Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 213: Versammlungsfreiheit

Von der Priva­ti­sie­rung der Öffent­lich­keit zur Öffnung des Privat­be­sit­zes?

Das Fraport-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In: Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 91-108.

Unter den versammlungsrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes des letzten Jahrzehnts ragt das Fraport-Urteil von 2011 heraus: Das Gericht antwortet damit auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit und das Verschwinden des öffentlichen Raumes in seiner bisherigen Form, die durch eine voranschreitende Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Aufgabenwahrnehmung gekennzeichnet sind. Michael Plöse analysierte das Urteil unmittelbar nach seiner Veröffentlichung und würdigte es als Versuch, die Geltung des Versammlungsrechts auch in den neuen, meist privaten oder privatisierten Räumen zu gewährleisten.* In der vorliegenden, überarbeiteten Fassung hat er die tagesaktuellen Bezüge gekürzt und zugleich einige Anmerkungen zur Rezeption des Urteils in Literatur und Rechtsprechung angefügt, die in der Online-Version dieses Beitrags ausführlich dargestellt werden.

In seinem Urteil vom 22. Februar 2011 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)1 festgestellt, dass auch privater bzw. privatisierter, vormals öffentlicher Raum nicht allein dem Gutdünken des Eigentümers untersteht, sondern in seiner Funktion als Forum ein Ort für gesellschaftliche Auseinandersetzungen bleibt. Deshalb gewährleiste das Grundgesetz auch an diesen Plätzen Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Damit stellte Karlsruhe die Grundrechtsgeltung in Räumen mit privater Rechtsform klar, besonders dort, wo deren Eigentumsanteile mehrheitlich in öffentlicher Hand liegen. Das Verfassungsgericht reagierte damit auf die sich verschiebenden Orte des öffentlichen Meinungsstreits, die längst nicht mehr allein auf oder entlang der Straße zu finden sind. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Aufgaben und der Kommerzialisierung sozialer Begegnungsräume bleibt weiterhin zu beobachten, wie die Entscheidung gegen Versuche mobilisiert werden kann, das „Elend der Welt“2 von der unbeschwerten „Wohlfühlatmosphäre“ der Konsumwelten fern zu halten.

Die Kulisse: Kein Ort für politisches Engagement?
Im Zentrum des Geschehens steht der internationale Flughafen von Frankfurt am Main. Er wird von der Fraport Aktiengesellschaft (Fraport AG) betrieben, einem Konsortium, das mehrheitlich im Eigentum des Landes Hessen und der Stadt Frankfurt steht. Neben der Abwicklung des Flugverkehrs vermietet die Fraport AG sowohl innerhalb des abgetrennten Boarding-Bereiches als auch im öffentlich zugänglichen Teil des Flughafens eine Vielzahl von Läden und Serviceeinrichtungen sowie eine Reihe von Restaurants, Bars und Cafés, die sie als „City in the City“ versteht und u.a. mit folgenden Slogans bewarb: „Airport Shopping für alle!“ und „Auf 4.000 Quadratmetern zeigt sich der neue Marktplatz in neuem Gewand und freut sich auf Ihren Besuch!“
Wie sich die Flughafengesellschaft diesen Besuch ihrer Gäste – Flugreisende, deren Angehörige, Kundinnen und Flaneure – im Einzelnen vorstellt, legte sie in einer vom Land Hessen genehmigten Flughafenbenutzungsordnung fest, die u.a. das Sammeln, Werben und Verteilen von Flugblättern und sonstigen Druckschriften unter Einwilligungsvorbehalt sowie Versammlungen in den Gebäuden des Flughafens gänzlich unter Verbot stellte. Gleichwohl kam es nach den Feststellungen des BVerfG zwischen 2000 bis 2007 zu 45 Versammlungen mit drei bis 2.000 Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Terminals. Immer wieder fanden publikumswirksame Unterhaltungs- und Werbeveranstaltungen statt, z.B. ein Public Viewing anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2010.
Die Akteure: Meinungs- und Versammlungsfreiheit vs. Hausrecht
Die Beschwerdeführerin engagierte sich im antirassistischen Aktionsbündnis gegen Abschiebung. Sie kritisierte vor allem die Mitwirkung privater Fluggesellschaften und der Flughafeneinrichtungen an der Abschiebepraxis der Bundesrepublik. Allein im Jahr 2009 wurden 3.270 der insgesamt 7.289 auf dem Luftweg vorgenommenen Abschiebungen über den Frankfurter Flughafen abgewickelt.3 Dabei kommt es immer wieder zu schweren Misshandlungen, Selbsttötungen und Todesfällen während oder nach dem Transport.4
Als die Beschwerdeführerin im März 2003 zusammen mit fünf weiteren Aktivist_innen in der Abflughalle des Flughafens Informationen über eine bevorstehende Abschiebung an den betreffenden Piloten weitergeben und Flugblätter an die Fluggäste verteilen wollte,5 erteilte ihr die Fraport AG ein „Flughafenverbot“. Ihr wurde ein Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs angedroht, sollte sie erneut „unberechtigt“ auf dem Flughafen angetroffen werden. Dabei verwies die AG auf ihre Flughafenbenutzungsordnung. In einem weiteren Schreiben stellte sie klar, dass sie nicht abgestimmte Demonstrationen im Terminal aus Gründen des reibungslosen Betriebsablaufes und der Sicherheit grundsätzlich nicht dulde.

Der Prolog: Privateigentum unterliegt nicht der Grundrechtsbindung!?
