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Die Verspre­chungen der Versamm­lungs­frei­heit und ihre tatsäch­li­chen Grenzen

Ein Erfahrungsüberblick aus der anwaltlichen Praxis. In: Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 37-45.

Als Rechtsanwalt, der häufig Veranstalter_innen vertritt und Versammlungen begleitet, beschreibt Peer Stolle, wie es zu einer Aushöhlung der Versammlungsfreiheit kommt – durch eine stark reglementierende behördliche Praxis und eine nicht auf die Sicherung von politischen Freiheitsrechten ausgerichtete polizeiliche Einsatzplanung. Diese Aushöhlung eines der wichtigsten Grundrechte darf nicht isoliert im Zusammenhang mit bestimmten politischen Gruppen gesehen werden, sondern muss als Angriff auf das Grundrecht insgesamt gewertet werden. Es gehört zur Wahrnehmung von Grundrechten, die Bestimmung der Weite ihres Schutzbereiches nicht den Behörden und den Gerichten zu überlassen. Stolle macht deutlich, dass nicht die Ausübung von Grundrechten rechtfertigungsbedürftig ist, sondern deren Einschränkung.

Die Versammlungsfreiheit wird sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur – zu Recht – als eines der zentralen politischen Grundrechte angesehen, das konstitutiv für ein demokratisches Gemeinwesen ist. Trotzdem tendieren die Versammlungs- und Polizeibehörden dazu, Versammlungen grundsätzlich als Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzusehen, wobei sie in der Konsequenz von vielen Instanzengerichten in dieser Sichtweise sogar gestärkt werden. Beim Lesen von Auflagenbescheiden und auch von erstinstanzlichen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten kann sich die/der geneigte Leser_in des Eindruckes nicht erwehren, dass Versammlungsteilnehmer_innen nicht als Grundrechtsträger_innen, sondern als potentielle Störer_ innen angesehen werden und dementsprechend behandelt werden müssten. Aus den Bescheiden und Beschlüssen ist zu lesen, dass den von der Versammlung ausgehenden vermeintlichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur durch immer komplizierter wirkende Handlungsanweisungen in Form von Auflagen durch die Versammlungsbehörde, mit deren Durchsetzung die Polizei beauftragt wird, begegnet werden könne. Diese stark reglementierende behördliche Praxis sowie eine nicht auf die Sicherung von politischen Freiheitsrechten ausgerichtete polizeiliche Einsatzplanung führen zu einer Aushöhlung der Versammlungsfreiheit.
In dem folgenden Artikel soll aus der Sicht eines Rechtsanwaltes, der öfter Veranstalter_innen von Versammlungen vertritt und häufig Versammlungen begleitet, dargestellt werden, wie das eigentliche Wesensmerkmal effektiver politischer Grundrechte, die Staatsferne, in der Praxis konterkariert und die Versprechungen der Versammlungsfreiheit nicht erfüllt werden.
1. Das Kooperationsgespräch
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Brokdorf-Beschluss1 eine Verpflichtung der Versammlungsbehörde zur versammlungsfreundlichen Kooperation festgeschrieben. Die Behörde ist daher verpflichtet, frühzeitig mit Veranstalter_innen einer Versammlung Kontakt aufzunehmen, um mögliche Fragen und Bedenken, insbesondere hinsichtlich einer möglichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, in einem gemeinsamen Prozess auszuräumen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber gleichzeitig festgelegt, dass dann, wenn der/die Veranstalter_in mit der Behörde kooperiert, die Schwelle für ein späteres behördliches Einschreiten höher liegt. Dies bedeutet, dass nicht nur die Behörde auf die Veranstalter_innen zugehen soll, sondern dass indirekt auch Druck für die Veranstalter_innen entsteht, im Vorfeld mit der Versammlungsbehörde zusammen zu arbeiten, da sie ansonsten riskieren, dass diese fehlende Kooperation als eine Begründung für ein frühes behördliches Einschreiten, sei es durch Beauflagung oder sogar durch ein Verbot, herangezogen wird.
