichtshof im Februar 2015 verworfen worden, Verfassungsbeschwerden wurden nicht zur Entscheidung angenommen. Eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist in Vorbereitung.

b) Der Libanon

Der Libanon ist ein kleines Land, halb so groß wie Hessen. Seit Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime und dessen blutiger Reaktion sind etwa 4 Mio. Syrer_innen ins Ausland geflohen, davon nach offiziellen Zahlen 1,2 Millionen in den Libanon, tatsächlich vermutlich viel mehr. Angesichts der Einwohner_innenzahl des Libanon von geschätzt 6 Mio. heißt das, dass etwa jede/r vierte Einwohner_in syrischer Flüchtling ist. Der Libanon steht vor dem Kollaps: jeder Freiraum, jede Schule, jede Turnhalle, auch viele Moscheen, auch die Hochzeitshallen sind gefüllt mit Flüchtlingen, viele Libanes_innen teilen ihre Wohnungen mit ihnen. Die UN kommt mit der Registrierung der Flüchtlinge nicht mehr nach; die Verteilung von Nahrungsmitteln durch UNHCR ist reduziert worden, weil die Vorräte nicht ausreichen. So geht es auch in anderen Flüchtlingslagern z.B. im Nordirak oder Jordanien zu, weil der UN das Geld fehlt. In Fernsehberichten war zu sehen, wie viele Kranke und verletzte Menschen es gibt, die Hilfe bitter nötig hätten, aber keine mehr bekommen, weil nichts da ist. Viele planen die Flucht. Im Frühjahr und Sommer, wenn das Mittelmeer ruhiger geworden ist, brechen sie mit den Kindern nach Europa auf. Alles, sagen sie, ist besser als das Leben hier, auch das Risiko, auf dem Meer zu sterben. Inzwischen kommen viele auf den Wegen und über die griechischen Inseln.
Angesichts dieser Zustände ist die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen offizieller Kontingente beschämend gering und ineffizient. Das Verfahren, das ein syrischer Flüchtling durchlaufen muss, bevor er schließlich in Deutschland landen kann, ist so bürokratisch und langwierig, der Auswahlprozess so undurchsichtig, dass es kaum Wunder nimmt, dass zehntausende Syrer_innen „illegal“ reisen. Menschen, die es wirklich dringend brauchen, haben so viel Zeit nicht und verzweifeln an den deutschen Vorgaben. Die humanitäre Lage spitzt sich von Tag zu Tag zu, Tausende bekommen keine medizinische Versorgung, Lebensmittel werden immer knapper. Es ist kein Wunder, dass die, die es noch können, daher auf anderen Wegen versuchten, der Hölle zu entkommen. Europa hätte wahrlich Besseres zu tun, als diejenigen zu verfolgen, die solch schutzbedürftige Personen zu uns bringen.

