Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Immer mehr Strafrecht?

Empirische Befunde zur Punitivität in Deutschland

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 9-19

Die deutsche Gesetzgebung hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Strafvorschriften eingeführt und bestehende verschärft. Dieser Beitrag zeigt anhand einer empirischen Untersuchung von Strafrechtsänderungsgesetzen, dass der Gesetzgeber dabei den Nachweis der Notwendigkeit und Wirksamkeit dieser Strafvorschriften schuldig bleibt. Stattdessen lässt er sich vorwiegend von den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung sowie dem Opferschutz leiten. Die verbreitete Annahme, die punitiven Entwicklungstendenzen auf der legislativen Ebene seien auf gestiegene Strafbedürfnisse in der Bevölkerung zurückzuführen, bestätigt der aktuelle Forschungsstand nicht. Allerdings deuten sich zunehmende punitive Haltungen in bestimmten Berufsgruppen an.

Expansion und Verschärfung des Strafrechts = legislative Punitivität?

„Während 1975 noch Forderungen nach Entkriminalisierung vorherrschten, hat sich der Zeitgeist heute in Richtung auf immer mehr und immer schärfere Kriminalisierung gedreht.“ (Hilgendorf (2007:203) So beschreibt Eric Hilgendorf treffend den die jüngere Strafrechtsentwicklung kennzeichnenden Trend zur Strafrechtsausweitung, welcher sich auch in meiner Untersuchung der Strafgesetzgebung1 von Mitte der 1970er bis Mitte der 2000er Jahre gezeigt hat (vgl. Schlepper 2014:79ff.). Die Expansionsbestrebungen konzentrierten sich bis Ende der 1990er Jahre auf spezifische Strafrechtsfelder: das Sexual-, Terrorismus-, Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht. Danach dehnten sie sich auf nahezu sämtliche Deliktbereiche aus. Die Ausweitung des Strafrechts zeichnet sich dadurch aus, dass fast ausschließlich Straftatbestände verschärft, erweitert oder neu geschaffen wurden. In der Zeit von 1976 bis 1990 wurden in mehr als sechzig Prozent der geänderten Strafgesetze Neukriminalisierungen sowie Tatbestandserweiterungen und in knapp einem Drittel Strafverschärfungen vorgenommen.
Von 1990 bis 2005 wurden sogar mit mehr als drei Viertel aller Änderungsgesetze Neukriminalisierungen und Tatbestandserweiterungen eingeführt und auch die Zahl der Gesetze, die zu Strafverschärfungen führten, stieg auf über vierzig Prozent. Strafmilderungen und Entkriminalisierungen spielten dagegen im gesamten Zeitraum nur eine marginale Rolle. Dass sich die Entwicklung des Strafrechts auch nach 2005 in diese Richtung fortsetzt oder gar noch weiter verstärkt, legt eine Untersuchung der Gesetzgebung im Bereich der Inneren Sicherheit2 von der 13. bis zur 16. Legislaturperiode nahe, in der für den gesamten Zeitraum ebenfalls eine klare Dominanz verschärfender gegenüber liberalisierenden Gesetzen festgestellt wurde, welche in den beiden letzten Legislaturperioden (2002-2005; 2005-2009) noch an Eindeutigkeit zunahm (vgl. Wenzelburger 2013:17).
In der kriminologischen Diskussion herrscht keineswegs Einigkeit darüber, den soeben beschriebenen Trend der Expansion und Verschärfung des Strafrechts als legislative Punitivität zu deuten. Peters (2009; 2014a; 2014b) wirft den Vertreter_innen dieser These – insbesondere aus den Reihen der kritischen Kriminologie – vor, dass sie ihre Diagnose ohne die Berücksichtigung einer etwaigen Veränderung der gesellschaftlichen Anerkennung der Sachverhalte stellen. Bezogen auf die Deutung der Expansion und Verschärfung des Strafrechts seit Mitte der 1970er Jahre als Beleg für die Punitivitätsthese sei daher der Nachweis zu erbringen, „dass die entsprechenden Sachverhalte in dem genannten Zeitraum gesellschaftlich als gleich anerkannt worden sind.“ (Peters 2009:183) Es stellt sich jedoch die Frage, warum es sich dabei um die ‚Holschuld‘ der kritischen Kriminolog_innen und nicht vielmehr um eine ‚Bringschuld‘ des Gesetzgebers handeln soll. So wäre der Peters’schen Logik (vgl. ebd.:183) im Grundsatz nicht zu widersprechen, nach der beispielsweise die Kriminalisierung von Vergewaltigung in der Ehe als Zunahme von Punitivität zu interpretieren sei, wenn sich die Annahme erhärten ließe, dass Männer in den vergangenen Jahrzehnten in der Ehe nicht brutaler geworden seien. Dass es jedoch der Kriminologie obliege, diese Überprüfung vorzunehmen und nicht umgekehrt die Aufgabe des Gesetzgebers sei, vor Erlass des Gesetzes eine Zunahme der Brutalität nachzuweisen, um zu belegen, dass es sich bei dem legislativen Akt nicht um Punitivität, sondern um legitimen Rechtsgüterschutz handelt, leuchtet nicht ein.
Die Bringschuld des Gesetzgebers bestünde jedoch nicht nur im Nachweis, dass sich die gesellschaftliche Anerkennung der Sachverhalte verändert hat, sondern auch der Wirksamkeit der gesetzlichen Änderungen. Gesetzgebung unterliegt dem im Grundgesetz verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzip, d.h. für jede legislative Maßnahme muss es „empirisch überprüfbare und hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür geben, dass ein solcher Eingriff geeignet und erforderlich (also überhaupt wirksam und einer weniger eingriffsintensiven Alternative in der Wirkung überlegen) ist.“ (Heinz 2007:496) In diesem Sinne gilt nach Hilgendorf (2010:130) als „Faustregel zur Feststellung punitiver Gesetzgebung und Strafzumessung“, dass „[p]unitiv verfährt, wer Strafbedürfnisse befriedigt, ohne sich empirisch abzusichern.“

