Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 214: Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung

Europa: Schutz oder Abwehr von Flücht­lin­gen?

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 10-20

Spätestens seit dem vergangenen Jahr ist die Flüchtlingsdebatte in der Mitte Deutschlands angekommen. Doch was sind die Voraussetzungen, damit hier ankommende Menschen überhaupt als Flüchtlinge anerkannt werden? Welche grundlegenden Rechte haben sie derzeit in Deutschland und der EU – und was ist mit jenen, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden? Die rechtlichen und politischen Grundlagen des Flüchtlingsschutzes erläutert der Beitrag von Wolfgang Grenz.

Mit dem starken Anstieg der Zahl der Asylsuchenden im Sommer und Herbst 2015 ist die Flüchtlingspolitik eines der wichtigsten politischen Themen in Deutschland und anderen europäischen Ländern geworden. Um den „Flüchtlingsstrom“ zu stoppen oder zu begrenzen, wurde die Balkanroute geschlossen und eine Vereinbarung der EU mit der Türkei geschlossen, wonach diese irregulär nach Griechenland eingereiste Migranten, Menschen, die kein Asyl in Griechenland beantragt haben, und Menschen, deren Asylantrag abgelehnt worden ist, zurücknimmt. Im Gegenzug sollen bis zu 72.000 syrische Flüchtlinge, die in der Türkei Zuflucht gesucht haben, von den Mitgliedstaaten der EU nach einem Verteilungsschlüssel aufgenommen werden. Nach diesem Schlüssel sollen von Deutschland 15.100 Syrer aufgenommen werden. Während die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien die Vereinbarung mit der Türkei als rechtmäßig ansehen, kritisieren Menschenrechtsorganisationen und Unterstützergruppen den „Deal“ der EU mit der Türkei als eine Verletzung der Standards des internationalen Flüchtlingsrechts.

Anspruch von Schutz­su­chenden auf Zugang zu einem fairen Asylver­fahren

Um beantworten zu können, ob eine solche Verletzung vorliegt, bedarf es zunächst einer Klärung der Frage, ob Schutzsuchende einen Anspruch auf Aufnahme in einem bestimmten Land haben. In Diskussionen berufen sich Flüchtlinge und ihre Unterstützer/innen gelegentlich auf das Menschenrecht auf Freizügigkeit, das es allen Menschen erlaube, sich in einem Land ihrer Wahl aufzuhalten. Bei der Frage, wann ein Menschenrecht gegeben ist, ist es sinnvoll, sich am Katalog der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 aufgeführten Rechte zu orientieren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist zwar rechtlich nicht verbindlich, wohl aber moralisch. Sie stellt den von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannten Katalog der Menschenrechte dar.

In Artikel 13 AEMR ist das Menschenrecht auf Freizügigkeit enthalten. Eine Berufung auf Art. 13 AEMR für die Einreise und den legalen Aufenthalt in einem bestimmten Land greift aber nicht. In Art. 13 Absatz 2 AEMR heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich sein eigenes, zu verlassen, sowie in sein Land zurückzukehren“. Die Freizügigkeit bezieht sich damit nur auf die Ausreise aus dem eigenen Land und das Recht auf Rückkehr. Eine Bestrafung wegen „Republikflucht“ oder eine Ausbürgerung gegen den Willen der Betroffenen stellt eine Verletzung des Menschenrechts auf Freizügigkeit dar, nicht aber die Verweigerung der Einreise ausländischer Staatsangehöriger. Im Völkerrecht gilt weiterhin das Prinzip der Staatensouveränität. Ein Staat kann selbst entscheiden, wen er aufnehmen und ein Aufenthaltsrecht gewähren will.

Auch eine Berufung auf Artikel 14 AEMR führt nicht zu einem Anspruch auf Einreise in ein bestimmtes Land, um dort Schutz zu suchen. Dort heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern Asyl vor Verfolgung zu suchen und zu genießen.“ Verfolgte haben damit das Recht, in anderen Ländern Schutz vor Verfolgung zu suchen, und – wenn sie den Schutz erhalten haben – die ihnen dort zustehenden Rechte wahrzunehmen. Artikel 14 enthält aber keinen Anspruch, in einem bestimmten Land Schutz zu erhalten.  Damit gewährt Artikel 14 AEMR weniger ein „Menschenrecht auf Asyl“, als vielmehr ein „Menschenrecht auf Asylsuche“.