c) Die Cap Anamur

Der Kapitän der „Cap Anamur“, der erste Offizier und der Vorsitzende des Komitees Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V. wurden nach der Rettung von 37 afrikanischen Schiffbrüchigen von einem defekten Schlauchboot wegen des Verdachts der Schleuserei in einem besonders schweren Fall am 12.07.2004 in Agrigent/Sizilien in Untersuchungshaft genommen, das Schiff wurde beschlagnahmt. Die drei Inhaftierten wurden – wohl wegen des internationalen Aufsehens – nach vier Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Mit teilweise von den Behörden bewusst verfälschten Beweisen wurden sie von der Staatsanwaltschaft Agrigent nach dem so genannten Bossi/Fini-Gesetz, angeklagt. Danach sollten sie sich als Zusammenschluss von mindestens drei Personen der Einschleusung von mehr als fünf Personen nach Italien in der Absicht, damit Gewinn zu erzielen, schuldig gemacht haben. Hierfür ist nach dem Gesetz eine Freiheitsstrafe von fünf bis zu 15 Jahren und zusätzlich Geldstrafe angedroht.
Da finanzielle Vorteile nicht festgestellt werden konnten, ging die Anklage davon aus, dass der Gewinn eben ein ideeller in Form öffentlicher Aufmerksamkeit gewesen sei. Nach fünfeinhalbjährigem Strafverfahren in Sizilien konnten die Angeklagten des Prozesses um die „Cap Anamur“ mit ihrem Freispruch zwar einen Sieg feiern, aber um was für einen Preis: Fast sechs Jahre waren sie mit dem Strafprozess beschäftigt und mit Strafe bedroht (der Staatsanwalt hatte in seinem Plädoyer je vier Jahre Haft und 400.000 € Geldstrafe beantragt) und mussten mehrere hunderttausend Euro Kosten ihrer Verteidigung und Reisekosten tragen, die sie nicht erstattet erhalten, weil das italienische Recht Derartiges auch im Falle des Freispruchs nicht vorsieht; eine für das Schiff für sechs Jahre gestellte Kaution i.H.v. 1,2 Mio € wird nicht verzinst.
Sie haben noch Glück gehabt, weil die öffentliche Aufmerksamkeit ihnen Unterstützung von Spender_innen eingebracht hat. Um die gleiche Zeit fand vor dem Landgericht Agrigent der Strafprozess gegen zwei tunesische Fischer statt, die 44 Flüchtlinge in der Nähe von Lampedusa aus Seenot gerettet hatten. Auch sie wurden wegen Schleusens angeklagt und im November 2009 zu 30 Monaten Haft sowie 440.000 € Geldstrafe verurteilt. Ihre immer noch beschlagnahmten Fischerboote waren aufgrund der langen Liegezeit beschädigt und unbrauchbar geworden. Nachdem sie im Frühjahr 2011 vom OLG Palermo freigesprochen wurden, waren sie ruiniert. Es ist bewundernswert, dass sich unter solchen Umständen immer noch mutige Seeleute finden, die Bootsflüchtlinge retten. Viele sehen aufgrund der zu erwartenden Schwierigkeiten über Seenotfälle hinweg, erst recht die Handelsschifffahrt. Keine Reederei kann sich die immensen Kosten einer größeren Fahrtverzögerung oder gar eines Verfahrens leisten; darauf wird offensichtlich gesetzt. Das erhöht die Todesrate ebenso massiv wie die Tatsache, dass es zahlreiche Berichte darüber gibt, dass die italienische Küstenwache Schiffen Hilfeleistung untersagte mit dem Hinweis, sie mache das selbst, dann aber nicht oder viel zu spät kam.