Gegen das Hausverbot erhob die Aktivistin zunächst Klage vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main,6 blieb damit jedoch in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg: Die Fraport AG unterliege bei der Ausübung ihres Hausrechts nicht der staatlichen Grundrechtsbindung und müsse daher auch keine Proteste gegen Abschiebungen zulassen, lautete die Begründung des Landgerichts vom 20. Mai 2005.7 Daran ändere auch die mehrheitliche Beteiligung der öffentlichen Hand nichts, so lange diese sich nicht auf 100 Prozent belaufe.8 Zudem übe die Flughafengesellschaft im Zusammenhang mit den Abschiebungen keine hoheitlichen Befugnisse aus. Auch die allen Privatrechtssubjekten gemeine mittelbare Grundrechtsbindung der AG ergäbe in der Abwägung zwischen Eigentumsrecht und Meinungsfreiheit keine Pflicht der beklagten Gesellschaft, auf ihrem Gelände Meinungskundgaben und Demonstrationen hinnehmen zu müssen. Eine gegenteilige Auffassung hatten hingegen das Verwaltungsgericht Frankfurt a.M. und der Hessische Verwaltungsgerichtshof bereits 2003 aus Anlass einer Demonstration gegen den Irakkrieg – ebenfalls im Flughafenbereich – vertreten.9
Nachdem auch der Bundesgerichtshof (BGH) im Revisionsverfahren das Hausverbot aufrecht erhielt, erhob die Klägerin im März 2006 Verfassungsbeschwerde.10 Wie bereits in den Vorinstanzen argumentierte auch der BGH mit der mangelnden Grundrechtsbindung der Aktiengesellschaft, ließ dabei aber offen, ob eine solche Bindung der Flughafengesellschaft die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben voraussetze. Der BGH bestritt vielmehr unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Recht, über den Ort der Versammlung selbst zu bestimmen, kein Nutzungsrecht begründe, wo dieses nicht bereits nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen besteht,11 jeglichen Anspruch der Klägerin auf Durchsetzung ihrer Meinungs- und/oder Versammlungsfreiheit, weil sie sich damit außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Flughafens begebe. Anders ausgedrückt: Wenn die Eigentümerin keine bzw. nur die genehmigte Meinungsfreiheit wünscht und dies in ihrer Hausordnung festschreibt, muss sie auch nichts anderes dulden. Angesichts der mit der Herstellung politischer Aufmerksamkeit immer verbundenen Irritation „in geschäftiger Routine“12 kann die Flughafengesellschaft dabei unterstützend immer auch eine drohende Störung „der Abwicklung des Flugverkehrs“ behaupten.
Die Katastrophe: Keine „,Wohlfühlatmosphäre‘
in einer reinen Welt des Konsums“
Im seinem Urteil stellte der Erste Senat des BVerfG fest,13 dass die Zivilgerichte, indem sie die Verbote der Flughafengesellschaft ohne Weiteres bestätigten, die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) verletzt haben. Damit hob es zugleich die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das AG Frankfurt a.M. zurück.
Beachtenswert ist das Urteil vor allem im Hinblick auf die rechtspolitische Neuausrichtung der Versammlungsfreiheit; bricht es doch mit gängigen dogmatischen Mustern, um den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auch auf private Bereiche auszudehnen. Dabei zeigt sich das Gericht überaus entscheidungsfreudig, äußert sich – ohne dazu durch den vorgelegten Fall verpflichtet zu sein – zu nahe liegenden Anschlussfragen und schreibt der Legislative damit so manche verfassungsrechtliche Maßgabe für die gesetzliche Neugestaltung des Versammlungsrechts in sein obiter dictum.
Knackpunkt der Entscheidung ist zunächst die Frage, inwieweit staatliche Hoheitsträger an Grundrechte gebunden bleiben, wenn sie in privatrechtlich organisierter Form am Wirtschaftsleben teilnehmen. Weiterhin geht es darum, ob und in welchem Umfang Versammlungen und Meinungskundgaben auch in privat(isiert)en Räumen geduldet werden müssen, wenn diese dem allgemeinen Publikumsverkehr offen stehen. Schließlich war die Frage zu beantworten, welche Anforderungen an eine grundrechtsbeschränkende Gesetzesgrundlage zu stellen sind, insbesondere ob sich diese im Falle der Versammlungsfreiheit auch aus dem Zivilrecht ergeben kann.
Die Katharsis: Keine Flucht ins Privatrecht!
An dem alten Grundsatz des öffentlichen Rechts, wonach die öffentliche Hand ihre Grundrechtsbindung nicht dadurch abschütteln kann, dass sie als zivilrechtlich organisierte Aktiengesellschaft in Erscheinung tritt, hält das BVerfG ohne Abstriche fest. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob der Staat nun 100 oder 51 Prozent der Anteile an dem Unternehmen hält. Maßgeblich sei vielmehr, ob er aufgrund seiner Gesellschafterstellung in der Lage ist, Einfluss auf das operative Geschäft der Firma zu nehmen. Eine unmittelbare Grundrechtsbindung ergebe sich dabei gerade für solche Unternehmen, die vom Staat wegen dessen Gesamtverantwortung „beherrscht“ würden. Bei ihnen handle es sich nicht um private Aktivitäten unter Beteiligung des Staates, sondern um staatliche Aktivitäten unter Beteiligung von Privaten. Diese Unternehmen seien bei der Entfaltung ihrer Aktivitäten daher „unmittelbar durch die Grundrechte gebunden und können sich umgekehrt gegenüber Bürgern nicht auf eigene Grundrechte stützen.“ (Rn. 54)
Hier muss der Staat also nicht erst mittels seiner Gesellschafteranteile auf die Geschäftsleitung einwirken, um die Durchsetzung von Grundrechten zu bewerkstelligen. Vielmehr ist das Unternehmen selbst grundrechtsverpflichtet, unabhängig von der Rechtsform, in der es in Erscheinung tritt. Solche staatlichen Aktivitäten sind damit nicht als „Ausdruck freier subjektiver Überzeugungen in Verwirklichung persönlicher Individualität“ zu verstehen, sondern als treuhänderische Aufgabenwahrnehmung für die Bürger_innen und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig (Rn. 48); so auch die zu 51 Prozent in öffentlicher Trägerschaft befindliche Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport AG. Sie muss bei ihrer Aufgabenwahrnehmung die Grundrechte der Bürger_innen beachten.