Das Refou­le­ment- Verbot

Das Prinzip der Staatensouveränität, nach dem ein Staat selbst entscheiden kann, wem er Einreise und Aufenthalt gewähren will, wird aber durch die Standards des internationalen Flüchtlingsrechts durchbrochen. So heißt es in Artikel 33 Absatz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951: „Keiner der Vertrag schließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“ Zu einer Aufnahme eines Flüchtlings verpflichtet das Zurückweisungsverbot (im internationalen Sprachgebrauch das Gebot des „non-refoulement“ vom französischen refouler) nicht direkt. Doch das Zurückweisungsverbot des Artikel 33 Absatz 1 GFK kann zur Folge haben, dass ein Staat einen Flüchtling aufnehmen muss. Reist ein Flüchtling direkt aus einem Staat ein, in dem ihm oder ihr Verfolgung droht, darf er oder sie dorthin nicht zurückgeschickt werden. Gleiches gilt, wenn nicht gewährleistet ist, dass ein anderer Staat den Flüchtling vor Abschiebung dahin schützt, wo ihm oder ihr Verfolgung droht.

Das Verbot des „non-refoulement“ greift nicht erst ab dem Zeitpunkt der behördlichen Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Es hat eine Vorwirkung. Wenn jemand an die Grenzen eines Landes kommt und sich dahingehend äußert, dass er oder sie Flüchtling ist und deshalb um Schutz nachsucht, gilt das Zurückweisungsverbot so lange, bis nach einem fairen Verfahren entschieden worden ist, dass diese Person die Kriterien der Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt.

Für die Stellung eines Asylantrags ist in Europa ein Territorialkontakt erforderlich. Ein Asylantrag kann an der Grenze eines Landes oder im Land gestellt werden. Eine Asylantragstellung in einer Botschaft ist nicht möglich. Allerdings könnte eine deutsche Botschaft den Schutzsuchenden durchaus aus politischen oder humanitären Gründen ein Einreisevisum für Deutschland ausstellen, damit sie dann in Deutschland einen Asylantrag stellen können. In der Praxis wird ein solches Visum äußerst selten erteilt.

Menschen­rechte gelten auch auf „Hoher See“

Eine Asylantragstellung ist auch auf See innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone möglich, die zum Territorium eines Landes gehört. Umstritten war lange Zeit, wie Aufgriffe auf „Hoher See“, also außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone, zu bewerten sind. Fraglich war, ob in diesen Fällen auch das Zurückschiebungsverbot nach Artikel 33 GFK gilt. Zu dieser Frage hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Verfahren Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien am 23.2.2012 eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung getroffen. Folgender Fall lag dem Verfahren zugrunde: Eine Gruppe von 227 somalischen und eritreischen Staatsangehörigen versuchte im Mai 2009 von Libyen aus, Italien in drei Booten zu erreichen. Die italienische Grenzpolizei und die Marine griffen sie außerhalb des italienischen Hoheitsgebiets auf „Hoher See“ auf und brachten sie, obwohl sie erklärten, Flüchtlinge zu sein, nach Libyen zurück. Grundlage für dieses Vorgehen war ein zwischen den damaligen Regierungschefs Berlusconi und Ghaddafi geschlossener “Freundschaftsvertrag“. Danach verpflichtete sich Libyen, von dort losgefahrene irreguläre Migranten, die von den italienischen Behörden abgefangen worden waren, wieder zurückzunehmen.  Als Gegenleistung erhielt Libyen eine finanzielle Unterstützung für die Grenzsicherung. Im konkreten Fall wurden die Somalis und Eritreer in Libyen inhaftiert. Nach ihren Angaben wurden sie in der Haft misshandelt und in Einzelfällen gefoltert. Nach einigen Wochen Haft wurden sie freigelassen und an die libysche Grenze ohne Versorgung abgesetzt. Zwei französische Journalisten waren bei der Aktion der italienischen Grenzpolizei mitgefahren und verfolgten den Fall weiter. So konnte ihr Fall dokumentiert werden. 24 dieser Flüchtlinge erhoben Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen Italien.

Der EGMR gab ihrer Klage statt und verurteilte Italien zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 15.000 € an jeden der Kläger wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch auf „Hoher See“ gebe es keinen rechtsfreien Raum. Da die Flüchtlinge auf ein Schiff mit italienischer Flagge verbracht worden seien, gälten die gleichen Regeln wie auf dem Festland. Das Gericht wies damit die Argumentation der italienischen Regierung zurück, die vorgetragen hatte, dass die Marine die in Seenot geratenen Flüchtlinge gerettet habe, bei dieser Aktion aber keine Hoheitsrechte ausgeübt hätte. Das Gericht erkannte auf eine Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, da die Flüchtlinge in Libyen in eine Situation verbracht worden seien, in der ihnen unmenschliche Behandlung drohte. Flüchtlinge und illegale Einwanderer würden dort systematisch inhaftiert und misshandelt. Zudem drohte ihnen, ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe in ihre Herkunftsstaaten zurückgeschickt zu werden, obwohl ihnen auch dort eine unmenschliche Behandlung drohte. Beide Gefahren hätte den italienischen Behörden bekannt sein müssen.

