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Neue Versamm­lungs­ge­setze – Neues Versamm­lungs­recht?

Bestandsaufnahme, Erwartungen, Neuerungen, Ausblick. In: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 19-36

Seit dem Inkrafttreten des Versammlungsgesetzes im Jahre 1953 haben sich die Versammlungsformen nicht unerheblich verändert. Auch die Rechtslage änderte sich in der Folge. Die letzte wesentliche Änderung war die Verlagerung der Kompetenz für das Versammlungsrecht vom Bund auf die Länder durch die Föderalismusreform I im Jahre 2006. Der Beitrag zeichnet zunächst die einzelnen Veränderungen nach und fragt dann, ob sich die mit der Föderalismusreform verknüpften Erwartungen erfüllt haben. Im Ergebnis kommt der Autor zu der Feststellung, dass die neuen Landesgesetze kein fortentwickeltes Versammlungsrecht darstellen.

I   Bestands­auf­nahme

1. Rückblick

Will man Erwartungen an neue Versammlungsgesetze formulieren, ist es hilfreich, auf das Versammlungsgeschehen von 1949 bis heute zurück zu blicken, um die Beiträge der maßgeblichen Akteure: des Gesetzgebers, des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), der Polizei und auf der Veranstalterseite die der Kooperativen und Aktionsbündnisse, die für bürgerschaftliche Selbstorganisation stehen, kritisch zu würdigen.
In der ersten Phase von 1949 bis Ende der 1950er Jahre dominierten in der politischen Willensbildung Parteien und Verbände. Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit lag noch im Dornröschenschlaf; man ging nicht auf die Straße, um sich so an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Der Versammlungsgesetzgeber von 1953 orientierte sich denn auch an einer Vorstellung von Versammlung, die überschaubar, straff geordnet, diszipliniert und von der Polizei überwacht ablief. Es lag jenseits seiner Vorstellungskraft, dass Bürger_innen mittels Großdemonstrationen auf öffentlichen Straßen und Plätzen als public forum mit den Parlamenten konkurrieren könnten.
Die zweite Phase vom Ende der 1950er Jahre bis zum Sternmarsch der APO als Gegner der Notstandsverfassung auf Bonn im Jahre 1968 lässt sich mit der Politisierung des Versammlungsgeschehens kennzeichnen.
In der dritten Phase von 1968 bis Mitte der 1970er Jahre verstärkte sich die Politisierung zunächst mit der APO als Gegenpol zur damaligen großen Koalition. Die studentischen Aktionen gegen die Zustände an den Hochschulen wandten sich bald allgemein gegen als ungerecht empfundene politische und soziale Verhältnisse und insbesondere gegen den Vietnamkrieg. Auslöser der Studentenunruhen waren dann rechtswidrige Gewalteinsätze der Polizei anlässlich des Schahbesuchs 1967 in Berlin, bei denen der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen wurde.
Die vierte Phase von Mitte der 1970er Jahre bis zur Asyldemo in Bonn im Jahre 1993 war die Zeit der Großdemonstrationen, insbesondere gegen den Nachrüstungsbeschluss und den Ausbau der Kernkraft. In diese Zeit fiel auch die friedliche Revolution in der DDR, die mit den Montagsdemonstrationen dafür sorgte, dass die Machthaber von der politischen Bühne abtreten mussten.
Die fünfte Phase von Beginn der 1990er Jahre bis heute ist durch zwei ganz unterschiedliche Strömungen geprägt. Einerseits findet im Versammlungsgeschehen eine Entpolitisierung statt und es entstehen verschiedene neue Veranstaltungsformen (Love-Paraden, Flashmobs, Aktionen von Fußballfans in „ihrer“ Kurve des jeweiligen Stadions mit aufwändiger Choreografie, Straßenfeste etc.), wobei hinsichtlich des maßgeblichen Versammlungsbegriffs gestritten wird, ob solche Veranstaltungen dem Regime der Versammlungs- oder des Straßenrechts unterfallen.
Andererseits kommt es zu einer erneuten Politisierung des Versammlungsgeschehens, deren neue Qualität nicht mit der Bedeutung des jeweiligen Themas, sondern mit der kontroversen Beurteilung des Themas durch die verschiedenen politischen Lager zu erklären ist. Waren das seit Beginn der 1990er Jahre rechtsextremistische Aufmärsche, die Gegenaktionen des linken Lagers hervorriefen, so sind es derzeit Aktionen von PEGIDA und vergleichbaren rechten Veranstaltern, die auf breiten Widerstand bis in die Mitte der Gesellschaft stoßen. Mit dem Aufeinandertreffen der beiden Lager und den daraus folgenden polizeilichen Notwendigkeiten ist dann auch eine neue Qualität der Rolle der Polizei im Versammlungsgeschehen verbunden.
Was die maßgeblichen Akteure angeht, so sind zunächst die Aktivitäten des (Bundes-)Gesetzgebers kurz zu skizzieren. Er führte 1985 das Vermummungs- und Passivbewaffnungsverbot ein, verschärfte 1989 das Versammlungsstrafrecht, gab der Polizei die Befugnis zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen, passte 2005 das Versammlungsgesetz an das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes an, fügte 2005 in § 15 VersG einen Abs. 2 ein, der den Schutz von Gedenkstätten und der Würde der Opfer des Nationalsozialismus ermöglichen sollte und verzichtete 2006 mit der Föderalismusreform auf seine Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungswesen.
Das BVerfG befasste sich mit dem Versammlungsrecht erst spät und nahm die Demonstration gegen das Kernkraftwerk in Brokdorf in seinem Brokdorf-Beschluss vom 14.5.1985 zum Anlass, sich umfassend zum Umfang und zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit zu äußern. Sie ist Abwehrrecht und garantiert die Selbstbestimmung über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt von Versammlungen bzw. Demonstrationen. Als Leistungsrecht legt Art. 8 Abs. 1 GG der Polizei eine Schutzpflicht für Versammlungen auf, als Grundrecht des status activus und als Ausdruck der Volkssouveränität verbürgt sie die aktive Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess jenseits von Wahlterminen und in seiner verfahrensrechtlichen Grundrechtsfunktion gewährleistet sie die Beteiligung des Veranstalters an der Entscheidungsfindung der Versammlungsbehörden durch Kooperation.1 Bedeutsam war auch, dass das Gericht die Anreise zu einer Demonstration in den Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG einbezog2 und damit die Kongruenz zwischen Schutzbereich des Grundrechts und Anwendbarkeit des Bundesversammlungsgesetzes (BVersG) aufhob, weil letzteres mit Ausnahme des Verbots und der beschränkenden Verfügung nach § 15 Abs. 1 BVersG keine Maßnahmen vor Beginn einer Versammlung kennt. Damit stellte sich erstmals die Frage nach der Zulässigkeit des Rückgriffs auf das Polizeirecht für sog. Vorfeldmaßnahmen.