Durch die Grundrechtsbindung gewinnt diese Rechtsprechung Terrain gegenüber den privaten Teilhaber_innen zurück, die sich üblicherweise in weitgehender unternehmerischer Freiheit aus den Dividenden der privatisierten Staatsbetriebe befriedigen konnten, während Investitionskosten und Schulden üblicherweise auf die Steuerzahler_innen umgelegt und damit sozialisiert werden. Diese – so das BVerfG – würden daher durch die Grundrechtsbindung auch nicht übermäßig belastet, „denn ob sie sich an einem öffentlich beherrschten Unternehmen beteiligen oder nicht, liege in ihrer freien Entscheidung, und auch wenn sich die Mehrheitsverhältnisse erst nachträglich ändern, steht es ihnen wie bei der Änderung von Mehrheitsverhältnissen auch sonst frei, hierauf zu reagieren.“ (Rn. 55) – Es gilt also: Wer aus den Vorzügen staatlicher Unternehmensbeteiligung wirtschaftlichen Profit zieht, ist auch dessen Schranken unterworfen.
Die Aufklärung: Was ist ein öffentlicher Raum?
Wer eine Versammlung durchführen oder seine Meinung öffentlich kundtun will, erfährt dabei hinsichtlich der Auswahl von Inhalt, Ort, Zeit und Gestaltungsart grundrechtlichen Schutz.14 Das heißt aber nicht, dass damit automatisch ein Zutritts- oder Versammlungsrecht auch für Privatgrundstücke verbunden wäre.15 In Zeiten stetiger Verlagerung öffentlicher Begegnungs- und Kommunikationsräume von der Straße in Einkaufscenter und Ladenpassagen stellt sich indes die Frage, wohin der Protest noch getragen werden kann, um die politischen „Anliegen – gegebenenfalls auch in Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung [zu] bringen.“ (Rn. 64)
Bei der Beantwortung dieser Frage hat sich das BVerfG von der Rechtsprechung jener Gerichte inspirieren lassen, die schon länger mit dem Phänomen der Privatisierung öffentlicher Räume konfrontiert sind: den Verfassungsgerichtshöfen von Kanada16 und den USA17. Diese stellen schon seit den 1990er Jahren auf das Leitbild des öffentlichen Forums ab, das dadurch charakterisiert sei, „dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht.“ (Rn.70)
Was für Versammlungen auf öffentlichem Straßenland gilt, müsse entsprechend auch für Stätten gelten, die in ähnlicher Weise für den öffentlichen Verkehr geöffnet sind und an denen Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Dies gelte unabhängig davon, ob diese Flächen in öffentlicher oder privater Trägerschaft stehen, ob sie überdacht oder im Freien sind. Damit wird die Idee vom kommunikativen Gemeingebrauch der Straße, den der Staat nicht über Gebühr beschränken darf,18 auf den privaten Publikumsverkehr erstreckt.
Wann immer also ein Ort – egal mit welcher Intention (z.B. zum Zwecke des Konsums oder der Erholung) – zum öffentlichen Verweilen einlädt, kann er nicht nur ausschließlich für die unmittelbar erwünschten Tätigkeiten eröffnet, für andere, unerwünschte, aber geschlossen werden. Wer für seine kommerziellen Angebote mit Slogans wie „Airport Shopping für alle!“ wirbt, kann sich nicht ohne Weiteres gegen jegliche (politischen) Störfaktoren abschotten:

„Vielmehr besteht zwischen der Eröffnung eines Verkehrs zur öffentlichen Kommunikation und der Versammlungsfreiheit ein unaufhebbarer Zusammenhang: Dort wo öffentliche Kommunikationsräume eröffnet werden, kann der unmittelbar grundrechtsverpflichtete Staat nicht unter Rückgriff auf frei gesetzte Zweckbestimmungen oder Widmungsentscheidungen den Gebrauch der Kommunikationsfreiheiten aus den zulässigen Nutzungen ausnehmen: Er würde sich damit in Widerspruch zu der eigenen Öffnungsentscheidung setzen.“ (Rn. 68)
Das gelte selbst dann, wenn der Fiskus an diesen Unternehmen nicht beteiligt ist. In diesem Fall könnten Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten in Anspruch genommen werden. Das bedeutet zugleich, dass die Wahrnehmung von Eigentümerbefugnissen überall dort den Eigengesetzlichkeiten der öffentlichen Auseinandersetzung unterworfen ist und der Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 und 2 GG seine Grenze findet, wo mit Willen des Eigentümers ein allgemeiner Zugang für die Öffentlichkeit geschaffen wird und dadurch ein Forum gesellschaftlicher Auseinandersetzung entsteht. So auch am Frankfurter Flughafen,
„wo die Verbindung von Ladengeschäften, Dienstleistungsanbietern, Restaurationsbetrieben und Erholungsflächen einen Raum des Flanierens schafft und so Orte des Verweilens und der Begegnung entstehen. Werden Räume in dieser Weise für ein Nebeneinander verschiedener, auch kommunikativer Nutzungen geöffnet und zum öffentlichen Forum, kann aus ihnen gemäß Art. 8 Abs. 1 GG auch die politische Auseinandersetzung in Form von kollektiven Meinungskundgaben durch Versammlungen nicht herausgehalten werden. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet den Bürgern für die Verkehrsflächen solcher Orte das Recht, das Publikum mit politischen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Konflikten oder sonstigen Themen zu konfrontieren.“ (Rn. 70)