Die empirische Absicherung von Strafrechtsänderungsgesetzen

Dass diese empirische Absicherung regelmäßig gar nicht oder nur unzureichend erfolgt, hat sich in meiner Untersuchung deutlich gezeigt und lässt sich leicht am Beispiel der Begründung von Strafrechtsänderungsgesetzen mit dem Abschreckungskonzept illustrieren (vgl. Schlepper 2014:140ff.). Nahezu in jedem zweiten Änderungsgesetz, das zwischen 1990 und 2005 in Kraft trat, wurde die Abschreckung zur Legitimation genannt. Der Abschreckungsgedanke hat sich damit zu einer der am häufigsten genannten Begründungen von Strafrechtsänderungsgesetzen entwickelt, wobei in der legislativen Praxis empirische Befunde zu dessen tatsächlicher Wirksamkeit anscheinend wenig bis gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Am häufigsten kommt der Abschreckungsgedanke in der Form zum Einsatz, welche der kriminologischen Forschung nach den geringsten Effekt hat – die Erhöhung der angedrohten Sanktion. In zahlreichen kriminologischen Studien hat sich herausgestellt, dass die Abschreckungswirkung nicht zunimmt, wenn härter gestraft wird (vgl. BMI/BMJ 2006:685).
Ungeachtet dessen wird von der Verschärfung der Sanktionen zudem auch in einem Deliktbereich Gebrauch gemacht, in dem die Täter durch strafrechtliche Verbote bekanntlich besonders unbeeindruckbar sind – das Sexualstrafrecht. Dort wurde der Strafrahmen für die Verbreitung und den Besitz kinderpornographischer Schriften angehoben, weil sich dadurch die generalpräventive Wirkung gegenüber potenziellen Tätern verschärfe (vgl. BT-Drs. 12/3001:5). Die in der 15. Legislaturperiode erfolgte erneute Anhebung des Höchstmaßes der Freiheitsstrafe für den Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften wurde ebenfalls damit begründet, die generalpräventive Wirkung gegenüber potenziellen Tätern zu erhöhen (vgl. BT-Drs. 15/350:21).
Auch die Strafrahmen gegen Menschenhandel sollten „in abschreckendem Maße“ (BT-Protokoll 15/109:9947) heraufgesetzt werden, nachdem schon in der zwölften Legislaturperiode eine Gesetzesverschärfung stattgefunden hatte, nach der ein hoher Strafrahmen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren für Menschenhandel eine erhebliche Abschreckungswirkung haben sollte (vgl. BT-Protokoll 12/79:6584). Ebenfalls der häuslichen Gewalt sollte durch das Abschreckungskonzept entgegengewirkt werden. So wurde in der ersten Beratung des Gesetzentwurfs zum Dreiunddreißigsten Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997 behauptet, dass eine „gewisse Abschreckung auf potentielle Täter“ (BT-Protokoll 13/172:15502) dadurch entstehe, dass nunmehr auch Vergewaltigung und sexuelle Nötigung innerhalb der Ehe unter Strafe gestellt werden.