In seiner Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Sitzblockaden stellt das BVerfG klar, dass solche Formen passiver Resistenz nicht unfriedlich sind, nicht der Gewaltbegriff des § 249 StGB die Friedlichkeit bestimmt, sondern umgekehrt, und dass ohne polizeiliche Auflösungsverfügung keine verwerfliche Nötigung vorliegen kann.3
In seiner Entscheidung zur Versammlungsqualität der Love-Parade im Jahre 2001 hat es den Versammlungsbegriff verengt und damit Versammlungen i. S. des weiten Versammlungsbegriffs den Schutz durch die Versammlungsfreiheit genommen.4
Zu rechtsextremistischen Aufmärschen hat sich das BVerfG eindeutig positioniert. Auch rechtsextremistische Inhalte unterliegen dem besonderen Schutz von Art. 5 GG. Solange kein Verstoß gegen Strafgesetze vorliegt, können die Versammlungsbehörden nicht gegen die Inhalte, sondern nur gegen die Modalitäten rechtsextremistischer Demonstrationen vorgehen und ihnen durch Auflagen ihr Einschüchterungs- und Bedrohungspotenzial als paramilitärischer Aufmarsch nehmen.5 Im Übrigen mutet es den Bürger_innen zu, mit solchen rechtsextremen Auffassungen zu leben, und das in dem Vertrauen, dass sich solche Auffassungen in einem gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess abschleifen.6 In seinem Wunsiedel-Beschluss von 2009 macht es dann aber eine Ausnahme zum Verbot von Sonderrecht für den Fall, dass mit einer Demonstration die Gutheißung der Menschenrechtsverletzungen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft verbunden ist.7
In seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des bayerischen Versammlungsgesetzes hat das BVerfG die Eingriffsqualität von Übersichtaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes festgestellt und die Notwendigkeit einer versammlungsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage angemahnt.8
Mit der Fraport-Entscheidung betritt das Gericht Neuland, wenn es die Inpflichtnahme eines privaten Eigentümers einer semiöffentlichen Fläche zur Duldung einer Versammlung auf dieser für mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar hält.9
Die Polizei hat in den aufgezeigten zeitlichen Phasen eine zwiespältige Figur abgegeben, die hier anhand von Zitaten von Politikern und Polizeiführern verdeutlicht werden soll. Anlässlich einer Versammlung der FDJ 1951 im Siebengebirge bei Bonn kommentierte der damalige Bundesinnenminister Lehr die Maßnahmen der Polizei mit den Worten „Die Unruhestifter haben die gebührende Prügel bekommen,“ und verdeutlichte damit (zumindest) die damalige Sichtweise von einer (linken) Versammlung als potenzieller Störung des öffentlichen Friedens.
Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen beim Schahbesuch 1967 erläuterte der damalige Berliner Polizeipräsident seine sog. Leberwursttaktik: „Demonstrantengruppen werden an beiden Enden abgebunden und dann wird in der Mitte hineingestochen.“ Im Rahmen von Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen der städtischen Verkehrsbetriebe im Jahre 1968 gab der Bremer Polizeipräsident die taktische Marschroute aus: „Draufhauen, dranbleiben, nachsetzen.“ Man musste den Eindruck gewinnen, als sei der Schlagstockeinsatz eine Art dritter Bildungsweg für aufmüpfige Studenten.
Auf Seiten der Polizei setzte aber nach den Studentenunruhen von 1967 ein Umdenken ein. Es gab zwar noch Hardliner, wie es der Ausspruch eines ehemaligen Polizeiführers aus dem Jahre 1968 verdeutlicht: „Bei einem Vergleich zwischen früher und heute muss ich einen bedauerlichen Unterschied feststellen. Wir kannten keine Prügelszenen zwischen Polizei und Demonstranten, weil wir den damaligen Zeiten entsprechend andere Waffen hatten, um abschreckend zu wirken.“ Eine Sichtweise, mit der sich auch der Autor 1993 nach der Blockade des Bundestages am Tage der Abstimmung über die Asylrechtsreform konfrontiert sah, als ein Bundestagsabgeordneter sich als verhinderter Polizeiführer wie folgt äußerte: „Mit einer Schwadron Dragoner hätte ich diesem Spuk ein Ende gemacht.“
Im Gegensatz dazu mehrten sich ab 1968 aber die nachdenklichen Stimmen. Mit Blick auf die Ausübung der Demonstrationsfreiheit hieß es im Vorwort zur 1. Auflage des Kommentars zum VersG von Alfred Dietel und Kurt Gintzel: „Die Ausübung der Versammlungsfreiheit ist lange Zeit nur geduldet, nicht gewünscht worden. Der Gebrauch der Versammlungsfreiheit galt als potentiell gefährlich, besonders wenn es um politische Aussagen ging. Von dieser Grundauffassung ist viel geblieben.“ Eine Autorengruppe von 15 niedersächsischen Polizeiführern äußerte in der Zeitschrift „Die Polizei“: „Ein Demonstrant ist zunächst kein Störer, sondern ein Staatsbürger.“ (1970, 113)
Besonders herauszustellen ist der Polizeiführer Tonis Hunold, der im Jahre 1968 den Einsatz anlässlich des Sternmarsches der Gegner der Notstandsverfassung auf Bonn leitete und in einer Zeit, wo sich Polizei und Demonstranten als natürliche Gegner verstanden, zur Einstimmung auf den Großeinsatz folgendes Statement abgab:
„Wenn durch Besonnenheit, Gelassenheit und Duldsamkeit sich etwas mehr menschliches Denken in den polizeilichen Vorstellungen durchsetzt und hierdurch Provokationen und somit Eskalationen verhindert werden, entspricht ein solcher Verzicht auf Reaktion eher der freiheitlichen demokratischen Ordnung, als wenn durch überkommenes Prestigedenken die Voraussetzungen zum harten polizeilichen Einsatz geschaffen werden.“
Um diese für die damalige Zeit revolutionäre Aussage angemessen einschätzen zu können, muss man wissen, dass der Polizeioberrat Hunold Leiter des Verkehrsdezernats im Bonner Polizeipräsidium und als Einsatzleiter nur dritte Wahl war, weil der Leiter der Schutzpolizei und sein Vertreter während der Einsatzvorbereitung krankheitsbedingt ausfielen. Hunold leitete den Einsatz gegen polizeiinterne Widerstände mit Umsicht und Zurückhaltung und hatte mit seiner defensiven Einsatzstrategie Erfolg. Er hat das „Urheberrecht“ an Deeskalation und Kooperation.