Noch deutlichere Worte finden sich an der Stelle der Urteilsbegründung, wo es um die Zulässigkeit einer Beschränkung der Meinungsfreiheit geht:
„Deshalb kann das Verbot des Verteilens von Flugblättern insbesondere auch nicht auf den Wunsch gestützt werden, eine ,Wohlfühlatmosphäre‘ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt. Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Unerheblich sind folglich Belästigungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden. Erst recht ausgeschlossen sind Verbote zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen allein deshalb zu unterbinden, weil sie von der Beklagten nicht geteilt, inhaltlich missbilligt oder wegen kritischer Aussagen gegenüber dem betreffenden Unternehmen als geschäftsschädigend beurteilt werden.“ (Rn. 103)
Damit ist der private, aber öffentlich zugängliche Bereich jedoch der Verfügungsbefugnis des Unternehmers keinesfalls entzogen. Wie auch bei staatlichen Verwaltungseinrichtungen bestimmte Bereiche für die Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind,19 gilt dies im besonderen Maße für privat betriebene Einrichtungen, „die der Allgemeinheit ihren äußeren Umständen nach nur zu ganz bestimmten Zwecken zur Verfügung stehen und entsprechend ausgestaltet sind.“ (Rn. 70) Wenn also auch öffentlich zugängliche Orte ausschließlich oder ganz überwiegend nur einer bestimmten Funktion dienen, kann dort gegen den Willen des Eigentümers keine Versammlung durchgesetzt werden. Bei Ladenpassagen und Flaniermeilen – so schiebt das BVerfG rasch hinterher – könne dies jedenfalls nicht angenommen werden, für den einzelnen Laden oder das Restaurant aber wohl schon.
Auf der Drehbühne: Offene Raumbegrenzung
Allerdings kann auch an Orten, an denen die Durchführung von Versammlungen nicht (generell) versagt werden darf, diese im Einzelfall auf der Grundlage eines entsprechenden Gesetzes untersagt werden, um unmittelbare, konkret nachweisbare Gefahren für elementare Rechtsgüter abzuwehren, die – wie Leib, Leben und Freiheit von Personen – der Versammlungsfreiheit gleichwertig gegenüberstehen. Als ein solches Gesetz zieht das BVerfG zunächst das als Bundesrecht erlassene Versammlungsgesetz von 1953 heran, das zwar nach der Föderalismusreform in vielen Bundesländern fortgilt (Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG), aber jederzeit durch Landesrecht ersetzt werden kann. Daneben könnten Eingriffe durch die Flughafenbetreiberin aber auch auf das privatrechtliche Hausrecht gemäß §§ 903 Satz 1 und 1004 BGB gestützt werden. Allerdings muss die Geltendmachung zivilrechtlicher Eigentümerbefugnisse als einseitig verbindliche Entscheidung einer in öffentlicher Hand befindlichen Betreibergesellschaft durch „legitime Gemeinwohlzwecke am Maßstab der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ gerechtfertigt werden (Rn. 58).
Nichtsdestotrotz überrascht die Möglichkeit zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit durch Bestimmungen des BGB zunächst. Gemäß Art. 8 Abs. 2 GG ist eine solche durch oder aufgrund eines Gesetzes nur für Kundgebungen und Demonstrationen unter freiem Himmel zulässig. Zudem müssen die auf dieser Grundlage geschaffenen (Eingriffs-)Gesetze nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG bewusst und ausdrücklich Regelungen zur Versammlungsfreiheit der Bürger_innen enthalten (bereichsspezifische Gesetzesermächtigungen und Zitiergebot), die hinreichend klar machen, unter welchen Umständen demonstrierende Bürger_innen durch welche Maßnahmen der Behörden in ihrer Versammlungsfreiheit oder in anderen Grundrechten beschränkt werden dürfen (Gebot der Normenklarheit).
All das sollte man für eine zivilrechtliche Regelung, die den Eigentümer berechtigt, vom Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung zu verlangen (wie z.B. § 1004 Abs. 1 BGB), kaum annehmen können und bleibt auch unbelegt. Schon die Anwendung des Tatbestandsmerkmals „Versammlungen unter freiem Himmel“ auf Proteste in überdachten Shopping-Centern oder auf Indoor-Kundgebungen in Flughäfen mag irritieren. Vor dem Hintergrund der Erweiterung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit auch auf private Räume ist dies jedoch nur konsequent. Zur Begründung wird auch hier das Leitbild des öffentlichen Forums herangezogen und insbesondere gegenüber Versammlungen in geschlossenen Räumen abgegrenzt, in denen „die Versammlungsteilnehmer unter sich und von der Allgemeinheit abgeschirmt bleiben“ (Rn. 77). Demgegenüber sei das Gefahrenpotential öffentlicher Foren ebenso wie bei Versammlungen unter freiem Himmel, bei denen Versammlungsteilnehmer_innen unmittelbar mit Dritten zusammen treffen und kontinuierlich Zulauf erhalten können, ungleich höher. Damit folgt das BVerfG im Wesentlichen dem Musterentwurf für ein neues Versammlungsgesetz des Arbeitskreises Versammlungsrecht20 und empfiehlt es mehr als deutlich dem Gesetzgeber zur baldigen Umsetzung.