Diese eigentlich zu begrüßende und im Grundsatz auch richtige Rechtsprechung führt in der Praxis allerdings dazu, dass selbst bei kleineren Versammlungen, die kein großes Gefährdungspotential aufweisen, die Veranstalter_innen von der Versammlungsbehörde zu einem Kooperationsgespräch eingeladen werden. Je nach Thema der Versammlung, deren prognostizierter Größe und Ausstrahlungswirkung kann man sich als Veranstalter_in bei einem solchen Kooperationsgespräch im günstigen Fall zwei Beamt_innen des zuständigen Polizeiabschnittes gegenüber sehen, mitunter aber auch 10 bis 12 Beamt_innen von verschiedenen Abteilungen und Behörden, deren genaue Aufgabe und Funktion oft im Dunkeln bleibt. Bei „einschlägigen“ Versammlungen sitzen auch gerne Vertreter_innen des polizeilichen Staatsschutzes mit am Tisch. Nimmt auf Veranstalter_innenseite nur eine Einzelperson an dem Kooperationsgespräch teil, kann bei dieser sehr leicht ein Gefühl der Ohnmacht und des Ungleichgewichts entstehen.
Im Rahmen dieses Kooperationsgesprächs werden oft nur die beantragte Route abgesprochen, soweit vorhanden, „Wünsche“ der Versammlungsbehörde auf Änderungen im zeitlichen und örtlichen Ablauf artikuliert und die Frage des Einsatzes von Ordner_innen und die zu erwartende Teilnehmer_innenzahl erörtert; Fragen, die auch unproblematisch telefonisch oder per Email geklärt werden könnten. Die Erörterung dieser Fragen kann aber ein mehr als einstündiges Gespräch in den Räumen der zuständigen Behörde beanspruchen. Gerne werden in diesem Zusammenhang aber Veranstalter_innen seitens der Versammlungsbehörde mit Interneteinträgen in Bezug auf die Versammlung bzw. mit so genannten „Erkenntnissen“ der Verfassungsschutzbehörden, die für die Erstellung einer Gefahrenprognose relevant sein sollen, konfrontiert. In der Regel ist es den Veranstalter_innen in diesem Rahmen nicht möglich, die Stichhaltigkeit dieser „Erkenntnisse“ und den Aussagegehalt der präsentierten Informationen zu beurteilen. Die Veranstalter_innen sind auf jeden Fall gut beraten, sich in dieser Situation nicht zu Behauptungen der Behörde zu äußern, die sie nicht kennen und die sie nicht überprüfen können. Nach der Durchführung des Kooperationsgespräches hat man als Veranstalter_in – wenn nicht bereits dort schon alle Fragen geklärt worden sind – die Möglichkeit, auch später zu den aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen. Dies sollte auch genutzt werden, um sich nicht zu Modifikationen bewegen zu lassen, für die es keine rechtliche Grundlage gibt.
2. Die Beauflagung von Versammlungen
Versammlungen sind bekannterweise nicht genehmigungsbedürftig; das heißt, sie sind lediglich anzeigepflichtig (es sei denn, es handelt sich um eine Spontanversammlung, bei der sogar die Anzeigepflicht entfällt). Daraus folgt wiederum, dass man eigentlich als Veranstalter_in mit der Anmeldung – sprich Mitteilung der Durchführung einer Versammlung an einem bestimmten Datum zu einem bestimmten Thema – seiner gesetzlichen Pflicht Genüge getan hat. Aus unerklärlichen Gründen wird diese fehlende Genehmigungsbedürftigkeit als grundrechtlicher Fortschritt angesehen. Dabei wird oft verkannt, dass in vielen Rechtsordnungen nicht einmal eine Anzeigepflicht  von Versammlungen besteht, von einer Genehmigungsbedürftigkeit ganz zu schweigen.2
Obwohl Versammlungen grundsätzlich nur anzeigepflichtig sind, enthalten die Bescheide, mit denen die Anmeldung der Versammlung bestätigt wird, nebst Hinweisen zur Durchführung einer Versammlung und zu den Rechten und Pflichten eines Versammlungsleiters in der Regel Auflagen. Je nach Versammlungsbehörde, Bundesland und Veranstalterkreis3 sind diese unterschiedlich und machen es den Veranstalter_ innen und Teilnehmer_innen von Versammlungen bei der Durchführung oft schwer.