d) Die Nacht vor Lampedusa

In der Nacht zum 3. Dezember 2013 ertranken ca. 800 Meter vor der Hafeneinfahrt von Lampedusa 366 von über 500 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea an Bord eines Kutters. Das Schiff hatte Feuer gefangen und kenterte. Im Hafen von Lampedusa lagen mehrere Schiffe der Küstenwache. Sie halfen nicht. In den folgenden Stunden fuhren mehrere Schiffe an dem sinkenden Schiff und den Ertrinkenden vorbei, weil jeder, der Schiffbrüchigen hilft, wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung belangt werden und enorme Schwierigkeiten bekommen kann. Einige Fischer, die sich im Morgengrauen dennoch trauten, Überlebende auf ihre Kutter zu ziehen, berichteten übereinstimmend, die Küstenwache habe sich geweigert, zu helfen. Dieses Verhalten, dass jedenfalls nach deutschem Recht als Tötung durch Unterlassen in 366 Fällen angesehen werden kann, wird nicht strafrechtlich untersucht. Die europäische Politprominenz eilte sofort herbei und erklärte in Betroffenheit, es müsse sich etwas ändern. Was sich geändert hat, hat mit Humanität und Menschenrechten nichts, mit weiterer Abschottung aber sehr viel zu tun: Es wurde EUROSUR eingeführt, das mithilfe von Drohnenkameras, Satelliten-Suchsystemen und off-shore-Sensoren Flüchtlinge effizienter aufspüren soll. Das Budget von FRONTEX wurde um 30 Mio. € angehoben, und die spanische Enklave Melilla wurde auf Beschluss der spanischen Regierung erneut mit NATO-Draht umwickelt, der im Jahr 2007 abmontiert worden war, nachdem mehrere Flüchtlinge darin verblutet waren; die italienische Küstenwache wurde mit zusätzlichen Schiffen und Drohnen aufgerüstet. Es heißt, die Schleuser sollen – gar mit militärischen Mitteln – bekämpft werden.
Menschenrechte spielen bei dieser Art von Politik offenbar keine Rolle, auch wenn der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz erklärte: „Lampedusa wurde zum Gleichnis für eine europäische Flüchtlingspolitik, die aus dem Mittelmeer einen Friedhof macht“. Recht hat er: Zwischen 1988 und 2013 sind vor den Küsten allein Italiens nach Angaben der Menschenrechts-Organisation „A boun diritto“ mehr als 20.000 Flüchtlinge ums Leben gekommen.
Inzwischen ist die Seenotrettung durch Marineschiffe und die Seenotzentralen der Mittelmeerländer wieder verbessert worden, aber immer noch sterben erschreckend viele Menschen auf dem Meer.
Es ist dieses Grenzregime, das die Menschen tötet, nicht die Fluchthelfer. Europa schließt die Grenzen und heuchelt dann Betroffenheit, wenn die Konsequenzen seiner Politik sichtbar werden, so der Vorsitzende von Pro Asyl. Und der Generalsekretär von amnesty international fügte hinzu: Die Europäische Union ist armselig daran gescheitert, ihre Rolle als Rückzugsort für die Flüchtlinge wahrzunehmen, die alles bis auf ihr Leben verloren haben“. Immerhin hat Papst Franziskus die Kirchen dazu aufgerufen, Flüchtlinge zu beherbergen, auch wenn das den geltenden Gesetzen widerspricht.

e) Die Tamilen

Im August 2009 wurden vor dem Landgericht Osnabrück vier Tamilen angeklagt, die seit längerem in Deutschland lebten. Ihnen wurde vorgeworfen, banden- und gewerbsmäßig geschleust zu haben. Die Bundespolizei hatte umfangreich, insbesondere mittels Telefonüberwachung und durch Zusammenarbeit mit Polizeibehörden in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien ermittelt.
Seit Ende 2006 führte die Armee Sri-Lankas, von den USA, Großbritannien und Israel unterstützt, mit beispielloser Härte einen Feldzug gegen die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) und die von ihr im Norden Sri Lankas errichteten staatsähnlichen Strukturen, der schließlich mit Mai 2009 mit der militärischen Vernichtung der LTTE, der Ermordung ihrer Führer und der extralegalen Tötung zahlreicher Gefangener endete. Die Vereinten Nationen sprachen davon, dass der rücksichtslose Einsatz militärischer Gewalt in den letzten Wochen des Bürgerkrieges mindestens 40.000 zivile Opfer gefordert habe. So hatten die Regierungskräfte offiziell so genannte „no-fire-zones“ ausgewiesen, in die sich die Zivilbevölkerung während der Kämpfe zurückziehen können sollte. Gerade diese Zonen wurden dann aber mit Artilleriebeschuss und Bomben belegt. Auch Kirchen und Krankenhäuser, in die sich Menschen flüchteten, wurden gezielt bombardiert. Bereits in den langen Jahren zuvor war es seitens singhalesischer Sicherheitskräfte zu zahlreichen extralegalen Tötungen, Verschwinden-Lassen von Personen und endemischen Folterungen gegen Tamilen, aber auch jeden anderen, der sich der Tamilen annahm oder sonst wie oppositionell war, gekommen.
Nach Ende des Krieges wurde die tamilische Bevölkerung in riesigen Lagern interniert und unter ihr nach vermeintlichen Kämpfern gesucht. Nicht wenige, die sich freiwillig ergaben, haben das nicht überlebt. Tamilen aus Sri Lanka wurde daher in Europa und sonst in der Welt in der Regel Asyl und Schutz gewährt. In der Schlussphase des Bürgerkrieges und in den Wirren danach hieß es natürlich „Rette sich, wer kann“, und eine große Fluchtwelle setzte ein, wobei sich die Fliehenden Hilfe suchend an ihre Brüder und Schwestern in der Diaspora wandten.
Die vier Angeklagten waren allesamt solche, die auf Hilferufe ihrer Verwandten, ehemaligen Nachbarn und sonstiger tamilischer Volkszugehöriger reagierten. Hierzu war auch Geld erforderlich; der Seeweg war versperrt, eine Ausreise kam nur über den Flughafen Colombo in Betracht. Dafür mussten gefälschte Papiere besorgt und insbesondere zwei Beamte der singhalesischen Grenzpolizei am Flughafen für viel Geld bestochen werden. Für die Flugtickets nach Europa, die Unterbringung und den Weitertransport der Menschen waren ebenfalls enorme Summen erforderlich; die Angeklagten, die natürlich auch Auslagen für Telefonate, Fahrten mit dem eigenen Pkw zum Teil über weite Strecken, Verpflegung etc. hatten, behielten am Ende von den gezahlten Geldern so gut wie nichts übrig. Sie handelten nicht, um Geld zu verdienen.
Den Richtern des Landgerichts Osnabrück muss bereits bei Eingang der Akten Derartiges geschwant haben. Die Vorgänge in Sri Lanka jedenfalls waren auch in deutschen Medien präsent. Das Verfahren blieb lange Zeit liegen, und als es schließlich aufgenommen wurde, fand eine Verständigung statt, in denen die Verfolgung der Tamilen zum Inhalt des Verfahrens gemacht wurde. Die Hauptverhandlung endete mit milden Bewährungsstrafen, die nach der Gesetzeslage in ihrer gängigen Interpretation nicht zu umgehen waren.