Anspruch von Asylsu­chenden auf Zugang zu einem fairen Verfahren

Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass das Prinzip der Staatensouveränität, nach dem ein Staat entscheiden kann, wen er in sein Staatsgebiet einreisen lässt und ein Aufenthaltsrecht erteilt, durch den Grundsatz des „Non-Refoulement“ durchbrochen wird. Wenn jemand an der Grenze oder bereits im Land einen Schutzantrag als Flüchtling stellt, dann hat er oder sie einen Anspruch auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren. Dies gilt auch, wenn die Behörden außerhalb ihres Hoheitsgebiets auf „Hoher See“ Menschen aufgreifen und damit Hoheitsgewalt ausüben.

Ein faires Verfahren zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass das Vorbringen der Schutzsuchenden unvoreingenommen gründlich oder sachlich überprüft wird. Sollte die Behörde in der Anhörung Widersprüche feststellen, dann müssen diese den Asylsuchenden vorgehalten werden, damit eventuelle Missverständnisse geklärt werden können. Es geht zum Beispiel nicht an, dass Widersprüche im Vorbringen der Asylsuchenden von der Anhörerin bzw. dem Anhörer gesehen, aber nicht angesprochen werden und dann im ablehnenden Bescheid als Begründung für die Ablehnung des Asylantrags angeführt werden. Bei der Entscheidung über einen Asylantrag muss neben dem individuellen Vorbringen der Antragsteller auch die aktuelle Menschenrechtssituation im Herkunftsland der Antragsteller eine entscheidende Rolle spielen. Dabei reicht es nicht aus, sich nur auf Auskünfte staatlicher Stellen zu verlassen, auch die Auskünfte wissenschaftlicher Institute und von Menschenrechtsorganisationen sollten herangezogen werden. Gegen eine ablehnende Entscheidung muss die Einlegung eines effektiven Rechtsmittels bei einer von der ersten Instanz unabhängigen zweiten Instanz möglich sein. Leider halten sich viele Staaten nicht an diese Vorgaben. Es erfolgen Zurückweisungen an den Grenzen oder bereits im Land ohne Überprüfung der Fluchtgründe oder die Überprüfung der Fluchtgründe entspricht aus Voreingenommenheit oder fehlender sachlicher Kenntnisse nicht den genannten Kriterien für ein faires Verfahren.

Schließung der Grenzen?

Der starke Zugang von Asylsuchenden nach Europa und auch in die Bundesrepublik Deutschland hat zu Einschränkungen des Schutzes von Flüchtlingen geführt. Darüber hinaus sind weitere Vorschläge gemacht worden, um den Zuzug von Flüchtlingen zu begrenzen. Diese sind auf ihre Vereinbarung mit den dargelegten Standards des Flüchtlingsrechts zu überprüfen.

So ist in Deutschland von der CSU und anderen Parteien eine Schließung der Grenzen gefordert worden, um Asylsuchende gar nicht nach Deutschland hereinzulassen. Eine Zurückweisung an der Grenze ohne Durchführung eines fairen Asylverfahrens würde einen Verstoß gegen den Grundsatz des „Non-Refoulement darstellen.  Allerdings würde es nicht gegen diesen Grundsatz des „Zurückweisungsverbots“ von Flüchtlingen verstoßen, wenn die Rückschiebung ohne inhaltliche Prüfung in einen „sicheren Drittstaat“ erfolgt, über den die Flüchtlinge eingereist sind. Sichere Drittstaaten sind zum einen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Aber auch andere Staaten können „sichere Drittstaaten“ sein. In ihnen muss die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt sein. Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der EU wird die Drittstaatenregelung von der Dublin-III-Verordnung überlagert, die die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren regelt. In der Regel ist der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, den die Asylsuchenden als ersten Staat in der EU betreten haben. Das hat in der Praxis zur Folge, dass kaum Rückschiebungen in Nachbarländer wie z.B. Belgien oder Österreich erfolgen, da die Einreise über diese Nachbarländer nicht bedeutet, dass die Asylsuchenden diese Länder als erste innerhalb der EU betreten haben. Im Falle einer Zurückweisung an der deutschen Grenze in die Nachbarländer würden sich diese dagegen wehren, da sie in den meisten Fällen nicht die für die Durchführung der Asylverfahren zuständigen Länder wären.

