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Heß-Auf­marsch in Wunsiedel

Das Bundesverfassungsgericht zur Versammlungs- und Meinungsfreiheit von Nazis.

Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 109-114.

Mit seiner Wunsiedel-Entscheidung vom 4. November 2009 (BVerfGE 124, 300) beendete das Bundesverfassungsgericht den für die Versammlungsfreiheit des letzten Jahrzehnts maßgeblichen Streit darüber, ob der Gesetzgeber Versammlungen auf denen nazistisches Gedankengut geäußert wird, verbieten und die Meinungsäußerer strafrechtlich verfolgen darf. Bereits der Beginn des ersten Leitsatzes – § 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar – stellt ein Ergebnis fest, das nach der vorhergehenden Verwaltungsrechtsprechung überraschte und über dessen Herleitung und Begründung bis heute gestritten wird. Dabei ist der Streit über die Wunsiedel-Entscheidung ein grundsätzlicher: Wie viel Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit steht den Feinden der Demokratie zu? Die nachfolgende Erläuterung und Kommentierung der Entscheidung durch Michael Lippa erschien zuerst in Freischüßler Nr. 18. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

Hintergrund

Bereits seit 1988 meldete der Rechts-Anwalt Jürgen Rieger jährlich wiederkehrend einen Marsch „Zum Gedenken an Rudolf Heß“ zu dessen Grab im oberfränkischen Wunsiedel an, zuletzt unter dem Motto: „Seine Ehre galt ihm mehr als die Freiheit“. Jährlich versammelten sich tausende Neonazis aus ganz Europa. Bis ins Jahr 2004 konnte die Veranstaltung aufgrund der fehlenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht nach § 15 Abs. 1 Alt. 1 Var. 2 VersG verboten werden. Auch eine inhaltliche Auflagenerteilung seitens der Behörden schied aus, da sie einem Versammlungsverbot gleichgekommen wäre und somit das Verbot ausnahmsweise mal ein milderes Mittel im Vergleich zu einer Auflage dargestellt hätte. Zum 1. April 2005 führte also der Gesetzgeber die Vorschrift des § 130 Abs. 4 StGB1 ein, die mit Freiheitsstrafe bestraft, „wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“ Zudem ging dem Gesetz eine Meinungsstreitigkeit des OVG Münster und des Bundesverfassungsgerichts voraus. Ersteres hatte regelmäßig behördliche Versammlungsverbote für rechtsradikale Aufmärsche in Nordrhein-Westfalen, unter Hinweis auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und der Herleitung einer verfassungsimmanenten Schranke der Meinungsfreiheit aus dem antinationalsozialistischem Grundprinzip, bestätigt.2 Diese wurden ebenso regelmäßig vom Bundesverfassungsgericht kassiert.3 Dabei wies das Gericht auf seine Brokdorf-Entscheidung aus dem Jahre 1985 hin, wonach ein Versammlungsverbot als ultima ratio nur auf Grundlage einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und somit also nur im Rahmen strafrechtlicher Verbotstatbestände gerechtfertigt sein kann.4
Der Tod des Anwalts
Der Beschwerdeführer Rieger verstarb am 29. Oktober 2009, also eine Woche vor Urteilsverkündung. Da Art. 93 Abs. 4a GG bzw. § 90 Abs. 1 BVerfGG den subjektiven Schutz der Grundrechte gewährleisten soll, hätte sich die Verfassungsbeschwerde mit dessen Tod nach allgemeinem Rechtsverständnis erledigt.5 Wie kam also die Entscheidung dennoch zustande? Das Bundesverfassungsgericht verwies auf die grundsätzliche Bedeutung der Sache im Einzelfall6 sowie die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde das „Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden“ und entschied.7 Kurz zusammengefasst: Wenn eine Verfassungsbeschwerde bereits eingelegt wurde, liegt es allein in den Händen des Gerichts und dessen Argumentation, ob sie entscheiden wird oder nicht.
Die Freiheit der gänzlich Andersdenkenden
„Weshalb denn Meinungsfreiheit, ging es hier nicht um eine Versammlung?“, mögen sich einige nun fragen. Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG ist ebenso wie die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG ein Kommunikationsgrundrecht. Wird also aufgrund einer inhaltlichen Meinung in die Versammlungsfreiheit eingegriffen, so muss sich der Eingriff, da er in beide Grundrechte gleichzeitig eingreift, auch an den wesentlich strengeren Schranken der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 2 GG messen lassen.
Während § 130 Abs. 3 StGB, der die Behauptung der Auschwitzlüge bestraft, von Anfang an keine Chance auf eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde hatte, da das Gericht bereits in der Scientology-Entscheidung feststellte, dass erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit herausfallen,8 verhält es sich beim § 130 Abs. 4 StGB anders. Auch die Strafbarkeit der Äußerung selbst kann hier nicht schon den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG verwehren.9 Da Meinung also durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist,10 ohne dass es darauf ankomme, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos ist,11 fallen grundsätzlich auch Handlungen nach § 130 Abs. 4 StGB unter den Schutz der Meinungsfreiheit. So weit, so gut – subsumiert.
Die Allgemeinheit, ihre Jugend und Ehre
Art. 5 Abs. 2 GG definiert die Schranken der Meinungsfreiheit und nennt dabei allgemeine Gesetze, Gesetze zum Schutze der Jugend sowie das Recht der persönlichen Ehre.