In der letzten Phase der Entwicklung musste die Polizei sich in der Rolle zurechtfinden, rechtsextremistische Demonstrationen vor Gegendemonstranten zu schützen. Trotz der eindeutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass auch rechtsextremistische Aufzüge zu schützen sind, ist die Erwartungshaltung an das Vorgehen der Polizei in Medien und Öffentlichkeit allzu oft eine andere. So war am 8.4.2002 in der „taz“ zu lesen: „Erkennbarer Tagesauftrag der Polizei war es, den Neonazis nach allen Kräften Hindernisse in den Weg zu legen. Dies ist zwar illegal, aber legitim und politisch als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren.“
Was die Rolle der Polizei in solchen Rechts-Links-Lagen ausmacht, soll mit der Aussage einer jungen Polizeibeamtin belegt werden, die von einem Reporter des ZDF befragt, wie sie sich denn dabei fühle, wenn sie Rechtsextremisten schütze, zur Antwort gab: „Ich schütze keine Rechtsextremisten, ich schütze die Versammlungsfreiheit.“
Als vierter Akteur sind die Veranstalter von Demonstrationen von maßgeblicher Bedeutung für die Entwicklung des Versammlungsrechts gewesen. Bis Mitte der 1960er Jahre standen mit der überwiegenden Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit durch Parteien und Verbände den Versammlungsbehörden hierarchisch strukturierte Organisationen gegenüber, die dem Bild des Gesetzgebers des Jahres 1953 weit mehr entsprachen als die anschließend das Versammlungsgeschehen dominierenden Studentengruppen der APO-Zeit. Ab den 1970er Jahren traten dann aber immer mehr „Bürgerinitiativen“ als Veranstalter auf, insbesondere im Rahmen der Proteste gegen die Kernenergie. Gesellschaftlich noch breiter aufgestellt, sowohl auf der Veranstalter als auch auf der Teilnehmerseite, waren die Großdemonstrationen der Friedensbewegung. Heute aktuelle Demonstrationsformen, wie etwa die occupy-Bewegung, werden sogar von länderübergreifenden Aktionsbündnissen veranstaltet.
Diesem Prozess der Heterogenität auf der Veranstalterseite kann die vom BVersG vorgegebene Binnenstruktur einer Versammlung nicht gerecht werden. Aber auch die neuen Versammlungsgesetze halten am Bild einer hierarchisch strukturierten Versammlung fest, und es fragt sich, wie Polizei und Versammlungsbehörden mit Demonstrationen, die von basisdemokratisch strukturierten Aktionsbündnissen veranstaltet werden, versammlungsfreundlich verfahren können, insbesondere wie man mit solchen heterogenen Veranstaltungsstrukturen im Kooperationsverfahren zu belastbaren Absprachen kommen kann (vgl. dazu der Beitrag von Behrendes in diesem Heft).
2. Föderalismusreform
Mit der Föderalismusreform des Jahres 2006 verzichtete der Bund auf seine Gesetzgebungszuständigkeit für das Versammlungswesen. Warum er das tat, wurde nicht recht deutlich. Es ist indes müßig, darüber zu spekulieren, denn die enge Verwandtschaft zwischen dem Polizei- und Ordnungsrecht und dem Versammlungsrecht stellt einen sachlichen Grund für diesen Verzicht dar. Ihre neue Zuständigkeit zwingt die Länder nicht, eigene Versammlungsgesetze zu erlassen, weil Art. 125a GG die Möglichkeit eröffnet, das BVersG als Bundesrecht fortbestehen zu lassen.
3. Umfang der Gesetzgebungskompetenz
Entschließt sich ein Land zum Erlass eines eigenen Versammlungsgesetzes, stellt sich die Frage nach dem Gestaltungsspielraum. Hier ist die unitarisierende Wirkung der Grundrechte des Grundgesetzes zu beachten.10 Die Frage ist aber, welche Gewährleistungsgehalte dem einschlägigen Grundrecht innewohnen. Hinsichtlich Art. 8 Abs. 1 GG schließt etwa das zum Normprogramm dieses Grundrechts gehörende Erlaubnisverbot die Einführung einer Erlaubnispflicht durch den Landesgesetzgeber aus. Ob aber Art. 8 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG ein auf die gemeinsame Meinungsbildung und -äußerung verengter Versammlungsbegriff zu entnehmen ist, ist höchst umstritten und wird von der ganz herrschenden Meinung verneint.11 Jedenfalls ist der Gestaltungsspielraum der Landesgesetzgeber umso größer, je mehr sich das BVerfG bei seiner Grundrechtskonkretisierung zurückhält.
Insoweit haben die Länder Gestaltungsspielräume. In formaler Hinsicht sind sie in der Entscheidung frei, ein eigenes Versammlungsgesetz zu erlassen oder die entsprechenden Regelungen in ihrem Polizeigesetz unterzubringen. Materiell offene Regelungsbereiche sind das Kooperationsverfahren, die Justierung der Rechte von Veranstalter, Leiter und Teilnehmer, die Organisationsstruktur von Versammlungen und Demonstrationen, die Bewertung des Gefahrenpotenzials insbesondere von Aufzügen gegenüber stationären Versammlungen, der Umfang von Eingriffsermächtigungen, das Verhältnis des Versammlungsgesetzes zum Polizeigesetz und die Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände.