Entfielen bei den eben genannten Änderungen des Sexualstrafrechts Bezugnahmen auf empirische Befunde zur abschreckenden Wirkung von Sanktionen gänzlich, so bilden sie im Bereich der Wirtschaftskriminalität vereinzelt Teil der Argumentation. Die Aufnahme weiterer Tatbestände in das Zweite Wirtschaftskriminalitätsbekämpfungsgesetz vom 15. Mai 1986 wurde damit begründet, dass die generalpräventive Abschreckungswirkung gerade bei potenziellen Wirtschaftsstraftätern nach den einschlägigen kriminologischen Untersuchungen sehr groß sei (vgl. BT-Drs. 10/318:16). Zwar ist in Bezug auf rational begangene Straftaten wie Wirtschaftsdelikte eine bedingte Abschreckungswirkung zu vermuten (vgl. Kunz 2011:290). Dass diese allerdings durch das bekanntermaßen geringe Entdeckungsrisiko in diesen Deliktbereichen erheblich geschmälert wird, was eine allzu hohe Abschreckungswirkung unwahrscheinlich macht (vgl. ebd.:290), findet keine Erwähnung. Im Rahmen der ersten Beratung des Entwurfs des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit vom 23. Juli 2002 brachte der Abgeordnete Romer (CDU/CSU) genau diese Kritik an der geplanten Verschärfung der Sanktionen zur Erhöhung der Abschreckungswirkung an. Im Einklang mit den Ergebnissen kriminologischer Forschung konstatierte er: „Höhere Strafen schrecken nur dann ab, wenn sie mit verschärften Kontrollen einhergehen.“ (BT-Protokoll 14/219:21716) Diese Feststellung hatte jedoch keinen Effekt. Weitere Strafmaßerhöhungen erfolgten in der 15. Legislaturperiode mit dem Ziel der Abschreckung vor der Organisation gewerblicher Schwarzarbeit (vgl. BT-Protokoll 15/109:9740).
Wie diese Beispiele zeigen, können die von den Abgeordneten vorgebrachten Argumente in keinster Weise als ausreichende empirische Belege für die Wirksamkeit der neuen gesetzgeberischen Maßnahmen überzeugen. Eben darin, dass dieser Nachweis regelmäßig nicht oder unzureichend erbracht wird, offenbart sich nicht nur der punitive Charakter, sondern auch die im Mittelpunkt dieses Schwerpunktheftes stehende ‚Reflexhaftigkeit‘, mit der das Strafrecht zum Einsatz kommt. Neue Strafgesetze erscheinen als universell einsetzbares Patentrezept zur Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen, wobei sich die Legislative keine Zeit mehr gibt, den Regeln rationaler Gesetzgebung nach den Prinzipien der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit zu folgen. Betrachtet man, wie die Gesetzesänderungen begründet und legitimiert wurden, gewinnt man vielmehr den Eindruck, die Wirkung der legislativen Maßnahmen auf den Täter und das Auftreten kriminalisierter Handlungen erweise sich als nachrangig und das Strafrecht adressiere primär die Gesellschaft, da es sich zunehmend vom sog. Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit sowie dem Opferschutz leiten lässt.