Gesetzlich ist gemäß § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz eine Beauflagung einer Versammlung nur dann möglich, wenn diese unerlässlich ist, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Versammlung zu verhindern; d. h. die Prognose muss ergeben, dass mit Zusammentritt und Ablauf der Versammlung mit hoher Sicherheit (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ein Schaden an den der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgütern eintreten wird. Insofern besteht auch eine Begründungspflicht für die Behörde. Es bedarf einer auf den konkreten Einzelfall bezogene Gefahrenprognose, die auf nachweisbare Tatsachen gestützt wird und nicht auf bloßen Vermutungen und Möglichkeitserwägungen.4 Trotz dieser eindeutigen Vorgaben kommt es aber nicht selten vor, dass Versammlungsbehörden so genannte Standardauflagen verwenden und zu deren Begründung lediglich auf ihre grundsätzliche abstrakte Geeignetheit, möglichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu begegnen, verweisen.  Oder sie zitieren  Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, mit denen die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Auflage in Bezug auf eine andere Versammlung in der Vergangenheit bestätigt worden ist. Eine Prüfung in Bezug auf die konkrete zu beauflagende Versammlung findet sich in vielen Bescheiden ebenso wenig wie eine Auseinandersetzung, ob die Auflage unerlässlich ist, um unmittelbare Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu unterbinden.
Davon abgesehen, dass diese Bescheide oft sehr spät, das heißt manchmal nur ein bis drei Tage vor der fraglichen Versammlung, ergehen, wodurch die Möglichkeit der Inanspruchnahme von einstweiligem Rechtsschutz enorm eingeschränkt ist, wird durch die Anzahl und die Detailliertheit der Auflagen das Konfliktpotential bei der Durchführung der Versammlung erhöht. So finden sich in den Auflagenbescheiden Regelungen, dass Fronttransparente nur 5 Meter, in einigen Fällen sogar nur 3,50 Meter lang sein dürfen. Dies gilt selbst für Versammlungen mit mehreren tausend Teilnehmer_innen, die auf großen mehrspurigen Straßen entlanglaufen. Auch der Einsatz von Seitentransparenten wird begrenzt. Sie dürfen oft nur 2 Meter lang sein, nicht zusammen bzw. nicht miteinander verknotet getragen werden und der Abstand zwischen Seitentransparenten soll mindestens einen Meter betragen. Erlassen wurden sogar schon Auflagen, die festlegen, dass der Platz bei längs getragenen Transparenten zwischen der letzten Reihe und dem nächsten Seitentransparent maximal 10 Meter betragen soll. Des Weiteren befinden sich in solchen Bescheiden Auflagen hinsichtlich der Länge von Fahnen- und Transparentstangen. Diese dürfen oft nicht weniger als 1 Meter (Verhinderung eines Einsatzes als Schlagwerkzeug) und nicht länger als 1,50 Meter (Schutz vor Kollision mit elektrischen Oberleitungen) betragen. Auch der Durchmesser ist geregelt; dieser darf in der Regel nicht größer als 3 Zentimeter sein. Es wird weiter beauflagt, dass Straßen und Kreuzungen nicht blockiert werden dürfen, dass eingesetzte Ordner_innen vorher der polizeilichen Einsatzleitung mit Name und Adresse bekannt gemacht werden sollen, dass Transparente nicht als Sichtschutz eingesetzt werden dürfen und dass die Lautstärke, die von der Versammlung bzw. den dort mitgeführten Lautsprecherwagen oder Megaphonen ausgeht, nicht überschritten werden darf, wobei oft auch konkrete dB-Zahlen, gemessen an der Entfernung von der Versammlung bis zum nächsten Fenster, in den Bescheiden aufgeführt werden.5
Es ist schnell erkennbar, dass solche Auflagen von den Veranstalter_innen nahezu  Unmögliches verlangen. Insbesondere das Glasflaschen- und Büchsenverbot ist für Veranstalter_innen tatsächlich nicht durchsetzbar, da es schlicht nicht kontrolliert werden kann, ob Teilnehmer_innen einer Versammlung solche Gegenstände mit sich führen. Aber auch konkrete Regelungen von Transparentlängen und der Beschaffenheit von Fahnenstangen liegen außerhalb der Einflussmöglichkeiten von Leiter_innen und beeinträchtigen darüber hinaus die Artikulationsmöglichkeiten der Teilnehmer_ innen, die ihre mitgebrachten Transparente und Fahnen nicht zur Manifestation ihrer Meinung einsetzen können.
Aus dieser kurzen Zusammenstellung wird auch deutlich, wie stark das geltende Versammlungsrecht noch von  überkommenen Vorstellungen, nach denen die Zusammensetzung, der Ausdruck und der Ablauf einer Versammlung von den jeweiligen Veranstalter_innen bestimmt werden, geprägt ist. Dabei wird verkannt, dass Versammlungen sehr unterschiedliche Gepräge haben, oft auch von Bündnissen bzw. mehreren Veranstalter_innen geprägt sind und ganz unterschiedliche Milieus anziehen, auf die ein einzelner/eine einzelne Veranstalter_in in der Regel wenig Einfluss hat.