Die ständig wiederkehrende Definition für allgemeine Gesetze geht auf die Lüth-Entscheidung zurück. Allgemeine Gesetze sind demnach solche, die „nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen“.12 Knüpft die Norm aber an Meinungsinhalte an, kommt es darauf an, ob die Vorschrift auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter und nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist. Das Rechtsgut muss dann „allgemein und unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann“.13 Durch exzessive Auslegung dessen gelangte somit das Bundesverwaltungsgericht in letzter Instanz zu dem Ergebnis, dass es sich beim § 130 Abs. 4 StGB um ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG handelt, da es primär auf den Schutz des öffentlichen Friedens und der Würde der Opfer ziele.14 Diesem Trend setzte jetzt das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vor und stellte fest, dass es sich hierbei lediglich um ein Indiz für die Allgemeinheit des Gesetzes halte.15 Es fehle definitiv an der Allgemeinheit, wenn nach einer Gesamtschau das Gesetz nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet.16 Ein Musterbeispiel von einem Sondergesetz also.
Darüber hinaus weitete der erste Senat das Allgemeinheitserfordernis auch auf die Schranken zum Schutz der Ehre und Jugend aus, machte sie so weitgehend als eigenständige Schranken obsolet und konnte es damit umgehen, eine neue Dogmatik zum Ehrschutz aufzureißen. Mit diesem Schritt konnte der Senat zugleich das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 Var. 9 GG verankerte Diskriminierungsverbot wegen politischer Anschauungen in den Definitionsbereich des allgemeinen Gesetzes und somit in die Schranke(n) des Art. 5 Abs. 2 GG implementierten. Damit erklärte er zugleich dessen Spezialität bei Meinungsäußerungen gegenüber dem „alten“ Diskriminierungsverbot, womit eine eigenständige Prüfung von Art. 3 Abs. 3 entfällt.17 Diskriminierungsverbot heißt jetzt allgemeines Gesetz, sonst ändert sich nix. Kapitel gespart – nächstes bitte!
Antifaschismus und das Grundgesetz
Da die Story an dieser Stelle ein jähes Ende gefunden hätte, geht das Gericht den Weg über die verfassungsimmanente Schranke und statuiert eine einmalige Ausnahme vom Verbot des Sondergesetzes. In einleuchtender Argumentation erklärt der erste Senat, das Grundgesetz sei ein Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes unter Verweis auf die Art. 1 und 20 GG sowie auf die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Also doch ein antifaschistischer Grundkonsens der Verfassung? Wo liegt dann noch der Unterschied zur Literaturmeinung18 und der Rechtsprechung des OVG Münster?19 Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass das Grundgesetz kein allgemeines und antinationalsozialistisches Grundprinzip kenne.20 Also ein Gegenentwurf, aber ohne Grundprinzip – wie ist das zu verstehen? Die Richter schränken den Gegenentwurf lediglich auf die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft der Jahre 1933 bis 1945 ein.21 Und um die einmalige Ausnahme noch weiter einzuschränken, stellt der Senat in der Verhältnismäßigkeitsprüfung des § 130 Abs. 4 StGB klar, dass das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Friedens einer restriktiven Auslegung bedarf, damit nicht schon die Meinung als solche bestraft wird, sondern erst, wenn sie in eine Rechtsgutsgefährdung umschlägt. Dabei stellen die Richter auf die Außenwirkung der Meinungsäußerung ab, wonach der öffentliche Friede nur dann gestört ist, wenn die Meinung eine Handlungsbereitschaft auslöst, Hemmschwellen herabsetzt oder Dritte unmittelbar einschüchtert.22
Die Sonderrechtsprechung zur Sondergesetzgebung hat wohl verschiedene Gründe: Der Gesetzgeber erließ mit dem § 130 Abs. 4 StGB ein Sondergesetz, das nach der bisherigen Rechtsprechung als allgemeines Gesetz juristisch sauber subsumiert werden konnte. Sollte nun der Gesetzgeber von der Rechtsprechung für etwas abgestraft werden, obwohl er sich an die Vorgaben der bisherigen Rechtsprechung hielt? Darüber hinaus wäre hier den Nationalsozialisten wieder ein juristischer Sieg gegen den Staat gelungen, der nach dem missglückten NPD-Verbotsverfahren den Staatsapparat erneut machtlos gegenüber dem Treiben der Nazis erscheinen lässt. Das Urteil ist keine klare Positionierung, sondern stellt einen Kompromiss dar zwischen der Garantie des Grundrechts auf Meinungsfreiheit und den Staatsinteressen. Wunsiedel wird verhindert, aber nicht Naziaufmärsche generell. Die Meinungsfreiheit für Nazis bleibt bestehen, aber um einen historischen Kern beschnitten. Die Rechtsstaatlichkeit in der Auslegung der Allgemeinheit von Gesetzen wird wiederhergestellt, auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit unter Umgehung eines ausdrücklich grundgesetzlich verankerten Verbots von Sondergesetzen.
Das ist zwar juristisch und politisch nicht schön, aber immerhin ehrlicher, als die Meinungsfreiheit in allen Fällen über die extensive Auslegung der allgemeinen Gesetze zu untergraben.23 Darüber hinaus schließt das Bundesverfassungsgericht auch ein zweites Einfallstor, über das die Meinungsfreiheit ohne weiteres durch Sondergesetzgebung eingeschränkt werden könnte: die persönliche Ehre. Dadurch wären der Gesetzgeber und schließlich die Gerichte in der Lage, durch einfachste Abwägung, ohne das Erfordernis einer besonderen Schranke eines der höchsten Grundrechte in der Bundesrepublik einzuschränken. Aus dieser Sicht stellt das Urteil ganz klar keine willkürliche Verkürzung, sondern eine Stärkung der Meinungsfreiheit im Allgemeinen dar.