Leitprinzipien der Strafgesetzgebung

Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit hat Ende der 1990er Jahre durch die Neuformulierung der sog. Erprobungsklausel im Rahmen des bereits erwähnten Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 als (nicht näher definierte) Leitformel Einzug in das Strafrecht gehalten.
Setzte eine bedingte Entlassung vor der Gesetzesänderung voraus, dass „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird“ (§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB a.F.), erfolgt eine Aussetzung des Strafrestes nunmehr, wenn „dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB n.F.). Darin spiegelt sich die Schwerpunktverlagerung des Strafrechts von der auf den Täter gerichteten Spezialprävention auf die generalpräventive Adressierung der gesamten Bevölkerung deutlich wider, welche auch im Gesetzentwurf explizit formuliert wird: Weil § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB in seiner ursprünglichen Fassung in der Öffentlichkeit den unzutreffenden Eindruck erweckt habe, als sei eine vorzeitige Entlassung von gefährlichen Tätern, die z.B. gewaltsame Sexualstraftaten gegen Kinder begangen haben, auch ohne günstige Sozialprognose zu Lasten der öffentlichen Sicherheit möglich, bedürfe es der Klarstellung, dass eine Abwägung zwischen dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vorzunehmen sei (vgl. BT-Drs. 13/9062:9).
Angesichts dessen ist Haffke (vgl. 2005:26) uneingeschränkt darin zuzustimmen, dass die ausdrückliche Aufnahme des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit im Gesetzestext einen Wandel im kriminalpolitischen Klima hin zu einer Logik des Sicherheitsdenkens indiziert, nach der den Sicherheitsinteressen gegenüber den Resozialisierungsinteressen des Verurteilten größeres Gewicht beigemessen wird. Gleiches gilt für die Folgerung Rengiers (vgl. 2003:23) aus den gesetzlichen Änderungen, dass die Resozialisierungsidee nicht mehr im Vordergrund stehe und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu einem Leitmotiv werde. „Straftäter können nur insoweit »behandelt« werden […], als eine solche Behandlung die Bevölkerung schützt“ (Garland 2008:315). Damit erscheint Resozialisierung nicht mehr in erster Linie auf den Täter gerichtet, sondern auf den Schutz zukünftiger Opfer (vgl. ebd.:316). Insofern verwundert es nicht, dass die Resozialisierung zu den am seltensten vorkommenden Begründungen von Strafrechtsänderungsgesetzen zählt (vgl. Schlepper 2014:97ff.).
Der Opferschutz fungiert eng assoziiert mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit als weiteres Leitprinzip der Strafgesetzgebung. Primäre Zielgruppe scheint auch hierbei die gesamte Bevölkerung zu sein, da sich das Strafrecht nicht in den Dienst tatsächlicher, sondern virtueller Opfer3 stellt, wie Hassemer und Reemtsma (2002:103) treffend beschreiben: „Anders als die Viktimologie konzentriert sich die Kriminalpolitik auf Konzepte der virtuellen Opfer, also auf die von Verbrechensfurcht irritierte Bevölkerung. Dieser Opfertyp nährt die kriminalpolitischen Forderungen eines opferorientierten Strafrechts, er greift dankbar nach einem Grundrecht auf Sicherheit […] und besteht nachdrücklich auf dem Ende einer Empathie mit Straftätern.
Hier werden (virtuelle) Opfer gegen (virtuelle) Täter in Stellung gebracht, und das Opfer tritt auf als punitiver Motor von Verschärfungen in den Bereichen der inneren Sicherheit und des Strafrechts.“ Es hat sich eine politische Logik etabliert, die einem Nullsummenspiel gleicht und in der eine Parteinahme für das Opfer unweigerlich ein hartes Vorgehen gegen den Täter bedeutet (ebd.:62f.). Dieser Abwägungsgedanke zwischen Täter und Opfer einerseits und die Bezugnahme auf virtuelle anstatt konkrete Opfer andererseits wird z.B. in der zweiten Beratung über das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4. Mai 1998 deutlich. Hier wurde betont, dass es um die Interessen ‚potenzieller‘ Opfer gehe und die Frage aufgeworfen, ob die Rechte von Opfern geringer zu bewerten seien als die von Tatverdächtigen, um schließlich zu folgern, dass der Staat gut daran täte, wenn er in einer solchen Debatte den Fragen der Opfer ebenfalls den notwendigen Raum gebe (vgl. BT-Protokoll 13/214:19552). Noch deutlicher wird die Parteinahme für das Opfer in der zweiten Beratung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 sowie des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998. Nach dem Abgeordneten Geis (CDU/CSU) zeigen diese Gesetzgebungsvorhaben, dass eine Umorientierung im Strafrecht stattgefunden hat: „Wir gehen weg von dem Versuch, immer nur den Täter in den Mittelpunkt zu stellen, hin zu dem Versuch mehr das Opfer zu sehen“ (BT-Protokoll 13/204:18433). In ähnlicher Weise betonte der bayerische Staatsminister Leeb (CSU), dass dieser Gesetzentwurf Ausdruck dafür sei, dass im Mittelpunkt einer verantwortungsvollen Kriminalpolitik das Opfer stehen müsse (vgl. ebd.:18457).