Es besteht weder eine Gestaltungsbeschränkung dergestalt, dass vom Versammlungsgesetz des Bundes nur abgewichen werden darf, wenn es dafür ein landesspezifisches Bedürfnis gibt, noch eine Harmonisierungspflicht für die Landesgesetzgeber. Diese können vielmehr voneinander abweichendes Recht setzen, ohne dass das einer besonderen Begründung bedürfte.12
4. Stand der Gesetzgebung
Von der neuen Gesetzgebungskompetenz haben Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht. Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben eigenständige komplette Versammlungsgesetze erlassen, die in ihrer Grundstruktur zwar dem BVersG folgen, mit speziellen Regelungen aber auch eigene Akzente setzen.
Brandenburg hat das BVersG mit Ausnahme von § 16 übernommen und als neuen § 16 das Gesetz über Versammlungen und Aufzügen an und auf Gräberstätten eingefügt, um Versammlungen auf historisch bedeutsamen Grabstätten, etwa zur Ehrung von Nazigrößen auf dem Waldfriedhof Halbe, verhindern zu können.13
Mit Gesetz vom 25.1.2012 übernahm Sachsen14 das BVersG mit Änderungen bei den §§ 1 und 15, nachdem der sächsische VerfGH das VersG vom 20.1.2010 wegen Verstoßes gegen Art. 70 Abs. 1 sächsVerf für formell verfassungswidrig erklärt hatte.
Auch Sachsen-Anhalt15 gab sich mit Gesetz vom 3.12.2009 ein eigenes Versammlungsgesetz, das in § 18 die Voraussetzungen für Bild- und Tonaufzeichnungen und mit den in den §§ 13 Abs. 2, 14 enthaltenen Verboten an bestimmten mit dem Nationalsozialismus in Zusammenhang stehenden Orten oder Tagen eigenständige Teilregelungen enthält.
Berlin hat mit dem Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23.4.201316 keine umfassende Regelung des Versammlungswesens getroffen, sondern nur den als Bundesrecht fortgeltenden § 19a BVersG durch eine landesrechtliche Regelung ersetzt, die allerdings über die Regelung in §§ 12a, 19a BVersG mit der neuen Befugnis zur Anfertigung von Übersichtsaufnahmen hinausgeht. Im Übrigen hat der Gesetzgeber das BVersG fortbestehen lassen. Diese teilweise Ersetzung hat der VerfGH Berlin für verfassungsgemäß erachtet.17
II   Erwartungen
Der Rückblick zeigt, dass – anders als es sich der Versammlungsgesetzgeber von 1953 vorstellen konnte – die Versammlungsfreiheit zu einem maßgeblichen Faktor des politischen Willensbildungsprozesses und das Versammlungsgeschehen zu einem wesentlichen Bestandteil des politischen Alltags und der demokratischen Kultur geworden ist. Diese Entwicklung müsste sich in neuen Versammlungsgesetzen wiederfinden.
Durch die Verengung des Versammlungsbegriffs auf die öffentliche Meinungsbildung und -äußerung wurde Fun-Veranstaltungen wie der Love-Parade der Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG genommen. Das hatte zur Folge, dass solche Veranstaltungen dem Regime des Straßenrechts unterlagen. Entschied bis dahin die Versammlungsbehörde auf der Grundlage der Konzentrationsmaxime aus einer Hand über alle sonst erforderlichen Erlaubnisse im Rahmen einer beschränkenden Verfügung, waren jetzt die kommunalen Behörden als Ordnungsbehörden zuständig. Das hatte in NRW bei der Love-Parade in Duisburg 2011 fatale Folgen. Ohne die Änderung der Rechtsprechung des BVerfG zum Versammlungsbegriff wäre nicht die für die Katastrophe maßgeblich verantwortliche Stadt Duisburg mit einem Oberbürgermeister an der Spitze, der die Veranstaltung politisch unbedingt wollte, und unkoordiniert nebeneinander her arbeitenden Ämtern – allgemeine Ordnungsbehörde hier und Baubehörde dort -, zuständig gewesen, sondern das Polizeipräsidium Duisburg als Versammlungsbehörde. Diese aber hätte als aus einer Politikferne agierende Behörde in Ansehung der erkennbar zur Katastrophe führenden Umstände die Veranstaltung nicht zugelassen.
Den Herausforderungen für die Polizei bei Demonstrationen mit zwangsläufigen Gegenaktionen ist im Hinblick auf die der Polizei obliegende Schutzpflicht und ihre Rolle als Regulativ widerstreitender Interessen durch entsprechende Befugnisse Rechnung zu tragen.
Aus der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses zwischen Versammlungsrecht und Polizeirecht und der Regelung der Befugnis zur Anfertigung von Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes. In dem Zusammenhang ist auch zu klären, inwieweit in Ansehung der inneren Versammlungsfreiheit überhaupt verdeckte polizeiliche Maßnahmen zulässig sein können. Durch Verfahrensregelungen zu konkretisieren ist auch die Inpflichtnahme des privaten Eigentümers einer semiöffentlichen Fläche zur Duldung einer Versammlung. Hier ist Grundrechtsschutz durch Verfahren als Kompensation für den Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG geboten.
Auf der Agenda neuer Versammlungsgesetze stehen zudem noch von Obergerichten festgestellte Defizite des BVersG hinsichtlich des voraussetzungslos eingeräumten Anwesenheitsrechts der Polizei bei Versammlungen in geschlossenen Räumen18 und einer Pflicht zur Mitteilung der Personalien der vorgesehenen Ordner.19
Im Schrifttum20 werden weitere Defizite festgestellt:
fehlende Sonderregelungen für Großdemonstrationen und demonstrative Aktionen mit kleinem Teilnehmerkreis,
Ausblendung von nichtöffentlichen Versammlungen,
klare Festlegung des Anwendungsbereichs der Versammlungsgesetze bezüglich An- und Abreise der Versammlungsteilnehmer und
Offenlassen des Verhältnisses von Demonstration und Gegendemonstration.

