Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Hamburger Stadtteile sind keine Gefah­ren­ge­biete

Zum Urteil des Oberverwaltungsgerichts Hamburg vom 13. Mai 2015

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 138-142

Seit 2005 darf die Hamburger Polizei größere Teile der Stadt zu „Gefahrengebieten“ erklären, in denen Personen ohne erkennbaren Anlass kontrolliert werden können. Diese Praxis wurde bereits mehrfach kritisiert und führte zum Jahreswechsel 2013/2014 zu einem breiten öffentlichen Protest (siehe die Berichte in vorgänge Nr. 205, S. 53/54 und Nr. 204, S. 74-81). Im Mai 2015 verwarf das Oberverwaltungsgericht Hamburg die zugrundeliegende Rechtsvorschrift aus dem Gesetz über die Datenverarbeitung der Hamburger Polizei als zu unbestimmt und verfassungswidrig. Kirsten Wiese diskutiert in ihrem Beitrag Inhalt und Auswirkungen dieser Entscheidung.

Klobürsten und eine „Haushaltsrolle in Alufolie eingewickelt, innen ein Zettel mit der Aufschrift ‚Peng‘“ fanden Polizist_innen unter anderem, als sie im Januar 2014 in den Hamburger Stadtteilen St. Pauli, Schanzenviertel und Altona ca. 1000 Passant_innen anlasslos kontrollierten. Gegen die kontrollierten Personen lag kein konkreter Gefahrenverdacht vor, die Polizei berief sich vielmehr darauf, dass sie diese Stadtteile am 4. Januar 2014 als „Gefahrengebiet“ ausgewiesen hatte. Dieser polizeilichen Einstufung vorausgegangen waren seit Dezember 2013 Proteste und Kundgebungen wegen Räumungsdrohungen gegen die Rote Flora, der ungeklärten Situation der Lampedusa-Flüchtlinge und dem absehbaren Ende der Esso-Häuser.Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Polizist_innen und Demonstrierenden sowie (behaupteten) Angriffen auf Polizeiwachen.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg erklärte im Mai 2015 jedoch das Rechtsinstitut „Gefahrengebiet“ für verfassungswidrig (Urteil v. 13.05.2015, Az. 4 Bf. 226/12). Dem zugrunde lagen allerdings nicht die Ereignisse von Januar 2014, sondern Identitätskontrollen im „Gefahrengebiet Walpurgnisnacht 2011“ im Hamburger Schanzenviertel. Dieser Beitrag erörtert zunächst die Rechtslage zu Gefahrengebieten in Hamburg und das Urteil des OVG Hamburg. Anschließend werden dessen Folgen für Hamburg und andere Ländern aufgezeigt.

Rechtsgrundlage im Hamburger Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei?