Wer ruft nach immer mehr Strafrecht?

Es herrscht die weit verbreitete – auch als ‚Democracy-at-Work‘-Hypothese (Beckett 1997; Scheingold 1984) bekannt gewordene – Auffassung, dass die reflexhafte Reaktion der Politik mit härteren Strafgesetzen ihren Ursprung in Forderungen der Bevölkerung nimmt. Somit werde einer Zunahme der Strafbedürfnisse der Bürger_innen Folge geleistet. Auch die primär die gesamte Bevölkerung adressierenden Leitprinzipien der Strafgesetzgebung wie das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und der Opferschutz legen diese Interpretation nahe. Die bislang vorliegenden empirischen Befunde geben jedoch wenig Anlass zu vermuten, dass die punitiven Entwicklungstendenzen auf der legislativen Ebene auf gestiegene Strafbedürfnisse in der Bevölkerung zurückzuführen sind. Repräsentative Untersuchungen liefern keine Hinweise dafür, dass in den letzten Jahren vermehrt eine strenge Bestrafung von Verbrechen gefordert wird (vgl. Reuband 2010:102). Die Wiedergutmachung scheint der Bestrafung mehrheitlich vorgezogen zu werden. So hat sich in einer 2011 am Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP) durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsbefragung (N = 1.272) im Rahmen des DFG-Projektes „Punitivität – Erscheinungsformen und Genese“ gezeigt, dass 85 Prozent in der „Wiedergutmachung eines Schadens eine geeignete Alternative zur Strafe“ sehen (vgl. Armborst 2014:112).
Zur Messung der Strafeinstellungen der Bürger_innen werden in der Punitivitätsforschung u.a. auch die Strafzweckpräferenzen (Resozialisierung, Abschreckung, Vergeltung) erhoben. Dieser Indikator eignet sich am ehesten, etwaige parallele Entwicklungstendenzen auf individueller und legislativer Ebene aufzuspüren. Die Befragung des ISIP hat ergeben, dass der Resozialisierung der klare Vorrang gegeben wird. Vierzig Prozent der Befragten waren der Meinung, Freiheitsstrafen sollten in erster Linie den Sinn des Besserns und Eingliederns haben, während 29 Prozent den primären Sinn in der Sühne und Vergeltung für die Straftat und 27 Prozent in der Abschreckung sehen (eigene Berechnungen). Dass Resozialisierung in hohem Maße befürwortet wird, zeigt sich auch daran, dass 92 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten, „[i]m Gefängnis sollte jeder die Möglichkeit haben, sich auf ein straffreies Leben vorzubereiten“. (ebd.: 2014:112) Reuband (2010:102) stellt in seiner Untersuchung fest, dass der Strafzweck der Resozialisierung seit den 1970er Jahren nur in geringem Maße an Unterstützung verloren hat. Der marginale Stellenwert, der dem Resozialisierungsgedanken bei der Begründung der Strafrechtsänderungsgesetze zukommt, lässt sich daher nicht mit einer vermeintlich stark geschwundenden Befürwortung der Bürger_innen in Zusammenhang bringen.
Abschreckung als Strafprinzip erfährt hingegen Reuband (2010:102) zufolge bereits seit den 1970er Jahren konstant hohe Zustimmung aus der Bevölkerung. Die starke Bedeutungszunahme des Abschreckungskonzeptes zur Begründung der Strafrechtsänderungsgesetze seit den 1990er Jahren spiegelt sich also ebenfalls nicht in einem Anstieg in der Bevölkerungsmeinung wider.
Eine gewisse Kongruenz zwischen individueller und legislativer Ebene zeigt sich jedoch für eine spezielle Bevölkerungsgruppe – angehende Jurist_innen. Streng (2014) führt seit 1989 regelmäßig Befragungen von Studienanfänger_innen der Rechtswissenschaften durch, wodurch sich zeitliche Vergleiche anstellen lassen. Zwar kann diese Untersuchung nicht als repräsentativ gelten, weil lediglich die Studienanfänger_innen einer bestimmten Universität befragt werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum und worin sich die Studierenden der Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz (1989) oder der Universität Erlangen-Nürnberg (ab 1993) von ihren Kommiliton_innen an anderen Universitäten systematisch unterscheiden sollten. In Bezug auf die Strafzweckpräferenzen stellt Streng (2014:28ff.) von 1989 bis 2012 einen deutlichen Akzeptanzverlust des einst am stärksten präferierten Resozialisierungszwecks fest, während die Sicherung der Allgemeinheit eine Aufwertung zum obersten Strafzweck erfahren und ebenfalls die Abschreckung an Befürwortung gewonnen hat. Ohne dass damit ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen werden kann, weist die Entwicklung der Strafzweckpräferenzen angehender Jurist_innen damit tendenziell in dieselbe Richtung wie sie sich auf der legislativen Ebene abzeichnet.
