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VG Stuttgart: Keine Rechts­grund­lagen für verdachts­un­ab­hän­gige Kontrollen der Bundes­po­lizei

04. Januar 2016

in: vorgänge 212 (4/2015), S. 155/156

Das Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart hat am 22.10.2015 entschieden (1 K 5060/13), dass eine von der Bundespolizei durchgeführte verdachtsunabhängige Kontrolle und die darauf folgende Datenabfrage rechtswidrig waren. Geklagt hatte ein deutscher Staatsbürger afghanischer Herkunft, der im November 2013 im Fernzug von Berlin nach Freiburg gereist und im grenznahen Bereich von der Bundespolizei kontrolliert worden war. Nach seinen Angaben war er der einzige kontrollierte Passagier des Abteils, weshalb er die Polizeikontrolle als Fall von racial profiling einschätzte, bei dem er aufgrund seiner ethnischen Besonderheit kontrolliert wurde.

Der strittigen Frage, ob im vorliegenden Fall ein racial profiling stattgefunden habe, ging das Gericht in seiner Entscheidung nicht weiter nach. Dennoch verwarf es § 23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz (BPolG) als mögliche Rechtsgrundlagen für die Kontrolle. Nach dieser Vorschrift darf die Bundespolizei verdachtsunabhängige Kontrollen in einem grenznahen Bereich bis zu 30 km Tiefe durchführen, um die unerlaubte Einreise nach Deutschland bzw. grenzbezogene Straftaten (§ 12 Abs. 1 Nr. 1-4 BPolG) zu unterbinden. Sachlich könne sich die Polizei im vorliegenden Fall nicht auf diese Rechtsgrundlage stützen, so das Gericht, da der Zug von Deutschland ins Ausland unterwegs und eine unerlaubte Einreise damit schlicht unmöglich war.

Grundsätzlich bewertete das Gericht die Vorschrift in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG als Verstoß gegen das EU-Recht, konkret gegen Artikel 20 und 21 des Schengener Grenzkodex (VO (EG) Nr. 562/2006). Dieser verbiete den Mitgliedsstaaten nicht nur reguläre Grenzkontrollen (unmittelbar beim Grenzübertritt), sondern auch vergleichbare Kontrollbefugnisse, die die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen entfalten (S. 9). Die Vorschrift sei auch nicht europarechtskonform auslegbar, denn „[i]nsbesondere findet keine Beschränkung der Befugnis hinsichtlich der Intensität und Häufigkeit der Kontrollen statt. Vielmehr kann jede Person im Grenzgebiet jederzeit anlassunabhängig Adressat der polizeilichen Identitätsfeststellung sein … Die einzige Tatbestandsvoraussetzung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG ist das Antreffen einer Person im Grenzgebiet.“ (S. 10) Prinzipiell, d.h. nach dem Wortlaut des Gesetzes, könnte die Bundespolizei deshalb auf der Grundlage dieser Vorschrift Grenzkontrollen wieder einführen. Dass die Bundespolizei ihre gesetzliche Befugnis nicht ausschöpfe bzw. durch Verwaltungsvorgaben auf stichprobenartige Kontrollen beschränke, ändere nichts am europarechtswidrigen Charakter der Vorschrift.

Das Gericht stufte darüber hinaus auch die möglicherweise als Ersatzgrundlage dienende Bestimmung aus § 22 Abs. 1a BPolG (die vergleichbare Kontrollen im Inland erlaubt) als europarechtswidrig ein, da gegen sie die gleichen Einwände gelten würden.

Nach der Entscheidung des VG Stuttgart sind die Vorschriften zu verdachtsunabhängigen Kontrollen der Bundespolizei jedoch nicht obsolet: Sie dürften in den meisten Fällen zwar nicht mehr angewandt werden. „Zur Vermeidung von Missverständnissen weist das Gericht [jedoch] darauf hin, dass § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG auch künftig in Ausnahmesituationen als Ermächtigungsgrundlage für verdachtsunabhängige Personenkontrollen herangezogen werden kann, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Art. 23 ff. des Schengener Grenzkodex und im Einklang mit dessen Vorgaben vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betreffenden Binnengrenze einführt.“ (S. 11 f.) Im übrigen ist die Bundespolizei gegen die Entscheidung in Berufung gegangen, die Entscheidung des VG Stuttgart also nicht rechtskräftig.

VG Stuttgart 1 K 5060/13, Urteilsbegründung vom 22.10.2015 sowie Pressemitteilung des Gerichts vom 23.10.2015

Vera Egenberger: Gegenwärtige Entwicklungen bei der gerichtlichen Bearbeitung von ‚racial profiling‘, vorgänge 208, S. 123-129.

Sven Adam: „Racial profiling“ bei Befragungen und Identitätsfeststellungen im Gefahrenabwehrrecht des Bundes, vorgänge 204, S. 65-70.

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