Die bisherige Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung von „Gefahrengebieten“ schuf das damals CDU-regierte Hamburg bereits 2005 im Artikel-Gesetz zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit in Hamburg. Der damals neu geschaffene § 4 Abs. 2 Satz 1 des Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei (HmbPolDVG) lautet: „Die Polizei darf im öffentlichen Raum in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.“3 Zur Feststellung der Identität darf die Polizei eine Person unter anderem zur Dienststelle bringen (§ 4 Abs. 4 Nr. 6 HmbPolDVG). Von „Gefahrengebiet“ spricht § 4 Abs. 2 S. 1 HmbPolDVG zwar nicht ausdrücklich; die Polizei selbst bezeichnet aber so die Gebiete, die in der Vorschrift beschrieben sind.
Die in § 4 Abs. 2 und 4 HmbPolDVG vorgesehenen Maßnahmen – Anhalten, Befragen, Identitätsfeststellung, Inaugenscheinnahme – stellen traditionelle präventive Polizeimaßnahmen dar, die das Hamburger Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) und das Gesetz zur Datenverarbeitung durch die Polizei gesetzlich regeln. Das Besondere an der „Gefahrengebiets“-Vorschrift ist, dass diese Maßnahmen durchgeführt werden können, ohne dass eine konkrete Gefahr, die von einer konkreten Person ausgeht, vorliegen muss. Das Merkmal der Gefahr soll vielmehr durch das Gebiet indiziert werden. Im Regelfall darf die Polizei dagegen nur handeln, wenn im Einzelfall eine konkrete Gefahr für die Beeinträchtigung eines Rechtsguts besteht oder unmittelbar bevorsteht. Diese Maßnahmen müssen zudem grundsätzlich – mit dem Ausnahmefall des Handelns gegen Dritte (§ 10 HmbSOG) – gegen die Person gerichtet sein, der die Verursachung der Gefahr zuzurechnen ist. Von diesem polizeirechtlichen Grundsatz – Handeln bei konkreter Gefahr durch konkrete Person (Störer) – weicht bereits § 4 Abs. 1 Nr. 2 HmBPolDVG ab. Diese Vorschrift ermächtigt die Polizei zur Identitätskontrolle an „Gefahrenorten“, das heißt an Orten, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort „a) Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben, b) Personen angetroffen werden, die gegen aufenthaltsrechtliche Straf- oder Ordnungswidrigkeitenvorschriften verstoßen, c) sich gesuchte Straftäter verbergen.“ Mit dieser bereits seit den 1990er Jahren bestehenden Vorschrift sollen Razzien zum Beispiel an Drogenumschlagsplätzen oder Rocker-Treffs ermöglicht werden. An diesen Orten erlaubt das Gesetz der Polizei jede Person zu überprüfen, die dort „angetroffen wird“, ohne dass sie auch nur den Anschein erwecken muss, ein Rechtsgut verletzen zu wollen. Ähnliche, teils sehr umstrittene Befugnisse enthalten auch die Polizeigesetze anderer Länder (z.B. § 21 Abs. 2 ASOG Berlin). „Gefahrengebiete“ im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 1 HmbPolDVG aber umschreibt eine noch größere und auch weniger begrenzbare Fläche als „Gefahrenorte“.5 Nach § 4 Abs. 2 S. 1 HmbPolDVG darf die Polizei ohne konkreten Gefahrenverdacht die Identität einer Person überprüfen und deren mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, wenn sich erstens die Person im öffentlichen Raum in einem Gebiet aufhält, für das aufgrund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass dort Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und zweitens die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.
Konkretere Kriterien, nach denen die Polizei ein „Gefahrengebiet“ einrichten darf, fehlen in der Vorschrift ebenso wie Vorgaben zu Zuständigkeiten und Verfahrensschritten. Solche hinreichend bestimmten Kriterien und Verfahrensvorschriften finden sich auch nicht in der Gesetzesbegründung.6 Nach der Gesetzesbegründung dient die Identitätsfeststellung in „Gefahrengebieten“ „in erster Linie dazu, eine von der kontrollierten Person möglicherweise ausgehende Gefahr abzuwehren. Daneben kann die Aufhebung der Anonymität bei potentiellen Störern zum Verzicht auf bestimmte Aktivitäten führen. Die Befugnis zur Inaugenscheinnahme mitgeführter Sachen soll es der Polizei ermöglichen zu klären, ob beispielsweise Einbruchswerkzeug oder Waffen transportiert werden“.Zum Verfahren, nach dem die Gebiete und die zu Kontrollierenden auszuwählen sind, sagt die Gesetzesbegründung: „Die Lageerkenntnisse sind vorab von der Polizei zu dokumentieren, um eine nachträgliche Überprüfung der Maßnahme zu ermöglichen. Die Kontrollen selbst werden in einem gestuften Verfahren durchgeführt. Zunächst erfolgt die Festlegung von Ort und Zeit der Kontrolle. Diese Entscheidung wird bestimmten Funktionsträgern, zum Beispiel dem jeweiligen Leiter eines Polizeikommissariats, übertragen. Daran schließt sich die Auswahl der zu Kontrollierenden an“.Nähere Einzelheiten enthält die bundesweit gleichlautende Polizeidienstvorschrift (PDV) 350. Danach ist ein Antrag auf Ausweisung eines Gefahrengebietes auf dem Dienstweg – d.h. über die Leitung der Direktion Einsatz – an den Leiter des Stabes der Direktion Polizeikommissariate (DPVLS) zu richten und von diesem zu entscheiden. Im Eilfall wird die Entscheidung dem „Dienststellenleiter der fachlich zuständigen Dienststelle, außerhalb der allgemeinen Dienstzeit dem PFvD“ (Polizeiführer vom Dienst) übertragen. Der Antrag muss Angaben enthalten zu den Gebietsgrenzen, den konkreten Lageerkenntnissen im Hinblick auf Straftaten von erheblicher Bedeutung (Ortsbezug) und auf zu überprüfende Personen und Personengruppen, ferner Angaben zur Erforderlichkeit der Gebietsausweisung.Letztlich erlaubt § 4 Abs. 2 S. 1 HmbPolDVG der Polizei, nach ausschließlich eigener Einschätzung das gesamte Bundesland Hamburg dauerhaft zu einem Gefahrengebiet zu machen, um anlasslos Personen zu kontrollierenDennoch soll diese Vorschrift nach Vorstellung des Gesetzgebers dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügen: „Das Lagebild und die hierzu im Einzelnen zu erlassenden Verfahrensregelungen stellen einen Ausgleich zu dem bei anonymen Gefahrenlagen naturgemäß fehlenden individuellen Zurechnungszusammenhang dar und machen die Maßnahme hinreichend bestimmt.“