Dass sich die Strafbedürfnisse von Jurist_innen und ‚Normalbürger_innen‘ unterscheiden, belegt eine ältere Untersuchung von Sessar (1992:244), der die Einstellungen in Bevölkerung und Justiz hinsichtlich Restitutivität und Punitivität untersucht hat. Dabei zeigten alle befragten Gruppen auf einer fünfstufigen Skala von ‚sehr restitutiv‘ bis ‚sehr punitiv‘ Mehrheiten bei ‚sehr punitiv‘: 66,1 Prozent der Staatsanwälte, 56,2 Prozent der Strafrichter, 43,6 Prozent der Zivilrichter und 34,2 Prozent der Bevölkerung (vgl. ebd.:219). Aus dem Auseinanderklaffen der Einstellungen von (punitivem) Justizpersonal und (eher liberaler) Bevölkerung schließt Sessar (ebd.:235), dass Zweifel an der These angebracht seien, dass die Strafjustiz einem (angeblichen) Ruf der Bevölkerung nach deutlicher Bestrafung folge. Allerdings findet der sich andeutende Einstellungswandel von Jurist_innen noch keinen durchgängigen Niederschlag in der Sanktionierungspraxis der Gerichte. Diese hat sich seit den 1970er Jahren nicht grundlegend verändert, es existieren jedoch zwei Entwicklungen, die als punitive Tendenzen diskutiert werden. Zum einen ist seit den 1980er Jahren ein Rückgang kurzer Freiheitsstrafen (bis 24 Monate) und ein Anstieg von Freiheitsstrafen ab zwei Jahren festzustellen (vgl. Kury et al. 2009:73f.). Zum anderen sind bei Kapitaldelikten, gefährlicher Körperverletzung und Sexualdelikten (insb. Vergewaltigung, sexueller Missbrauch von Kindern) die Sanktionen im Laufe der Zeit härter geworden (vgl. Streng 2013:498; Kury/Obergfell-Fuchs 2006:1035).
Die Strafbedürfnisse noch einer weiteren heranwachsenden Generation einer Profession weisen in eine ähnliche Richtung, und zwar diejenigen angehender Fachkräfte Sozialer Arbeit. In einer im Jahr 2010 durchgeführten Befragung von Studierenden Sozialer Arbeit an der Universität Vechta vertraten 52 Prozent die Ansicht, Strafe sei die beste Antwort auf kriminelles Verhalten und 48 Prozent stimmten der Forderung nach einer härteren Bestrafung Krimineller zu (vgl. Oelkers 2013:37). Ähnlich bejahten in einer Befragung von Studierenden der Erziehungswissenschaften an der Universität Bielefeld im Jahr 2009 53 Prozent die Aussage, Verbrecher sollten stärker bestraft werden (vgl. Ziegler 2011:76). Nun können auch diese Befragungsergebnisse aufgrund ihrer regionalen Beschränktheit nicht als repräsentativ angesehen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass keine Vergleichsdaten in diachroner Perspektive existieren, so dass nicht unbedingt davon ausgegangen werden kann, dass sich die Strafbedürfnisse angehender Sozialarbeiter_innen und Erziehungswissenschaftler_innen gewandelt haben. Dennoch haben die Befunde eine Debatte über Kontroll- und Straforientierungen in der Sozialen Arbeit und ihre Konsequenzen für das professionelle Handeln angestoßen (Oelkers 2013), auch wenn aus diesen Studierendenbefragungen nicht auf bereits berufstätige Fachkräfte Sozialer Arbeit geschlossen werden kann. Gleiches gilt für die angehenden Jurist_innen.
Nach Garland (vgl. 2008:272ff.), dem prominentesten Vertreter der Punitivitäts-These, wurde der kriminalpolitische Wandel und damit auch die Punitivierung der Strafgesetzgebung in den USA und Großbritannien maßgeblich dadurch befördert, dass die professionellen Mittelschichten, worunter er die Arbeitnehmer_innen der Institutionen des Strafjustizsystems fasst, ihre antipunitive Haltung aufgaben. Er vertritt die These, dass sich die Einstellungen und Neigungen dieser Berufsgruppen am grundlegendsten in eine punitive Richtung verschoben haben und sich dies am deutlichsten auf die Strafrechtspolitik ausgewirkt hat (ebd.:272). Jurist_innen und Sozialarbeiter_innen nehmen dabei eine zentrale Stellung ein. Insofern liefern die oben genannten Befunde Hinweise, dass hierzulande ähnliche Prozesse im Gang sind und die Punitivitätsforschung diese Entwicklungen stärker in den Blick nehmen sollte.