Der Fluchtdruck

Diese Fluchthelfer sind sämtlich mit Strafverfolgung überzogen und teilweise mit einem blauen Auge davon gekommen. Selbst wenn sie zu Bewährungsstrafen verurteilt werden, sind sie aber wegen der immensen Verfahrenskosten für die oft monatelange Telekommunikationsüberwachung und den Einsatz von Dolmetschern finanziell ruiniert. Diese Behandlung haben sie nicht verdient angesichts dessen, was sie taten und beabsichtigten.
Sie sind Helden.
Die Menschen aber werden nicht aufhören, zu uns zu kommen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, und wir müssen uns dessen bewusst sein, dass Europa für viele dieser Gründe die Ursachen gesetzt hat und noch heute setzt. Die politischen Verhältnisse, die die europäischen Kolonialmächte bei ihrem Rückzug hinterlassen haben, einschließlich der oft willkürlichen Grenzziehungen, die unterschiedliche Völker in einem Staat zusammen fassten, sind nur ein Teil davon. Vom 16. bis 18. Jahrhundert sind Europäer in Südamerika eingefallen und haben, bis an die Knie in Blut watend, schiffsladungsweise Gold und Silber geraubt, das in Europa das Startkapital für die aufblühende Wirtschaft darstellte. Europäer haben ca. 20 Millionen Afrikaner zu Sklaven gemacht und in alle Welt verkauft. Durch die Ausbeutung ihrer Rohstoffe, das Leerfischen ihrer Meere, die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft für Billigprodukte und den Export hochsubventionierter Lebensmittel, die die Landwirtschaft  und die Fischerei dieser Länder vernichtet, stehen wir heute noch auf den Schultern der Bevölkerung der meisten Fluchtländer. Es geht uns gut, weil es ihnen schlecht geht. Von den ökonomischen, sozialen und politischen Krisen, die daraus entstehen, wollen wir nichts wissen, genauso wenig, wie jeder, der in Europa Schokolade isst, sich Gedanken darüber macht, unter welch erbärmlichen Umständen Kinder den Kakao produzieren, damit wir billige Schokolade bekommen und daran noch Spekulanten an den Rohstoffbörsen mit verdienen können.
Gegen den Druck, den diese Verhältnisse auslösen, helfen keine Grenzzäune, keine Mauern, keine off-shore-Sensoren, kein FRONTEX, kein Gesetz. Das zeigen die Flüchtlingsbewegungen in diesem Jahr in eindrucksvoller Weise. Durch die Illegalisierung der Zuwanderung schaffen wir einen überteuerten Markt für diejenigen, die die Wege nach Europa zeigen und bereiten können. Darunter gibt es sicher viele, die aus reinem Gewinnstreben das Leid der Menschen noch vergrößern, sie ausbeuten, erpressen, misshandeln und irgendwo sterben lassen. Gegen diese Straftaten helfen die allgemeinen Gesetze gegen Körperverletzung, Erpressung, Nötigung, unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige und vorsätzliche Tötung und Menschenhandel. Der Bestrafung der Fluchthilfe als solcher bedarf es hierzu nicht, vor allem nicht, weil sie direkt das Elend und die Not der Flüchtlinge vergrößert. Sie, die Menschen aus bitterster Not helfen, in Europa Zuflucht zu finden, verdienen keine Strafverfolgung, sondern Anerkennung.
Anstatt Hunderte von Millionen Euro in Grenzbefestigungen und Strafverfolgung zu investieren, sollten die Länder der Europäischen Union dafür sorgen, dass die terms of trade gerechter werden und damit die Fluchtursachen bekämpfen. Es muss eine Migrationspolitik geben, die auch Menschen aus den Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens eine Chance lässt. Für akute Notfälle wie in Syrien können leicht größere Kontingente von Fluchtplätzen und unbürokratische Visa-Verfahren eingeführt werden. Der Gedanke muss Einzug halten, dass die Regeln der Flüchtlings- und Migrationspolitik so gestaltet werden müssen, dass wir mit ihnen auch dann noch leben können, wenn wir selbst einmal davon betroffen werden sollten. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Fluchthelfer, die Menschen aus dem Ostblock nach Westeuropa gebracht haben, dort ebenfalls hart bestraft, hier aber als Helden gefeiert wurden.
Viele Europäer sind im 18. und 19. Jahrhundert vor Krieg, vor allem aber vor Hungersnöten und Armut nach Übersee geflüchtet, ganz zu schweigen von den Vielen, die vor dem Hitlerregime ihr Leben ihre Gesundheit und ihre Menschenwürde retten mussten.