Je detailreicher die Auflagen und je höher ihre Anzahl, desto größer auch das Konfliktpotential. Die Einsatzleitung nutzt die Auflagen, um permanent Druck auf den/die Leiter_in auszuüben, die Einhaltung der verschiedenen Auflagen sicher zu stellen. Des Weiteren ermächtigen tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen Auflagen die Polizei zu entsprechenden Vorkontrollen bzw. polizeilichen Einsätzen, die dann wiederum zu Protesten seitens der Versammlungsteilnehmer_innen führen können.,Dadurch erst entstehen Spannungs- und konfliktgeladene Situationen,, die vermieden werden könnten, wenn entsprechende Auflagen im Vorfeld nicht erlassen worden wären. Konflikte bei Versammlungen entstehen oft nicht in Situationen, in denen es zu Gewalthandlungen von Versammlungsteilnehmer_innen kommt, sondern wenn Polizeibeamt_innen – oft ohne Augenmaß für die Situation und ohne vorherige Ankündigung – Verstöße gegen Auflagen ahnden wollen, wobei diese auch oft sehr weit ausgelegt werden.
Besondere Probleme bestehen auch bei Versammlungen, die sich gegen eine andere Versammlung (bspw. Neonazi-Demo) oder Veranstaltung (bspw. Klima-Gipfel) richten. Grundsätzlich muss durch die durchzuführende Versammlung ein Beachtungserfolg möglich sein, d. h. die geäußerte Kritik und Ablehnung muss von dem Adressaten wahrgenommen werden können, sei es akustisch oder optisch. Protest ist daher in  Hör- und Sichtweite des Protestanlasses grundgesetzlich geschützt. Die Versammlungsbehörden neigen aber in vielen Fällen dazu, Gegendemonstrationen nur an ganz anderen Orten zuzulassen; weit vom eigentliche Protestgegenstand entfernt. In Dresden führte dies zu der absurden Situation, dass den „verschiedenen Lagern“ jeweils eine Elbseite der Stadt als Versammlungsort zugewiesen wurde. Eine solche Beauflagung führt zu der Situation, dass die Gegendemonstrant_innen natürlich nicht an den ihnen zugewiesenen Orten weitab vom Geschehen demonstrieren werden, sondern an der Stelle, an der sie ihren Protest artikulieren wollen, also in der Nähe der Neonaziversammlung. Da es dort keine bestätigten Kundgebungsorte als Anlaufpunkte gibt, wird die Situation unübersichtlicher, was wiederum den eingesetzten Polizeieinheiten die Rechtfertigung für Maßnahmen gibt, die das Versammlungsrecht beschränken.
3. Die Durchführung von Versammlungen
Auch im unmittelbaren Vorfeld einer Versammlung bzw. während ihrer Durchführung sind Veranstalter_innen bzw. die Teilnehmer_innen oft mit einer Vielzahl von einschneidenden polizeilichen Maßnahmen konfrontiert. Das Repertoire reicht von so genannten Gefährderansprachen (mit dem Ziel, dass die betroffene Person an einem bestimmten Versammlungsgeschehen nicht teilnehmen kann) über Meldeauflagen, Aufenthaltsverbote für den Versammlungsort bis hin zu „Ingewahrsamnahmen“ bei der Anreise zu einer Versammlung. Vor allem letzteres wurde beispielsweise im Zusammenhang mit den Protesten bei dem G 8-Gipfel in Heiligendamm 2007 praktiziert.6 Betroffen waren aber auch beispielsweise Aktivist_innen, die zu den Blockupy-Aktionstagen 2011 nach Frankfurt/Main anreisen wollten.7 Solche Maßnahmen zielen allein und ausdrücklich darauf ab, schon die Teilnahme an einer Versammlung an sich zu unterbinden. Dies gilt auch für die oft weiträumigen Absperrungen beispielsweise mit Hamburger Gittern, denen sich Gegendemonstrant_innen ausgesetzt sehen.