Auf diesem Hintergrund lassen sich folgende Erwartungen an die Gesetzgeber adressieren:21
Ausbau des Versammlungsrechts als Grundrechtsgewährleistungsrecht; Stärkung der bürgerschaftlichen Selbstorganisation,
Abstimmung zwischen Versammlungsrecht und Polizeirecht, insbesondere im Hinblick auf Vorfeldmaßnahmen,
Regelungen für aktuelle Entwicklungen und
Konzentration der behördlichen Zuständigkeit auf die Polizei.
III   Neuerungen
1. Versammlungsbegriff
Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein haben den verengten Versammlungsbegriff des BVerfG22 übernommen23 und damit Veranstaltungen, die nicht – überwiegend24 – auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung durch Erörterung oder Kundgebung gerichtet sind, den Grundrechtsschutz des Art. 8 Abs. 1 GG genommen.
Der verfassungsrechtliche und der versammlungsrechtliche Versammlungsbegriff können sich entsprechen, müssen es aber nicht. Die Landesgesetzgeber sind insoweit frei, den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG auf der Ebene des Landesrechts konkretisierend zu erweitern, denn Versammlungsgesetze sind nicht nur Vorbehaltsgesetze i.S. von Art. 8 Abs. 2 GG, sondern auch Ausführungsgesetze zu Art. 8 Abs. 1 GG. Ob die Landesgesetzgeber aber in ihrem Versammlungsgesetz den Versammlungsbegriff durch seine Fixierung auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess verengen können, hängt von der Verfassungsmäßigkeit dieser Verengung ab. Der Meinungsstreit um den maßgeblichen Versammlungsbegriff kann also vom Gesetzgeber nur zu Gunsten eines verengten Versammlungsbegriffs entschieden werden, wenn dieser von Art. 8 Abs. 1 GG vorgegeben wird.
Die vom BVerfG vorgenommene komplementäre Verschränkung der Versammlungsfreiheit mit der Meinungsfreiheit verabsolutiert die grundtheoretische Verankerung in der Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess und vernachlässigt die andere Traditionslinie, die die Versammlungsfreiheit als Garantie der Persönlichkeitsentfaltung in Gemeinsamkeit sieht.25 Diese Fixierung der Versammlungsfreiheit auf die Meinungsfreiheit und diese auf ihre politische Bedeutung lässt sich weder mit dem Wortlaut noch systematisch oder teleologisch begründen.26 Ein allein demokratisch-funktionales Demonstrationsgrundrecht stellte im primär abwehrrechtlich ausgerichteten Grundrechtskatalog des GG einen Fremdkörper dar.27
Die Verengung auf die gemeinsame Meinungsbildung und -äußerung überzeugt auch deshalb nicht weil der Schutz speziell der meinungsbildenden und -äußernden Versammlung durch Art. 8 i.V. mit Art. 5 GG gewährleistet wird. Deshalb kann wegen der thematischen Offenheit von Art. 8 Abs. 1 GG auf einen bestimmten Inhalt des Versammlungszwecks neben der inneren Verbindung gänzlich verzichtet werden.28 Gegen die Verengung spricht auch der Zusammenhang der Versammlungsfreiheit mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit; die Versammlungsfreiheit soll die Vereinzelung verhindern und die Persönlichkeitsentfaltung in Gruppenform ermöglichen.29
Die verengende Auslegung unterläuft auch das traditionelle und einfachgesetzliche Versammlungsverständnis, wie es § 17 BVersG zugrunde liegt. Diese Bestimmung die u.a. Volksfeste einbezieht, macht deutlich, dass das BVersG einen weiten Versammlungsbegriff zur Grundlage hat.
Die Verengung des Versammlungsbegriffs krankt letztlich daran, dass sie mit der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes die Beschränkung des Schutzbereiches rechtfertigt, was auf eine Fehldeutung von Art. 8 Abs. 1 GG als Versammlungsbeschränkung hinausläuft.30 Aus der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen müsste nicht ein verengter, sondern im Gegenteil ein weiter Versammlungsbegriff folgen und umgekehrt gefragt werden, ob nicht politische Demonstrationen eines verstärkten Grundrechtsschutzes bedürften.31
Hinsichtlich des Versammlungsbegriffs stellt sich für die Länder, die anders als Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein den Versammlungsbegriff nicht definiert haben, die Frage, ob sie insoweit einen Gestaltungsspielraum haben oder der verengte Versammlungsbegriff des BVerfG für sie gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend ist. Dessen Bindungswirkung folgt aus der Entscheidungsformel und den diese tragenden Gründen.32 Den Leitsätzen einer Entscheidung kommt insoweit nur erste indizielle Bedeutung zu.33 Welche Gründe die tragenden sind, lässt sich allein objektiv bestimmen; es sind die Gründe, die nicht mit Hilfe einer Substraktionsmethode hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele.34
Im Beschluss zur Love-Parade vom 12.7.2001 hatte das BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und als dafür tragenden Grund angegeben, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, den Begriff der Versammlung i.S. des BVersG in Anlehnung an den verfassungsrechtlichen Versammlungsbegriff zu deuten und auf Veranstaltungen zu begrenzen, die durch eine gemeinschaftliche, auf Kommunikation ausgelegte Entfaltung mehrerer Personen gekennzeichnet sind; dementsprechend seien Versammlungen i.S. des Art. 8 Abs. 1 GG örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.35
Bei einstweiligen Anordnungen ist streitig, ob ihnen wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung, die allenfalls Ergebnis einer summarischen Prüfung ist, überhaupt Bindungswirkung beizumessen ist.36 Aber selbst, wenn man das bejaht, kann die Bindungswirkung nur im Rahmen der Vorläufigkeit der Entscheidung bestehen, mithin keine über ihre Geltungsdauer als vorläufiges Verfahren hinausreichende Wirkung haben.37
Dauerhafte Bindungswirkung könnte aber der Senatsentscheidung vom 24.10.2001 zukommen, in deren 2. Leitsatz das BVerfG die Versammlung i.S. des Art. 8 Abs. 1 GG als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung definiert hatte.38 Ob es sich dabei um tragende Gründe handelt, ist nach der Substraktionsmethode zu ermitteln. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob Art. 103 Abs. 2 GG verletzt wird, wenn die Strafgerichte das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB auf Blockadeaktionen anwenden, bei denen die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wollten die Demonstranten gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf, also gegen die Nutzung der Kernenergie protestierten. Damit lag selbst bei Zugrundelegung des engsten Versammlungsbegriffs, der zusätzlich zur öffentlichen Meinungsbildung noch verlangt, dass der Gegenstand der Meinungsbildung eine politische Qualität haben muss,39 auf jeden Fall eine Versammlung vor. Das BVerfG musste sich also hinsichtlich des maßgeblichen Versammlungsbegriffs gar nicht festlegen, um den Streitgegenstand – Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG bei Anwendung von § 240 Abs. 1 StGB – entscheiden zu können. Dann kann es sich aber bei seinen Ausführungen zum Versammlungsbegriff nicht um tragende Gründe handeln. Das hat zur Folge, dass die zwölf Landesgesetzgeber bezüglich des Versammlungsbegriffs in einem neuen Versammlungsgesetz Gestaltungsfreiheit haben und versammlungsfreundlich verfahren können, genauso wie die Versammlungsbehörden bzw. die Polizei, die in der Versammlungspraxis von einem weiten Versammlungsbegriff ausgehen können.