Anwendung von Gesetzen im Einklang mit dem Recht

Schon nach derzeitiger Rechtslage ist eine teilweise Abhilfe möglich: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Einreise eines Menschen zum Zwecke der Asylantragstellung unmittelbar aus dem Verfolgerstaat nicht illegal, sondern Inanspruchnahme eines ihm verbürgten Grundrechts. Kann das Schutzbegehren nicht als Asylantrag, aber als Inanspruchnahme von einfachgesetzlichem Abschiebungsschutz gewertet werden, steht es unter dem Schutz völkerrechtlicher Normen, die die Europäischen Staaten binden, wie Art. 3 EMRK, Art. 3 des UN-Übereinkommens über Folter oder Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.
Die enge Verzahnung von asylrechtlichem und ausländerrechtlichem Schutz gebietet es, im Zweifel davon auszugehen, dass Schutz vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention geltend gemacht wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Grundrechte allgemein Vorwirkungen in dem Sinne, dass es Organisationsformen und Verfahrensregeln geben muss, die die die Inanspruchnahme dieser Rechte ermöglichen und nicht erschweren. Es ist daher geboten, die Einreisevorschrift des Asylverfahrensgesetzes so zu interpretieren, dass der, der diese Schutznormen in Anspruch nehmen will, nicht unerlaubt einreist, sondern von Gesetzes wegen mit dem Grenzübertritt eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung seines Aslyverfahrens hat. Das muss auch gelten für Menschen, die nicht unmittelbar aus dem Verfolgerstaat einreisen, aber aus Drittstaaten, in denen ihre Recht aus der Genfer Konvention und besonders Art. 3 EMRK und Art. 3 der Grundrechtecharta der EU nicht gewährleistet sind wie Griechenland und Ungarn. Damit entfällt die Grundlage für eine Strafbarkeit von Fluchthelfern allein wegen der Hilfe zur illegalen Einreise und Aufenthalt.