Die Ironie: Ein Wolf im Schafspelz?
Moment mal, werden die Polizeirechtscracks sagen, wenn jetzt sogar das BGB eine zulässige Eingriffsgrundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG darstellen soll, ist damit doch auch der Uraltstreit darüber entschieden, ob neben dem VersG und der StPO auch noch andere Gesetze als Grundlage für hoheitliche Eingriffe herangezogen werden können, insbesondere die Polizeigesetze der Länder? – Doch weit gefehlt; das BVerfG weicht hier geschickt auf ein Nebengleis aus:
„Da die öffentliche Hand hier wie jeder Private auf die allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts zurückgreift, ihr also keine spezifisch hoheitlichen Befugnisse eingeräumt werden und sie ihre Entscheidungen grundsätzlich auch nicht einseitig durchsetzen kann, sind die sonst an Eingriffsgesetze zu stellenden Anforderungen zurückgenommen. […] Dies ist die Konsequenz dessen, dass der Staat überhaupt in den Formen des Privatrechts handeln darf.“ (Rn. 82)
Im Klartext heißt das: Wenn der Staat nicht als Hoheitsträger, sondern als Teilnehmer am Zivilrechtsverkehr, und damit als ein gegenüber anderen Teilnehmer_innen Gleichgestellter auftritt, unterliegt er nicht den sonst erforderlichen formellen Anforderungen für hoheitliches Eingriffshandeln. Er kann sich wie jeder andere Zivilist auch auf die für das bürgerliche Recht maßgeblichen Regelungen berufen, darf dabei jedoch die Gemeinwohlorientierung nicht aus den Augen verlieren.
Wie jetzt? Grundrechtsbindung des Staates auch bei Teilnahme im Zivilrechtsverkehr: Ja. – Unterworfenheit unter die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen für grundrechtsbeschränkendes Handeln: Nein? Auch diese Karlsruher Weichenstellung erscheint im Ergebnis nicht inkonsequent. Denn tritt die öffentliche Hand als Teilnehmerin an zivilrechtlichen Vertragsgestaltungen auf, fehlt es ihr ja gerade an hoheitlichen Einwirkungsbefugnissen. Die unmittelbare Grundrechtsbindung des privaten Unternehmens kompensiert also das Fehlen öffentlich-rechtlicher Eingriffsgrundlagen auf die gesellschaftsrechtlich neutrale Vertragsgestaltung, die für den Fiskus in der Regel wenig durchsetzungsfähige Einwirkungsmöglichkeiten gegenüber der Geschäftsführung zulässt (vgl. nur § 119 Abs. 2 AktG).21 Zugleich hat das BVerfG deutlich gemacht, dass der Rückgriff auf zivilrechtliche Bestimmungen allenfalls zusätzlich und lediglich generalisierend erfolgen darf. Polizeiliche Eingriffe und versammlungsbeschränkende Entscheidungen dürfen daher auch in öffentlich zugänglichen Privateinrichtungen (weiterhin) nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes oder der StPO erfolgen.

Daher sind auch Demonstrationen im Flughafen bei der Versammlungsbehörde anzumelden, die ihrerseits zwar „die Flughafenbetreiberin als Betroffene grundsätzlich einzubeziehen und gegebenenfalls deren Einschätzungen zu berücksichtigen“ hat, sachlich aber „allein an die Vorgaben der für sie selbst geltenden Ermächtigungsgrundlagen – und damit vorrangig an das Versammlungsgesetz – gebunden“ bleibt (Rn. 83). Demgegenüber sind Private darauf beschränkt, die Nutzungsbedingungen ihrer Einrichtungen z.B. in Flughafenbenutzungsordnungen abstrakt-generell zu regeln, soweit sie dabei die Ausübung von Versammlungen und Meinungskundgaben lediglich nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Anforderungen auf die räumlichen Gegebenheiten und insbesondere an die spezifischen Funktionsbedingungen und Gefahrenlagen transparent anpassen.
Die Moral: Nur ein Anfang!?
Zukünftig müssen antirassistische Gruppen also keine Strafanzeige mehr befürchten, wenn sie auf dem Frankfurter Flughafen Flyer verteilen und Fluggäste informieren. Bei ordnungsgemäßer Anmeldung ist die Flughafengesellschaft sogar verpflichtet, ihnen dafür einen angemessenen und öffentlich wahrnehmbaren Platz zur Verfügung zu stellen. Jedenfalls so lange wie hierdurch nicht die Störanfälligkeit des Flughafens „in seiner primären Funktion als Stätte zur Abwicklung des Luftverkehrs“ außer Verhältnis in Anspruch genommen wird (Rn. 91). Dringend ausprobierenswürdig erscheint die Durchführung entsprechender Aktionen in rein privaten Konsum Centern, z.B. den Potsdamer Platz Arkaden in Berlin.22
Über die Störanfälligkeit öffentlicher Anlagen kann indes im Einzelfall noch kräftig gestritten werden. Das beweist schon das Minderheitenvotum des Verfassungsrichters Wilhelm Schluckebier, der den Zerriss dieser progressiven Rechtsprechung nicht den Staatsrechtslehrern überlassen wollte. Mit Verweis auf die an Flughäfen durch kleinere Störungen drohenden Kettenreaktionen im internationalen Flugverkehr und die „weitgehende Unausweichlichkeit beeinträchtigender Folgen für eine außergewöhnlich große Zahl von Flugreisenden und damit anderen Grundrechtsträgern“ beschwört er ein Friedensgebot durch politischen Grundrechtsverzicht der Protestierenden (Rn. 126). Die gleiche Argumentation könnte freilich auch für ein Verbot von Demonstrationen auf vielbefahrenen Straßen oder von Streikmaßnahmen zum Tragen kommen. Dabei hängt der Erfolg jeglichen Protests doch wesentlich davon ab, irgendjemanden zu stören. In einer lebendigen Demokratie findet kreativer Protest daher erst dort seine Grenzen, wo andere nicht lediglich nur gestört, sondern in ihren geschützten Rechtsgütern konkret gefährdet werden.