2. Schutzauftrag
Der Erwartung an die Gesetzgeber, die Versammlungsgesetze als Grundrechtsgewährleistungsgesetze auszubauen, ist nur Schleswig-Holstein – ansatzweise – gerecht geworden, indem in § 63 Abs. 1 die Schutzaufgabe thematisiert wird und die Träger der öffentlichen Verwaltung in die Pflicht genommen werden, friedliche Veranstaltungen zu schützen und die Versammlungsfreiheit zu wahren.
3. Kooperation, Zusammenarbeit
Die vom BVerfG aus § 14 BVersG abgeleitete Kooperationspflicht40 der Versammlungsbehörde regeln Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.41 Über die Festlegung der Kooperationspflicht hinaus machen nur Sachsen und Schleswig-Holstein substanzielle Vorgaben für die Kooperation mit dem Veranstalter. Bedeutsam ist, dass die Kooperation auch auf die Phase nach Beginn der Versammlung ausgedehnt wird, indem die Behörde Veranstalter bzw. Leiter über erhebliche Änderungen der Gefahrenlage zu informieren hat. Wenn der Gesetzgeber noch darauf hinweist, das Konfliktmanagement Bestandteil der Kooperation ist, so bringt er damit nur die Binsenweisheit zum Ausdruck, dass die Versammlungsbehörde über Auflagen praktische Konkordanz zwischen der Versammlung und den mit ihr konfligierenden Rechtspositionen herzustellen hat.
4. Anzeige statt Anmeldung
Die Umbenennung42 ist reine Begriffskosmetik und ändert nichts an der verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit einer Anmelde- oder Anzeigepflicht, die aus dem eindeutigen Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 GG folgt und die Einführung einer solchen Pflicht über Art. 8 Abs. 2 GG ausschließt.43
5. Militanzverbot
Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt haben ausdrücklich oder der Sache nach ein Militanzverbot in ihr Versammlungsgesetz aufgenommen, mit dem gegen die einschüchternde Wirkung von rechtsextremistischen Aufzügen, insbesondere solchen mit paramilitärischem Gepräge, vorgegangen werden kann.44
6. Untersagung der Teilnahme
Im Vorfeld von Versammlungen auf der Grundlage der Polizeigesetze verfügte Meldeauflagen bedürfen als Durchsetzungsmaßnahmen einer Grundverfügung. Das müsste nach Polizeirecht ein Teilnahmeverbot sein, das die Polizeigesetze aber nicht kennen. Insoweit ist zu begrüßen, dass das ndsVersG nunmehr in § 10 Abs. 3 Satz 1 eine solche Grundverfügung als Untersagung der Teilnahme vorsieht. Konsequent wäre es allerdings gewesen, dann auch die Meldeauflage als Durchsetzungsmaßnahme im VersG zu regeln. Auch das s-hVersG kennt in § 14 Abs. 1 die Teilnahmeuntersagung, beschränkt sie aber auf den Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn der Versammlung und schafft damit keine Grundverfügung für eine Meldeauflage, mit der die Teilnahme verhindert werden soll.
7. Übersichtsaufnahmen
Alle Länder mit eigenem Versammlungsgesetz regeln die Zulässigkeit von offen angefertigten Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes, allerdings mit unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen. Bayern, Berlin, Sachsen und Schleswig-Holstein lassen Übersichtsaufnahmen als Echtzeitübertragung unter der Voraussetzung zu, dass das wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung erforderlich ist.45 Während Berlin, Sachsen und Schleswig-Holstein die Aufzeichnung der Bilder nicht erlauben, sind in Bayern Aufzeichnungen zugelassen, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht, also eine abstrakte Gefahr voraus gesetzt wird. Auch Niedersachsen erlaubt Aufnahmen in Echtzeit, setzt dafür aber eine abstrakte Gefahr voraus. Aufzeichnungen sind nur bei einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit zulässig.
Die unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen haben zur Folge, dass bei länderübergreifenden Einsätzen Nachschulungsbedarf im Versammlungsrecht des Einsatzlandes besteht.
8. Anwesenheitsrecht der Polizei
Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein46 haben von § 12 BVersG abweichende Regelungen getroffen, allerdings mit ganz unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen. Das bayVersG knüpft in Art. 4 Abs. 3 die Anwesenheit bei Versammlungen unter freiem Himmel an die Erforderlichkeit für die polizeiliche Aufgabenerfüllung. Bei Versammlungen in geschlossenen Räumen müssen tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten vorliegen oder eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu besorgen sein, womit eine abstrakte Gefahr beschrieben wird. Sachsen macht die Anwesenheit in § 11 vom Bestehen oder der Befürchtung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit abhängig und verweist in § 18 Abs. 1 für Versammlungen unter freiem Himmel auf § 11. Da davon auszugehen ist, dass bei letzteren die Anwesenheit von Polizei nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich sein soll, ist auch bei § 11 die abstrakte Gefahr gemeint. § 10 s-hVersG lässt bei Versammlungen unter freiem Himmel die Erforderlichkeit zur polizeilichen Aufgabenerfüllung ausreichen, verlangt aber für Versammlungen in geschlossenen Räumen, dass die Anwesenheit zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für die Friedlichkeit der Versammlung erforderlich ist.

