Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Recht und Empathie

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 132-133

Tatjana Ansbach: Fremd. Storkow: Edition Märkische LebensArt, 2015, ISBN 978-3-943614-09-1, 134 Seiten, 9,50 €.

Flucht, Migration, Zuwanderung waren zweifellos die Themen des Jahres 2015. Integration – diese wichtige Tätigkeit, die in Psychiatrie und Behindertenhilfe mit Erfindung der Inklusion ins Abseits gestellt wurde, bekommt einen neuen, guten Klang. Ob das einsetzende Umdenken in Politik und Gesellschaft die behauptete historische Dimension annimmt, muss erst noch bewiesen werden.
Die vorliegende Textsammlung ist entstanden, bevor die Wir-Schaffen-Das-Bundeskanzlerin sich an die Spitze einer Bewegung setzte, die ohnehin nicht mehr aufzuhalten war. Die Geschichten wurden aufgeschrieben, bevor irgend jemand in dieser großen Koalition sich dafür interessierte, wie „Das“ denn zu schaffen wäre, wenn man wirklich etwas schaffen wollte. Geschrieben auch, bevor die Organe der Marktwirtschaft den volkswirtschaftlichen Nutzen, ja sogar die unumgängliche Notwendigkeit der Zuwanderung verkündeten; und bevor das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundesagentur für Arbeit unter einheitliche Leitung gestellt wurden …
Dieses Buch ist gerade deshalb so aktuell, weil es ein paar Tage älter ist als die Idee, Integration zur Staatsräson zu machen. Es legt völlig unaufgeregt den Finger in die Wunden, an denen unser verkorkstes Asyl- und Ausländerrecht leidet. Es ist eine hervorragende to-do-Liste der gesetzgeberischen Aufgaben, die vor der Regierung liegen, wenn sie wirklich Geschichte schreiben will.
In 15 abgeschlossenen Texten stellt Tatjana Ansbach menschliche Schicksale vor, die „das Leben geschrieben“ hat – das Leben in Form von Krieg, Bürgerkrieg, epochaler Umwälzung, familiärer oder individueller Entscheidung – und nicht zuletzt in Gestalt unseres stellenweise absurd-aberwitzigen deutschen Asyl- und Ausländerrechts. Kann man überhaupt erzählen, wie sich Abschiebung anfühlt für den Betroffenen? Wie ein Mensch nach durchlittener Folter das „Interview“ des Amts-Entscheiders erlebt? Was die schändliche Kriegswaffe Vergewaltigung anrichtet?
Ansbach schreibt mit dem Fachwissen einer promovierten Juristin, Spezialgebiete Völkerrecht und Menschenrechte, und mit 15-jähriger Erfahrung als Rechtsanwältin für Ausländer- und Asylrecht. Vor allem aber schreibt sie mit kompromisslos humanitärer Parteilichkeit – und mit großem Respekt vor ihren Protagonisten. Sie nimmt die Perspektiven unterschiedlichster Menschen ein – eines russischen Deserteurs, eines slowakischen Mädchens, eines tschetschenischen Familienvaters. Stets schaut sie durch die Augen der „Fremden“ auf das befremdliche System, das wir bereithalten – vorgeblich zum Schutz Verfolgter konstruiert, tatsächlich oft als undurchdringliche Mauer gegen die Menschen stehend.
„Deines Bruders Hüter“ in der Mitte des Buches ist wohl die Schlüsselgeschichte: Karl Altmann, deutscher Staatsbürger, Christ, ist langjährig ehrenamtlich als Schöffe am Landgericht tätig. Während eines aufwändigen Verfahrens gegen vermeintliche Schleuser kommen ihm zunehmend Zweifel an den geltenden Gesetzen. Die Angeklagten haben einige Angehörige bei deren Flucht vor wiederkehrender Folter unterstützt. Nach christlicher Ethik ist das tätige Nächstenliebe. Nach herrschendem Recht ist es illegale Beihilfe zum Grenzübertritt. Das Urteil fällt gegen die Angeklagten, gegen Altmanns Minderheitsvotum. Er bringt die unterschiedlichen Maßstäbe nicht mehr in Einklang und lässt sich folgerichtig vom Schöffenamt entbinden.
Tatjana Ansbach, Jahrgang 1948, hat bis zum Eintritt ins Rentenalter viele Jahre als Anwältin für Flüchtlinge und Asylsuchende gearbeitet. Die fünfzehn Geschichten beruhen auf tatsächlichen Fällen aus ihrer Praxis. Durch die sprachliche Aufbereitung gelingt es ihr hervorragend, Widersprüche und Unzulänglichkeiten unseres „Rechtsstaates“ erlebbar zu machen in ihren Auswirkungen auf die oder den Einzelnen. Dabei sind die Inhalt dramatisch genug, sie kann konsequent auf rethorische Steigerungen verzichten. Was über das Erzählte hinaus zu erläutern ist, platziert sie in kurzen Nachbemerkungen, aus denen dann gelegentlich doch ihre Beteiligung, ihre Wut hervorblitzen.
„Fremd“ ist, jenseits des allgegenwärtigen medialen Durcheinanders der Migrations – Berichterstattung, eine Chance auf nachhaltigen Erkenntniszuwachs. Ich wünsche mir das Buch in den Schulunterricht – Deutsch, Politik, Religion, Lebenskunde. Für sozialpsychiatrisch Denkende enthält es einige wunderbare Beispiele sprachlich vermittelter Empathie. Nicht zuletzt empfehle ich PolitikerInnen und JuristInnen die Lektüre. Die 29. Auflage der Beck-Texte „Ausländerrecht“ enthält, verteilt über 17 Einzelnormen auf 674 Seiten, nach wie vor die rechtlichen und tatsächlichen Probleme, die Frau Dr. Ansbach eindrücklich herausgearbeitet hat.

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