Ein weiteres Ärgernis sind polizeiliche Vorkontrollen. Dabei werden sämtliche Personen, die zum Versammlungsort gelangen wollen, teilweise sehr penibel von Polizeikräften durchsucht. Manchmal beschränkt es sich darauf, dass Einsicht in mitgeführte Taschen begehrt wird; in den seltensten Fällen wird sich damit begnügt, die Tasche von außen abzutasten. Im Rahmen von Vorkontrollen werden aber nicht nur mitgeführte Taschen durchsucht, sondern die gesamte Person und die von ihr getragene Kleidung. Dies führt selbst dazu, dass in den kleinsten Taschen nachgeschaut wird, ohne dass erkennbar wird, nach was für Gegenständen überhaupt durchsucht wird. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, welche Gegenstände beispielsweise in der Außentasche der Gürteltasche aufbewahrt werden könnten, die unter das Verbot des Beisichführens von Schutzwaffen oder gefährlichen Gegenständen fallen könnten. Diese ausführlichen und peniblen Durchsuchungen müssen als reine Schikane angesehen werden. Fragt man bei den eingesetzten Polizeibeamten nach, welchem Zweck diese Maßnahme dient, bekommt man lediglich die Auskunft, dass eine polizeiliche Maßnahme nicht gestört werden soll. Auch auf den Hinweis, dass verdachtsunabhängige Vorkontrollen rechtswidrig sind, wird lediglich entgegnet, wenn man sich nicht durchsuchen lasse, könne man halt nicht an der Versammlung teilnehmen.
Diese offensichtlich rechtswidrige Praxis findet ihre Fortsetzung in der Zensur geplanter Meinungskundgaben im Zusammenhang mit der Versammlung. So werden Versammlungsteilnehmer_innen, die Flugblätter mit sich führen, aufgefordert, ein Exemplar vorab der Polizei zur Kontrolle zur Verfügung zu stellen. Genauso verhält es sich bei mitgeführten Transparenten. Auch dabei konnte beobachtet werden, dass die Betroffenen aufgefordert worden sind, die Transparente zu entrollen und deren Inhalt vorab den Polizeikräften zur Kenntnis zu geben. Begründet werden diese rechtswidrigen Maßnahmen mit dem Hinweis, dass dadurch strafbare Äußerungen im Rahmen einer Versammlung schon im Vorfeld verhindert werden könnten; außerdem wäre es doch auch im Interesse des Veranstalters einer Versammlung, wenn vorab geprüft wird, ob mitgeführte Transparente oder Flugblätter strafbaren Inhalts seien; ansonsten müsste der Eingriff erst später bei der Durchführung der Versammlung erfolgen, wodurch dann auch der Ablauf der Versammlung beeinträchtigt werden würde. Insofern, so die Begründung, sei eine Vorabkontrolle doch im gegenseitigem Interesse.
Eine enorme Beeinträchtigung der Außenwirkung einer Versammlung stellt die Begleitung von Demonstrationen durch polizeiliches Spalier dar. Für die Versammlungsteilnehmer_innen wird es dadurch unmöglich, mit ihrem Anliegen nach Außen zu treten; Passant_innen können von Außen nur einen polizeilichen Wanderkessel wahrnehmen. Der eigentlich mit der Versammlung verfolgte Kommunikationszweck wird damit in toto vereitelt.
Vermutete und tatsächliche Verstöße gegen Auflagen (s.o. unter 2.) führen oft zu mitunter sehr rabiaten Einsätzen der Polizei. Das erfolgt meist dadurch, dass eine Gruppe von fünf bis fünfzehn Polizeibeamt_innen ohne jede Ankündigung in die Versammlung hineinstürmt, ohne dass für die Teilnehmer_innen der Anlass erkennbar wäre, und Festnahmen vornimmt. In fast gar keinem Fall werden die wesentlichen Förmlichkeiten der §§ 163 a, b StPO eingehalten. Ausgelöst durch diese rechtswidrigen Einsätze kommt es dann nicht selten in der Folge zu weiteren Rangeleien, die weitere Festnahmen, meist wegen des Vorwurfs des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, zur Folge haben. Zu beobachten ist ferner, dass solche Einsätze oft nach einer Versammlung stattfinden, wo dann für die Umstehenden überhaupt kein Anlass mehr erkennbar, das Unverständnis daher höher ist. In den letzten Jahren avancierte der Einsatz von Pfefferspray bei Versammlungen zur Standardmaßnahme, obwohl bekannt ist, dass durch den Einsatz von Pfefferspray nicht nur kurzfristige schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen verursacht werden, sondern der Einsatz von Pfefferspray auch lethal wirken kann.
Einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Versammlungsfreiheit stellt die Einkesselung größerer Gruppen von Versammlungsteilnehmer_innen, teilweiser ganzer Blöcke dar wie bei der Blockupydemonstration 2013, wo 900 Demonstrant_innen stundenlang festgehalten worden sind..  Von sämtlichen Teilnehmer_innen wurden die Personalien aufgenommen, Lichtbilder gefertigt und Strafverfahren eingeleitet. Auch wenn der überwiegende Großteil der Verfahren eingestellt worden ist, bleiben die Betroffenen mit ihren Daten im polizeilichen Informationssystem INPOL gespeichert – meist mit dem Zusatz „linksextremistischer Gewalttäter“. Solche Eintragungen führen dazu, dass die Betroffenen bei einer erneuten polizeilichen Kontrollmaßnahme mit zusätzlichen Schikanen zu rechnen haben.
Die Teilnahme an Versammlungen hat somit oft auch ein Nachspiel, sei es durch Datenerhebungen und -speicherungen und/oder durch die Einleitung von Strafverfahren. Allein schon das in Deutschland geltende Schutzwaffen- und Vermummungsverbot – eine Regelung, die dem Versammlungsrecht vieler Länder fremd ist – führt regelmäßig zur Kriminalisierung von Versammlungsteilnehmer_innen. In der letzten Zeit gerieten auch Leiter_innen einer Versammlung in das Visier der Strafverfolgungsbehörden, um sie für Verstöße haftbar zu machen, die von  Versammlungsteilnehmer_innen begangen wurden.
4. Fazit
Nicht jede Versammlung ist gleich. Und nicht bei jeder Demonstration können die beschriebenen polizeilichen Maßnahmen beobachtet werden. Natürlich unterscheidet sich das polizeiliche Einsatzkonzept bei einer Mahnwache von Falun-Gong-Anhänger_ innen vor der chinesischen Botschaft von einer Großdemonstration gegen einen Staatsgipfel oder von einer Demo von Gewerkschaftler_innen. Es ist allerdings auch festzustellen, dass eine Vielzahl von polizeilichen und versammlungsrechtlichen Maßnahmen, die zunächst beispielsweise nur im Zusammenhang mit Versammlungen von Neonazis erprobt worden sind, auch auf Versammlungen anderen politischen Gehalts übertragen werden.
Die Beschränkung bzw. Aushöhlung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit kann daher nicht isoliert im Zusammenhang mit bestimmten politischen Gruppen gesehen werden, sondern muss als Angriff auf das Grundrecht insgesamt gewertet werden. Diese Formen der präventiven Aushöhlung der Versammlungsfreiheit, die eigentlich den Charakter von Versammlungen als staatsferne und staatskritische Veranstaltungen ad absurdum führen, müssen immer wieder thematisiert und offensiv kritisiert werden. Dazu gehört auch, dass durch engagierte juristische Arbeit behördliche Maßnahmen gerichtlich überprüft und in ihrem Anwendungsbereich eingeschränkt wird. Dabei sollte sich nicht darauf verlassen werden, dass die Instanzengerichte zu einer versammlungsfreundlichen Rechtsprechung neigen. Vielmehr gehört es auch zur Wahrnehmung von Grundrechten, mit diesen auch immer wieder kreativ umzugehen und nicht die Bestimmung der Weite ihres Schutzbereiches den Behörden und den Gerichten zu überlassen. Ausgangspunkt muss immer sein: nicht die Ausübung von Grundrechten ist rechtfertigungsbedürftig, sondern deren Einschränkung. Das heißt auch, dass das, was als Ausübung eines Grundrechts angesehen wird, einer Veränderung unterliegen kann. Welcher Ausdrucks- und Kommunikationsformen man sich bedient, wird von Artikel 8 GG nicht vorgegeben. Insofern gilt es, dieses Grundrecht mit neuem Leben zu füllen, ihm ein neues Gesicht zu verleihen, um einer obrigkeitsstaatlichen Einschränkung der Versammlungsfreiheit entgegen zu wirken.

PEER STOLLE   Jahrgang 1973, Dr. jur., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Berlin in der Kanzlei dka Rechtsanwälte Fachanwälte. Er gehört dem Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins an. Buchveröffentlichung: Situative Kriminalprävention: Konzept, Empirie, Bewertung. Exemplifiziert an der Videoüberwachung öffentlicher Orte. Berlin 2015; Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. 3. Auflage, Wiesbaden 2015 (zusammen mit Tobias Singelnstein).

Anmerkungen:

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