9. Regelungen zum Ordnereinsatz
Da § 18 Abs. 2 Satz 1 BVersG nur die Verwendung von Ordnern als solche genehmigungspflichtig macht, aber keine Verpflichtung zur Übermittlung der Personalien der ausgewählten Ordner enthält, bestand Nachbesserungsbedarf. Sachsen und Sachsen-Anhalt haben es bei der Regelung des BVersG belassen. Schleswig-Holstein hat auf eine Genehmigung des Ordnereinsatzes verzichtet und sieht auch keine Regelungen für die Übermittlung von die Ordner betreffenden Informationen an die Polizei vor. Nach Art. 10 Abs. 4 bayVersG hat der Veranstalter der zuständigen Behörde auf deren Anforderung die persönlichen Daten der Ordner mitzuteilen, wenn Tatsachen die Ausnahme rechtfertigen, dass durch deren Einsatz die Friedlichkeit der Versammlung gefährdet wird. Nach § 5 Abs. 3 Nr. 3 ndsVersG kann die zuständige Behörde von der Versammlungsleitung die Angabe der Anzahl und der persönlichen Daten der Ordnerinnen und Ordner verlangen.
10. Anwendbarkeit des Polizeirechts
Der Erwartung an neue Versammlungsgesetze, das Verhältnis zwischen Versammlungsrecht und Polizeirecht zu klären, wird ansatzweise das s-hVersG gerecht, wenn es zu § 9 die Anwendbarkeit des Landesverwaltungsgesetzes für zulässig erklärt, soweit das VersG die Abwehr von Gefahren gegenüber einzelnen Teilnehmerinnen nicht regelt.
11. Semiöffentliche Flächen
Mit der Zulässigkeit von Versammlungen auf semiöffentlichen Flächen befasst sich nur das s-hVersG in § 18 und lässt dort Versammlungen ohne Zustimmung des Eigentümers zu, wenn sich die Grundstücke im Eigentum von Unternehmen befinden, die ausschließlich im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder von ihr beherrscht werden. Die Regelung bezieht sich demnach nicht auf semiöffentliche Flächen in privatem Eigentum.
12. Rolle der Polizei in Abgrenzung zu den Versammlungsbehörden
In den neuen Versammlungsgesetzen von Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein wird die Rolle der Polizei im Versammlungsgeschehen zu Gunsten der Versammlungsbehörden zurückgedrängt. Bei den Befugnisnormen ist von Polizei nur noch in Zusammenhang mit dem Anwesenheitsrecht und der Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen die Rede. Die Auflösung von Versammlungen in geschlossenen Räumen und die Ausschließung von Teilnehmern obliegt nicht mehr der Polizei, sondern der zuständigen Behörde. Zuständige Behörde ist in Bayern die Kreisverwaltungsbehörde,47 in Niedersachsen sind es die Landkreise, kreisfreien Städte, die großen Städte und selbständigen Gemeinden, in Hannover dagegen die Polizeidirektion Hannover48 und in Schleswig-Holstein die Ordnungsbehörden der Kreise und kreisfreien Städte.49 Dabei machen Bayern und Niedersachsen eine zeitliche Zäsur und bestimmen, dass vor Beginn der Versammlung die unteren Verwaltungsbehörden und nach Beginn die Polizei für das Versammlungsgeschehen zuständig ist.50 Schleswig-Holstein verzichtet sogar darauf und gibt der Polizei nur noch die Kompetenz, in unaufschiebbaren Fällen an Stelle der zuständigen Behörde Maßnahmen treffen zu können.51 Sachsen hingegen setzt differenziert nach den im VersG vorgesehenen Maßnahmen die Kreispolizeibehörden oder den Polizeivollzugsdienst als zuständige Entscheidungsträger ein, allerdings ohne eine zeitliche Zäsur.52
IV   Ausblick
1. Fortentwicklung des Versammlungsrechts?
In Anbetracht der Neuerungen einerseits und der Erwartungen an die Landesgesetzgeber andererseits kann von einer konzeptionellen Fortentwicklung des Versammlungsrechts nicht gesprochen werden. Feststellen lassen sich nur einzelne Schritte in die richtige Richtung, etwa die Regelungen zum Schutzauftrag und zur Kooperation, zum Militanzverbot und zu den semiöffentlichen Flächen. Alle anderen „Neuerungen“ waren überflüssig (Versammlungsbegriff), substanzlos (Umbenennung von Anmeldung in Anzeige) oder überfällig (Übersichtsaufnahmen, Teilnahmeuntersagung, Anwesenheitsrechtsänderungen und Regelungen zum Ordnereinsatz).
Geht man die Erwartungen an die Gesetzgeber durch, so zeigt sich folgendes Bild. Ein Ausbau des Versammlungsrechts als Grundrechtsgewährleistungsrecht hat mit dem Schutzauftrag, der Konkretisierung der Kooperation und der Regelung zu den semiöffentlichen Flächen nur im s-hVersH stattgefunden.
Das Verhältnis von Versammlungsrecht und Polizeirecht ist ebenfalls nur in Schleswig-Holstein angegangen worden. Im Hinblick auf die Problematik der auf das Polizeirecht gestützten Vorfeldmaßnahmen hat nur Niedersachsen mit der Untersagungsverfügung einen Schritt in die richtige Richtung getan.
Aktuellen Entwicklungen haben sich die Gesetzgeber nicht gestellt. Hier brennt der Polizei vor allem das Problemfeld des Aufeinandertreffens rechtsextremistischer Aufzüge und gewalttätiger Gegendemonstrationen unter den Nägeln. Das geringere Problem ist dabei das Trennen der beiden Veranstaltungen, insbesondere, wenn sie stationär stattfinden. Problematisch wird es aber, wenn gewaltbereite Autonome die Versammlung dadurch verhindern, dass sie schon weit im Vorfeld ansetzen und die Teilnehmer der rechten Versammlung erst gar nicht zum Versammlungsort lassen. Das geht bis zum Lahmlegen öffentlicher Verkehrsmittel. Noch problematischer wird es, wenn das Protestlager gegen die Versammlung der Rechten bis in die bürgerliche Mitte reicht und der gebündelte Protest sich in geballter Form von tausenden Gegendemonstranten in einer Innenstadt formiert und unmöglich macht, dass die Rechten überhaupt an ihren Versammlungsort gelangen. Hier kann die Frage des Umfangs der polizeilichen Schutzpflicht – konkret möglicherweise durch Einsatz von Hubschraubern, um die Rechten zum Versammlungsort zu bringen – nicht nur nach Maßgabe des polizeilichen Notstandes beantwortet werden, sondern die Schutzpflicht müsste vom Gesetzgeber konkretisiert werden.