KRISTINA SCHLEPPER   Jhg. 1977, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen, aktuelles Forschungsfeld: Punitivitätsforschung, wichtigste Buchveröffentlichung: Strafgesetzgebung in der Spätmoderne (2014)

Literatur
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BT-Drs. 12/3001 03.07.1992: Entwurf eines … Strafrechtsänderungsgesetzes –Kinderpornographie (… StrafÄndG)
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BT-Protokoll 12/79: Stenographischer Bericht der 79. Sitzung der 12. Wahlperiode am 20.02.1992, S. 6581-6589
BT-Protokoll 13/172: Stenographischer Bericht der 172. Sitzung der 13. Wahlperiode am 24.05.1997, S. 15492-15505
BT-Protokoll 13/204: Stenographischer Bericht der 204. Sitzung der 13. Wahlperiode am 14.11.1997, S. 18432-18464
BT-Protokoll 13/214: Stenographischer Bericht der 214. Sitzung der 13. Wahlperiode am 16.01.1998, S. 19518-19560
BT-Protokoll 14/219: Stenographischer Bericht der 219. Sitzung der 14. Wahlperiode am 22.02.2002, S. 21707-21720
BT-Protokoll 15/109: Stenographischer Bericht der 109. Sitzung der 15. Wahlperiode am 07.05.2004, S. 9946-9952
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