Urteilsgründe des OVG Hamburg

Das sah das OVG Hamburg in seinem Urteil anders! Hintergrund des Verfahrens ist die Ausweisung eines „Gefahrengebiets Walpurgisnacht 2011“ im Hamburger Schanzenviertel am 30. April/1. Mai 2011. Die Klägerin hielt sich in den Abendstunden des 30. April 2011 im Schanzenviertel auf. Die Polizei überprüfte ihre Identität und kontrollierte ihren Rucksack. Anschließend erhielt die Klägerin ein Aufenthaltsverbot und wurde bis in die frühen Morgenstunden des Folgetages in Gewahrsam genommen. Im nachfolgenden Klageverfahren stellte das Verwaltungsgericht Hamburg fest, dass das Aufenthaltsverbot und die Ingewahrsamnahme der Klägerin rechtswidrig gewesen seien. Die zuvor erfolgte Identitätsfeststellung und die Kontrolle des Rucksacks seien demgegenüber rechtens gewesen.Im Berufungsverfahren entschied das OVG Hamburg jedoch, dass auch die Identitätsfeststellung und die Kontrolle des Rucksacks der Klägerin rechtswidrig war, § 4 Abs. 2 HmbPolDVG sei verfassungswidrig. Die Vorschrift verstoße gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie gebe zum einen nicht klar genug die Voraussetzungen für die Ausweisung eines Gefahrengebiets vor. Vielmehr bleibe es weitgehend der Polizei überlassen zu entscheiden, ob und für wie lange ein Gefahrengebiet ausgewiesen und dort Personen verdachtsunabhängig überprüft werden könnten. Das Gesetz erlaube zum anderen Eingriffsmaßnahmen von erheblichem Gewicht zur Abwehr bloß abstrakter Gefahren und gegenüber Personen, ohne dass diese zuvor einen konkreten Anlass für eine gegen sie gerichtete polizeiliche Maßnahme gegeben haben müssen. Die hiermit verbundene Belastung sei nicht angemessen.
Das Gericht hielt die Identitäts- und Rucksackkontrolle für einen Eingriff insbesondere in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Die verfassungswidrige Norm des § 4 Abs. 2 HmbPolDVG könne diesen Eingriff nicht rechtfertigen. Daneben sah das Gericht auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG) als betroffen an.
Bemerkenswert an dem Urteil ist, dass das OVG Hamburg sich ausführlich zur Verfassungswidrigkeit der „Gefahrengebiets“-Norm ausließ, obwohl diese Verfassungswidrigkeit letztlich nicht entscheidungserheblich war. Wäre die Verfassungswidrigkeit des § 4 Abs. 2 HmbPolDVG für das Urteil des OVG Hamburgs entscheidungserheblich gewesen, hätte das OVG das Verfahren aussetzen und die Norm dem Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG) oder dem Hamburgischen Verfassungsgericht (Art. 64 Abs. 2 Satz 1 Hamburger Verfassung) vorlegen müssen. Nur diese Verfassungsgerichte wären nämlich befugt gewesen, § 4 Abs. 2 HmbPolDVG verbindlich für verfassungswidrig zu erklären (s. § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Das OVG hielt die gegen die Klägerin gerichteten Maßnahmen aber auch aus anderen Gründen für rechtswidrig. Bei der Kontrolle des Rucksacks habe es sich um eine Durchsuchung gehandelt, die von § 4 Abs. 2 HmbPolDVG nicht gedeckt sei. Die Vorschrift erlaube nur die Inaugenscheinnahme mitgeführter Sachen. Die Auswahl der Klägerin zu einer Kontrollmaßnahme sei zudem ermessensfehlerhaft gewesen, denn der Auswahl habe ein unzulässiges, weil ungeeignetes Unterscheidungskriterium („linkes Spektrum“) zugrunde gelegen.
Das Urteil des OVG Hamburg ist erfreulich, weil es dem Trend, polizeiliches Handeln immer weiter in das Vorfeld möglicher Gefahren und damit immer weiter weg von einem möglichen Zusammenhang mit den kontrollierten Personen zu ermöglichen12, etwas Einhalt gebietet.