Der Leitgedanke des öffentlichen Forums wirft hingegen, neben einer Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch dessen Politisierung, wie sie nicht nur in Inszenierungen des Weltelends, sondern auch in einer hedonistischen Reclaim-the-street- Party denkbar und schutzwürdig ist, noch ganz andere Assoziationen auf. So ließe sich der Forumsgedanke auch auf soziale Netzwerke und öffentliche Protestaktionen beziehen, die zwar öffentlich wahrnehmbar, aber ganz privat stattfinden: Online-Demos zum Beispiel.23 Auch hier war die Abschiebepraxis am Frankfurter Flughafen bereits 2001 Paradebeispiel für virtuelle Versammlungen und Anlass zur Strafverfolgung der Aktivist_innen (in diesem Fall der Initiative Libertad!), die vom Vorwurf der Anstiftung zur Nötigung und Datenmanipulation zwar letztlich freigesprochen wurden,24 aber Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen zu dulden hatten.
Solche virtuellen Foren hatte das BVerfG jedoch wohl eher nicht im Sinn, wenn es unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung davon ausgeht, dass Demonstrationen in ihrer idealtypischen Ausformung „gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen“ seien. Dabei fällt auf, dass die weiteren Definitionsmerkmale ebenso gut auch auf Onlineforen zutreffen könnten, wenn es darum gehen soll, dass „die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.“ (Rn. 63)
In dem Maße wie sich der öffentliche Raum an andere Orte, wie Einkaufscenter oder auch in das Internet verlagert, wird ihm der öffentliche Protest folgen und sich damit von seinem verfassungsmäßigen „Idealtypus“, „nach dem Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen“25, zu anderen Formen weiterentwickeln. Idealtypische Ausformungen der Versammlungsfreiheit werden dann weniger als Leitbild denn als Urbild in Erinnerung bleiben. Das Recht jedoch folgt in der Regel der Tat.
Epilog: Wirkung und Rezeption des Urteils
Es mag überraschen, dass ein Zerriss der Entscheidung in der rechtswissenschaftlichen Literatur, die sonst nicht mit Kritik spart, wann immer Karlsruhe ein beliebiges Verfahren für staatspolitische Dezisionen im obiter dictum nutzt,26 ausgeblieben ist.27 Zwar werden hier und dort Zweifel an der Tauglichkeit und dogmatischen Notwendigkeit der Figur des öffentlichen Forums geäußert,28 die parallele Zuständigkeit von Hausrechtsinhaber_in und Versammlungsbehörde sowie die gegen den Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 GG vom BVerfG für „verfassungsrechtlich unbedenklich“ gehaltene privatrechtliche Anzeigepflicht von Versammlungen und Meinungskundgaben (Rn. 89, 92) dogmatisch bestritten,29 die Tauglichkeit des privaten Hausrechts als ausreichende Grundrechtsbeschränkung in Zweifel gezogen30 und prognostiziert, dass diese in das Belieben des Eigentümers gestellte Beschränkungsmöglichkeit in der Praxis dazu führen dürfte, dass von der eben erst auf den Privatbereich erstreckten Versammlungsfreiheit „faktisch nicht mehr viel übrig“ bleibt,31 weshalb der Landesgesetzgeber ihren Inhalt und die Grenzen ihrer Ausübung versammlungsrechtlich regeln sollte.32 Nichtsdestotrotz wird die bei Gelegenheit der versammlungsrechtlichen Fallgestaltung zum Anlass genommene grundlegende Klärung der Grundrechtsbindung formell privatrechtlich agierender öffentlicher Verwaltungsträger und die (Mit-)Indienstnahme (tatsächlich) privater Anteilseigner_innen in gemischtwirtschaftlichen Unternehmen allgemein goutiert,33 als konsequente Kehrseite der für die staatliche Beteiligung ohnehin fehlenden Grundrechtsfähigkeit angesehen,34 nicht selten sogar als überfällig gefeiert.35 Hingegen wird das Urteil in versammlungsrechtlicher Hinsicht nicht als ein „grundstürzender Neuanfang“ angesehen,36 sondern als Fortführung einer seit dem Brokdorf-Beschluss konsistenten, im Übrigen zwischen den wandlungsfähigen Ansprüchen an einen liberalen „Zeitgeist“ und der Pragmatik einer Rechtskollisionen vermeidenden „Staatsräson“ um Ausgleich bemühten Verfassungsrechtsprechung gewertet.37
Mit großer Spannung wurde dabei über die Ausstrahlungswirkung des Urteils38 auf die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung spekuliert: Worauf wird das den Anspruch auf Zutritt eröffnende Tatbestandsmerkmal vom „Leitbild des öffentlichen Forums“, auf dem „eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann“, so dass „ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht“ (Rn. 70), angewendet werden? – Wie weit reicht die auf das private Hausrecht gestützte Möglichkeit zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit und welche Anforderung an deren Rechtfertigung werden gestellt? – Welche Auswirkungen hat die obiter dictum fallengelassene Bemerkung (Rn. 56), dass Private – etwa im Wege mittelbarer Drittwirkung von Grundrechten – auch ganz ohne Staatsbeteiligung „unbeschadet ihrer eigenen Grundrechte ähnlich oder auch genauso weit durch die Grundrechte in Pflicht genommen werden“ können wie staatlich beherrschte Unternehmen, „insbesondere wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat“?