Die Nachwehen des Historikerstreits und Totalitarismustheorien
Unter einigen Kommentierungen der Entscheidung wurde kritisiert, dass das Gesetz lediglich die Rechtsextremisten ins Visier nimmt, nicht jedoch auch die Linksextremisten und so z.B. auch eine Affirmation der stalinistischen Diktatur nicht unter Strafe stelle.24 Damit wurde indirekt unterstellt, dass der Gesetzgeber so das im Diskriminierungsverbot verankerte Neutralitätsgebot hätte einhalten können, indem er den Tatbestand auch auf Linksextremismus erstreckt hätte. Das Gesetz wäre so politisch neutral, da es sich gegen totalitäre Gewalt- und Willkürherrschaft gewandt hätte. Ein Gesetz ist aber nicht neutral und damit allgemein, wenn es sich gegen zwei Sondernormadressaten richtet. Denn der Begriff des „Totalitarismus“ ist bis heute zu unbestimmt und hat daher (erst recht) in Strafgesetzen nichts zu suchen. So hat sich der Diskurs bisher in großem Maße darauf beschränkt, den Hitler-Nationalsozialismus mit dem Stalin-Bolschewismus zu vergleichen und so zu relativieren, was im Zusammenhang mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung in dem von Ernst Nolte 1986 entfachten Historikerstreit25 gipfelte und noch bis heute fortgesetzt wird.26 Nolte verglich dabei die deutschen Konzentrationslager mit den sowjetischen Gulags und bezeichnete den Holocaust als „asiatische Tat“. Das Bundesverfassungsgericht bezieht in dem Wunsiedel-Urteil – bewusst oder unbewusst – Stellung hierzu: „Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildliche identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“27 Damit stellt es die unvergleichbare Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen heraus, die eben nicht allgemein sein können. Folglich ein klare Absage an Nolte und die konservative Totalitarismusforschung. Wenn das Gesetz also die positive Bezugnahme lediglich auf eine menschenverachtende und historisch einmalige Tat unterbinden möchte, kann es von vornherein nicht allgemein sein. Hätte der Gesetzgeber hingegen auf die Pönalisierung der positiven Bezugnahme zu totalitärer Gewalt- und Willkürherrschaft gesetzt, hätte er sich sogleich selbst ein Stück weiter in Richtung eines totalitären Systems entwickelt, das „politisch extreme“, missliebige Meinungen aus dem Alltag verdrängen möchte. Gerade dies garantiert aber die Meinungsfreiheit und sollte in der Debatte nicht vergessen werden.

MICHAEL LIPPA   Michael Lippa studierte Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er im arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen (akj-berlin) aktiv war. Von 2008–2010 Referent für Politisches Mandat und Datenschutz im RefRat der HU. Seit 2016 Rechtsanwalt in Berlin (Interessenschwerpunkte: Hochschulrecht, Polizei- und Datenschutzrecht sowie Strafrecht).
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