Folgen des Urteils

Das Urteil des OVG Hamburg ist rechtskräftig, die Freie und Hansestadt Hamburg hat die Zulassung der Revision nicht beantragt. Das Gericht hat die Vorschrift, die in „Gefahrengebieten“ zu anlasslosen Kontrollen ermächtigt, für verfassungswidrig erklärt, trotzdem steht § 4 Abs. 2 noch immer im Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei. Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen sieht zwar eine Überprüfung der Norm vor, die allerdings bislang noch nicht stattgefunden hat. Das Urteil des OVG Hamburgs hat demnach zwar zu großer Medienresonanz13, aber noch zu keinerlei gesetzlichen Änderungen geführt.
Eigentlich ist die Hamburger Rechtslage einmalig. Nur dort darf die Polizei großflächige Gefahrengebiete festlegen und in diesen Gebieten anlasslose Kontrollen durchführen. Die Polizeigesetze der anderen Bundesländer gestatten der Polizei jedoch die punktuelle Ausweisung von „gefährlichen Orten“ (so in Bayern, Bremen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen), von „kriminalitätsbelasteten Orten“ (Berlin) oder „Kontrollstellen“ (Bremen). Zwar sind die Befugnisse der Polizei dem Gesetz nach dadurch gegenüber der „Gefahrengebiets“-Ausweisung in Hamburg eingeschränkter, jedoch weist die Polizei in Bremen mit dem „Viertel“ nahezu einen ganzen Stadtteil und damit letztlich ein Gebiet als „gefährlichen Ort“ aus.
Dass die Polizei „Gefahrengebiete“ ausweisen darf, begegnet deshalb ebenso verfassungsrechtlichen Bedenken, wie deren Befugnis zur Ausweisung von „Gefahrenorten“. Die mit Identitätskontrollen einhergehenden Eingriffe in Grundrechte verlangen, dass der Gesetzgeber die Eingriffe an strenge Zulassungsvoraussetzungen knüpft. Diese müssen sein: konkrete Gefahr und persönliches Näheverhältnis der kontrollierten Person zur Gefahr!

KIRSTEN WIESE  ist Juristin, Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union und gegenwärtig Gastprofessorin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin für „Gender und Recht“.

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