In der anfänglichen Irritation über die Spannweite der vom BVerfG aufgestoßenen Türen zum öffentlich genutzten Privatbesitz genügte es so mancher privatisierungskritischen Initiative, das Urteil ausgedruckt vor sich her zu tragen, wenn sie ihren Protest an die Orte des Geschehens (z.B. den Bahnhof Alexanderplatz) trugen, um damit die privaten Sicherheitsdienste zu beeindrucken und eine Duldung ihrer Aktionen zu erreichen. Auch in umgekehrter Richtung schienen die vermeintlichen Vorteile der noch im gleichen Jahr von der Stadt Hamburg vorangetriebenen Privatisierung des Bahnhofsvorplatzes und die Erstreckung der Bahnhofshausordnung auf das (vormals) öffentliche Straßenland an Bedeutung zu verlieren. Und in Berlin blieb selbst im Vorweihnachtstrubel die sonst alljährlich erhobene Forderung nach einem Versammlungsverbot für die als hochpreisige Flaniermeile und gern genutzte Demonstrationsroute bekannte Friedrichstraße aus.39
Gleichwohl ließen die ersten Judikate nicht lange auf sich warten:40 Den Anfang machte das OLG Schleswig-Holstein, das kaum drei Tage nach der Urteilsverkündung des BVerfG in dessen neuer Rechtsprechung keinen Grund zu erkennen vermochte, den einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn (DB AG) als Netzbetreiberunternehmen zugesprochenen Schadensersatzanspruch gegen „eine langjährig aktive Antimilitaristin“ wegen einer Gleisblockade im Februar 2008 in Zweifel zu ziehen.41 Die Grundrechtsbindung des Unternehmens könne nicht weiter reichen als vor seiner Privatisierung. Daher sei die Bahn nach wie vor auf ihren Beförderungsauftrag beschränkt.42 Zum anderen sei die „die im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB widerrechtliche Aktion“ nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt, wie diese auch keine Verhaltensweisen rechtfertige, die dem Einzelnen verboten sind. Allein die Form einer Versammlung gebe einem Versammlungsteilnehmer nicht das Recht, im Rahmen der Versammlung Dinge zu tun, die er als Einzelner nicht tun du?rfe.
Auch um die Zulässigkeit von Versammlungen in Flughäfen wurde bald wieder gestritten: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof durchkreuzte den Versuch des Landratsamtes, dem Bayerischen Flüchtlingsrat eine Demonstration in dem für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffneten Bereich des Terminal 2 des Münchener Flughafens zu verbieten.43 Für das behördlich verfügte Teilverbot forderte er klare Nachweise über von der Versammlung herrührenden unmittelbare Gefährdungen und ließ angesichts der vom BVerfG aufgestellten „strengen Anforderungen“ „bloße Vermutungen ohne das Vorliegen hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte“ nicht genügen. Ebenso strenge Anforderungen stellten die Verwaltungsgerichte in Frankfurt am Main, als sich das Blockupy-Bündnis im Mai 2013 mit mehreren hundert Menschen anschickte, im Terminal 1 des Flughafens Frankfurt gegen Abschiebungen zu protestieren. Sie hoben eine entsprechende Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums auf, beschränkte jedoch die Zahl der Teilnehmer_innen.44
Schließlich war es im Juni 2015 wieder Sache des für das private Grundstücksrecht zuständigen 5. Zivilsenats des BGH,45 das Demonstrationsrecht aus dem Terminal heraus zurück auf die Straße und damit weg vom Konsum zu tragen – wohlgemerkt auf eine Privatstraße innerhalb des Betriebsgeländes des Flughafens Berlin-Brandenburg in Schönefeld. Die zivilrechtlichen Vorinstanzen hatten die Klage der Ordensleute gegen Ausgrenzung, mit der sie die Duldung ihrer Versammlungen vor dem Cargo-Center durchsetzen wollten, mit der Begründung abgelehnt, es handle sich nicht um einen Ort der als öffentlicher Kommunikationsraum dem Leitbild des öffentlichen Forums entspräche. Dem folgte der BGH nicht: Orte der allgemeinen Kommunikation entstünden nicht dadurch, dass sich in ihnen eine zum Verweilen und Flanieren einladende Fußgängerzone befinde. Unzweifelhaft verbürge die Versammlungsfreiheit die Durchführung von Versammlungen „auf öffentlichem Straßenraum als dem Leitbild des öffentlichen Forums“. Maßgeblich sei daher allein, „dass das Straßennetz des Betriebsgeländes – wie der öffentliche Straßenraum – allgemein und ohne Einschränkung dem Publikum geöffnet ist und es dadurch die Bedingungen bietet, um Forderungen einem allgemeinen Publikum zu Gehör zu bringen und Protest oder Unmut ,auf die Straße zu tragen‘.“
Große Schwierigkeiten hatte hingegen das VG Stuttgart, die Kopfbahnsteighalle des symbolträchtigen städtischen Hauptbahnhofs als öffentliches Forum zu subsumieren. Entsprechende Versammlungsverbote für die „Montagsdemos gegen Stuttgart 21“, die im Frühjahr 2012 und im November 2014 durch den Bahnhof marschieren oder sich darin versammeln wollten, hielt das Gericht – mit dem Hinweis auf die konkreten baulichen und funktionsspezifischen Besonderheiten und den sich daraus ergebenden Gefährdungen – aufrecht.46