Legalisierung von Flucht und Fluchthilfe

Schärfere Grenzkontrollen, höhere Zäune und härtere Bestrafung werden das Arbeitsfeld für Fluchthelfer nicht austrocknen. Sie beleben es, und weil alles, was sie tun, illegal und mit hohem Risiko verbunden ist, hat Fluchthilfe hohe Gewinnmargen und findet in einem kriminogenen Umfeld statt. Die EU schafft selbst das kriminelle Milieu, wie das bei jeder Form von Prohibition, ob Alkohol, Prostitution, Drogen oder Flucht der Fall ist. Das treibt die Preise in die Höhe. Vor wenigen Wochen kostete eine Schleusung durch Mazedonien pro Person 500 bis 1.000 €. Als Mazedonien die Grenze öffnete, sank der Preis schlagartig auf 10 € – den Preis für eine Zugfahrkarte. Diejenigen Fluchthelfer, denen es nicht ums Geldverdienen und Gewinnmaximierung geht, sondern um menschliche Hilfe, die aber ohne große Mengen von Geld die Flucht gar nicht organisieren können, gehen in diesem Szenario unter und werden strafrechtlich über denselben Kamm geschoren wie gewöhnliche Kriminelle.
Aus der Drogenpolitik und anderen Prohibitionsbereichen wissen wir, dass gegen die damit verbundene Kriminalität nur eins hilft: die Eliminierung des Gewinnfaktors Risiko, die Legalisierung. Die USA haben das Alkoholverbot 1933 aufgehoben, weil statt der moralischen und körperlichen Gesundung der Bevölkerung das organisierte Verbrechen boomte. Bei den Drogen sind neuerdings einige Staaten diesen Weg gegangen – mit Erfolg.
Die Legalisierung der Schmuggelware Mensch muss heißen, aus illegalen Einwanderer_innen Flüchtlinge zu machen, die nicht nur das Recht haben, in der EU Asyl zu beantragen, sondern auch zu diesem Zweck in die EU einzureisen. Dazu muss man nicht die Außengrenzen, sondern nur Fluchtkorridore für solche Menschen öffnen, die ohnehin kommen würden und die gute Chancen haben, hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden, Syrer, Iraker, Eritreer zum Beispiel. Die juristische Handhabe dazu gibt es längst in der Form der sog. Kontingente; sie wird nur kaum genutzt und die Prozeduren sind so umständlich und langwierig, dass sie als Hilfe in der Not kaum geeignet sind. Man könnte daneben die Zahl der Stipendien und Aufenthaltserlaubnisse für Studierende aus Krisenregionen erhöhen und die Familienzusammenführung erleichtern. Jedem, der meint, das gehe doch auch nach bisherigem Recht, sei geraten, einmal selbst zu versuchen, beim Deutschen Konsulat in Beirut oder Amman einen Termin für die Antragstellung zu bekommen – schon das ist so gut wie unmöglich, weil die deutschen Konsulate und Botschaften chronisch unterbesetzt sind. Die Familienangehörigen kommen also anders und vertrauen sich Fluchthelfern an. Sogenannten „Armutsflüchtlingen“ kann mit einem organisierten Zuwanderungsverfahren eine Perspektive gegeben werden, wie die Bundesregierung es gerade für 20.000 Migrant_innen aus dem Westbalkan plant. Gäbe es mehr legale Wege, wären die 78 syrischen Flüchtlinge vermutlich nie in den LKW gestiegen, in dem sie im August in Österreich elendiglich erstickten; der kleine Aylan wäre vor der türkischen Küste nicht ertrunken. Wie sang Bob Dylan einst: „How many deaths will it take till we know that too many people have died? The answer my friend, is blowing in the wind …“
So lange die Wege nach Europa so kompliziert und der legale Zugang so schwer ist, ist der Kampf gegen Schlepper vor allem eins: ein Kampf gegen Flüchtlinge. Sorgen wir dafür, dass sich das ändert!

AXEL NAGLER   ist Rechtsanwalt, Notar und Seemann. Er ist Mitglied im Vorstand der Strafverteidigervereinigung NRW e.V.

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