Noch enttäuschender ist die Sichtweise der Gesetzgeber zur Rolle der Polizei im Versammlungsgeschehen. Hier ist ein Rückschritt erfolgt, indem die Polizei in der Eigenschaft als Versammlungsbehörde und als Polizeivollzugsdienst in der Rolle des Entscheiders vor Ort zurückgedrängt wird. Das in Bayern, Niedersachsen, Sachsen und insbesondere Schleswig-Holstein etablierte Modell der geteilten, an der zeitlichen Zäsur des Beginns der Versammlung orientierten Verantwortlichkeit von Versammlungsbehörden und Polizei wird den tatsächlichen Anforderungen für eine professionelle Lagebewältigung nicht gerecht und verhindert die Erfüllung versammlungsgesetzlicher Pflichten, die diesen Behörden auferlegt sind.
Verfügungs- und Durchsetzungskompetenz gehören im Versammlungsrecht in eine Hand. Eine Trennung führt nicht nur zu Kompetenzkonflikten und Entscheidungsverzögerungen53, sie geht vor allem an sachlichen Befunden vorbei. Die Sachkompetenz im Umgang mit Menschenmengen ist nicht bei den Ordnungsbehörden – wie die Katastrophe bei der Love-Parade in Duisburg gezeigt hat -, sondern bei der Polizei vorhanden und muss schon vor Beginn einer Versammlung zum Tragen kommen. Vor Beginn einer Versammlung verhängte Verbote oder ausgesprochene beschränkende Verfügungen setzen nicht nur diese polizeiliche Sachkompetenz voraus, sondern zudem die für die Gefahrenprognose unverzichtbaren Lageerkenntnisse, über die auch wieder nur die Polizei verfügt. Beides von der Bereitschaft der Ordnungsbehörde zur Beteiligung der Polizei an ihrer Entscheidungsfindung abhängig zu machen, ist gefährlich und vom Gesetzgeber zu vertreten.
Noch schwerer wiegt aber, dass das Teilungsmodell das Gelingen von Kooperation im Ansatz verhindert. Kooperation lässt sich zwar zeitlich aufteilen in die Phase vor und nach Beginn der Versammlung, doch setzt das die ungeteilte Kooperationsverantwortung voraus. Kooperation lebt von Vertrauen auf beiden Seiten. Dies Vertrauen bildet sich in der Phase vor Beginn. Fronten, die in dieser Phase aufgebaut worden sind, lassen sich nach Beginn nicht wieder abbauen. Deshalb gehört das Kooperationsverfahren in die Hand der Polizei (vgl. dazu den Beitrag von Behrendes in diesem Heft). Das Gelingen von Kooperation als Voraussetzung für polizeiliche Lagebewältigung und gleichzeitige versammlungsfreundliche Verfahrensweise zeigt sich am Beispiel Nordrhein-Westfalens, wo die Polizei Versammlungsbehörde ist und auf eine erfolgreiche, an Deeskalation und Kooperation orientierte Demonstrationspraxis zurückblicken kann. Hinzu kommt noch, dass die Polizei der im Versammlungsrecht vorausgesetzten Neutralität als aus einer gewissen Politikferne agierenden Behörde eher gerecht werden kann als die von kommunalen politischen Entscheidungsträgern abhängige Ordnungsbehörde.54
Die Verantwortungsteilung hat auch nachteilige Folgen für die Demonstranten selber. So hat der VGH Kassel eine Handlungspflicht der Polizei zum Schutze eines rechten Aufzuges vor einer Verhinderung durch linke Gegendemonstranten abgelehnt, weil die zuständige Versammlungsbehörde vorher ihrer Schutzverpflichtung nicht nachgekommen war.55
Insgesamt zeigt sich die mangelnde Tauglichkeit des Teilungsmodells von Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Die Landesgesetzgeber sollten Vertrauen in die Polizei im institutionellen Sinne setzen, die in der Vergangenheit bewiesen hat, dass sie nicht nur eine „Staatspolizei“ ist, die demokratisch zu Stande gekommene Entscheidungen durchzusetzen hat, sondern auch eine Bürgerpolizei, die als Beschützer der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in der Pflicht ist, Freiheitsräume für Veränderungen, für die Austragung politischer Konflikte gerade für Minderheiten offen zu halten hat.
2. Fazit
Die „neuen“ Versammlungsgesetze stellen unter dem Strich kein fortentwickeltes Versammlungsrecht dar. Hätten die Landesgesetzgeber es beim BVersG belassen, so hätte sich das im Versammlungsgeschehen nicht nennenswert niedergeschlagen. Für die Landesgesetzgeber, die ihr Gesetzgebungsrecht noch nicht oder nur teilweise genutzt haben, dürfte sich daraus Folgendes ergeben. Ist kein politischer Wille zu einer echten, an den oben skizzierten Erwartungen orientierten konzeptionellen Fortentwicklung des Versammlungsrechts vorhanden, sollten sie es beim BVersG belassen. So würde sich die alte Weisheit bewahrheiten, dass nichts länger währt als das Provisorium.

MICHAEL KNIESEL   war nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Münster zunächst Polizeidezernent beim Regierungspräsidenten Münster. Nach Tätigkeiten bei der Bereitschaftspolizei und dem Landeskriminalamt NRW wurde er Leiter des rechtswissenschaftlichen Fachbereichs der Polizei Führungsakademie. Von 1988 bis 1993 war er Polizeipräsident in Bonn und anschließend bis 1995 Staatsrat beim Innensenator in Bremen. Seit dieser Zeit arbeitet er als Rechtsanwalt. Er ist neben Prof. Bodo Pieroth und Prof. Bernhard Schlink Ko-Autor des Buches „Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht“, 7. Auflage 2012.

Anmerkungen:

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