Was der Erste Senat des BVerfG in seinem Fraport-Urteil über die mittelbare Grundrechtsbindung von Privatunternehmen ohne Staatsbeteiligung nur am Rande angedeutete hatte, konnte schließlich dessen dritte Kammer im Juli 2015 ausbuchstabieren:47 Auf ihre Anordnung hin durfte in Passau, auf dem in rein privatem Eigentum stehenden Nibelungenplatz, ein viertelstündiger „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ stattfinden, bei dem Teilnehmer_innen auf das Kommando „Für die Freiheit – trinkt AUS!“ jeweils eine Dose Bier öffneten und schnellstmöglich leer tranken. Es folgten Redebeiträge zum Verlust des staatlichen Gewaltmonopols durch den zunehmenden Einsatz privater Sicherheitsdienste und die damit verbundene Beschränkung von Freiheitsrechten. Auch wenn die GmbH & Co. KG nicht wie die staatliche Gewalt unmittelbar an Grundrechte gebunden sei, so das BVerfG, sei die Versammlungsfreiheit im Wege der mittelbaren Drittwirkung nach Maßgabe einer Abwägung zu beachten. Dabei bestimme sich die Reichweite dieser Bindung nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz in Ausgleich der sich gegenüberstehenden Grundrechte: Das Hausverbot mache den Veranstalter_innen die Durchführung ihrer Versammlung unmöglich. Eine gleichwertige Beeinträchtigung von Eigentumsrechten sie demgegenüber nicht zu erkennen, zumal die Beeinträchtigung nur von kurzer Dauer sei, der Veranstalter zugesichert habe, entstehenden Müll selbst zu entsorgen und sich um alkoholisierte Personen durch eingesetzte Ordner_innen zu kümmern. Der thematische Bezug zum Versammlungsort sei evident, die Versammlung könne deshalb auch nicht ebenso gut an anderer Stelle stattfinden.
Neben der dogmatischen Kritik wurde in der Literatur schließlich auch der theoretische und gesellschaftspolitische Hintergrund der Fraport-Entscheidung beleuchtet: Jan Phillip Schaefer tat dies z.B., indem er das Urteil angesichts des in Folge der Privatisierung öffentlicher Räume fortschreitenden „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ treffend als „Aktivierung des Bürgers“ würdigte.48 Unter den Bedingungen des Gewährleistungsstaates würden die Grundrechte den Bürger_innen an die Hand gegeben, „um [dessen] Gewährleistungsauftrag entweder zu unterstützen bzw. zu ergänzen oder, falls die Rechtsposition des Grundrechtsträgers hierfür zu schwach ausgeprägt ist, die staatliche Gewährleistungsverantwortung zu aktivieren.“49 – Ein Gedanke, der sich freilich auch auf andere Bereiche ausdehnen ließe, in denen der/die Einzelne eigene oder allgemeine Interessen gegen mächtige Organisationen durchsetzen muss (z.B. im Datenschutz).
Indes, so wird eingewandt, werde der Begriff der Öffentlichkeit schon seit dem kantischen Ideal „einer Gesellschaft mündiger Bürger“ – typisch deutsch – als ein Raum des räsonierenden Bürgers (d.h. männlich, weiß, vermögend, nicht beeinträchtigt usw.) idealisiert, in dem die vernünftige Entscheidung als weitgehend unpolitische, möglichst unkontroverse Politik heranreift. Was die Verwaltungs(rechts)wissenschaft als „regulierte Selbstregulierung“ rezipiert habe, finde seit dem Lüth-Urteil auch in der Rechtsprechung des BVerfG „als liberaler Etatismus“ seinen Ausdruck,50 etwa wenn im Brokdorf-Beschluss von einer demokratischen Funktionalität der Meinungsfreiheit und von einer den demokratischen Repräsentativgedanken ergänzenden Funktion der Versammlungsfreiheit die Rede ist.51
Vor diesem ideologischen Hintergrund ist das Versammlungsgesetz bis heute noch „als negatives Statusrecht“52 einem eher antiquierten Öffentlichkeitsbegriff verhaftet, in dem Begriffe wie „öffentliche Ordnung“ (z.B. in § 15 VersG) Konformitätspflichten auslösen und damit einen „Raum der Zumutungen“53 verunmöglichen, der zum Weiterdenken anregen kann. Von daher ist die Deutlichkeit anzuerkennen, mit der das BVerfG in der Fraport- und in der Flash-Mob-Entscheidung den „grundrechtskonformen Öffentlichkeitsbegriff von moralisch-sittlichen Implikationen frei“ hält.54 Beide Beschlüsse öffnen die Versammlungsfreiheit für Protestformen, die nach den Love- und Fuck-Parade-Beschlüssen in Verruf geraten schienen.55

MICHAEL PLÖSE  studierte Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, war dort im arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen (akj-berlin) aktiv. Seit 2007 Lehrbeauftragter für Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der HUB, seit 2010 auch an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (Fachbereich 5 – Polizei und Sicherheitsmanagement). Er promoviert mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung bei Prof. Rosemarie Will zur „Sicherheitsrechtsprechung des BVerfG vor und nach dem 11. September 2001“. Kontakt: ploese@rewi.hu-berlin.de

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