Anders verhält es sich im Verhältnis von Staaten, die nicht Mitglieder der EU sind, zu EU-Mitgliedstaaten. Mazedonien hat die Grenze gegenüber Menschen, die über Griechenland in andere EU-Mitgliedstaaten weiterreisen wollten, geschlossen. In Bezug auf Menschen, die kein Asyl in Mazedonien beantragen wollten, wäre die Verweigerung ihrer Einreise rechtlich aufgrund des Prinzips der Staatensouveränität nicht zu beanstanden gewesen. Bei Menschen, die in Mazedonien einen Asylantrag hätten stellen wollen, wäre eine Zurückweisung nur möglich gewesen, wenn Griechenland ein sicherer Drittstaat wäre. Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg kamen im Jahre 2011 zum Ergebnis, dass Griechenland Asylsuchenden kein faires Asylverfahren bietet und die Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden dort nicht den menschenrechtlichen Standards entsprechen. Deshalb haben beide europäischen Gerichtshöfe Abschiebungen nach Griechenland als dem nach der Dublin-III-Verordnung eigentlich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat untersagt. Bis jetzt überstellt auch die Bundesrepublik aus diesen Gründen Asylsuchende nicht nach Griechenland, würde dies aber gerne ändern.

Die Verein­ba­rung der EU mit der Türkei

Durch die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei vom 18. März 2016 hat sich die Türkei verpflichtet, alle in Griechenland ankommenden Asylsuchenden wieder zurück zu nehmen. In Griechenland wird im Asylverfahren vorausgesetzt, dass die Türkei ein „sicherer Drittstaat“ ist. Die Kriterien eines „sicheren Drittstaats“ erfüllt die Türkei aber nicht. Zwar hat die Türkei rund drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. In der Türkei gibt es aber erst seit zwei Jahren ein nationales Asylrecht. Das noch sehr junge Asylsystem in der Türkei ist mit Hunderttausenden von Asylanträgen überfordert. Das Verfahren weist große Mängel auf und kann daher nicht als ein faires Asylverfahren bezeichnet werden. Es fehlen zudem angemessene Unterbringungsmöglichkeiten und Integrationsmaßnahmen. Flüchtlingen wird dadurch kein angemessener Schutz geboten. Hinzu kommt, dass Amnesty International, Pro Asyl und Human Rights Watch mehrere Fälle von rechtswidrigen Abschiebungen von Flüchtlingen aus der Türkei nach Syrien, in den Irak und nach Afghanistan dokumentiert haben. In diesen Fällen erfolgte die Abschiebung ohne eine Überprüfung der Fluchtgründe. Der Bundesregierung passen die dokumentierten Berichte über rechtswidrige Abschiebungen aus der Türkei überhaupt nicht. Nachdem sie zunächst die dokumentierte Fälle bestritten hat, erklärte sie sie für nicht verifizierbar. Allerdings ließ sie nicht erkennen, dass sie sich überhaupt bemüht hatte, diese Fälle zu überprüfen.

Hinzu kommt noch ein weiterer Zweifel an der Einstufung der Türkei als „sicheren Drittstaat“. Die Türkei hat sich rechtlich nur zur Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention auf europäische Flüchtlinge verpflichtet. Sie nimmt zwar viele Flüchtlinge aus außereuropäischen Ländern auf, aber rechtlich hat sie die Einschränkung der Schutzverpflichtung nur auf Flüchtlinge aus europäischen Herkunftsländern beibehalten.

Weitere Zweifel an der Einstufung der Türkei als einem „sicheren Drittstaat“ ergeben sich auch aus dem Maßnahmen der türkischen Regierung im Rahmen des nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 verhängten Ausnahmezustands. Amnesty International berichtet über Misshandlungen und Folterungen an den Gefangenen in einem Ausmaß, den die Türkei seit dem Militärputsch von 1980 nicht mehr erlebt habe. Zwar erlauben Menschenrechtsverletzungen an den eigenen Staatsbürgern nicht unbedingt die Schlussfolgerung, dass ein Land kein „sicherer Drittstaat“ ist, aber massive Menschenrechtsverletzungen gegen eigene Bürger bestärken auf jeden Fall die Zweifel, dass ein Staat seinen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte und hier zum Schutz von Flüchtlingen nachzukommen bereit ist.

Kein faires Asylver­fahren für Asylsu­chende aus „sicheren Herkunfts­s­taa­ten“

Die EU- Kommission hat am 9.9.2015 den Vorschlag unterbreitet, die Türkei zu einem „sicheren Herkunftsstaat“ zu erklären. Das war schon zum damaligen Zeitpunkt angesichts der Angriffe auf die Meinungsfreiheit höchst verwunderlich, und ist es nach den jüngsten Menschenrechtsverletzungen in der Türkei erst recht. Das europäische und das deutsche Flüchtlingsrecht sehen die Möglichkeit der Einstufung von sicheren Herkunftsstaaten vor. Deutschland hat von dieser Möglichkeit jahrelang nur sparsam Gebrauch gemacht, lediglich Ghana und Senegal waren als „sichere Herkunftsstaaten“ gelistet. Die Auflistung spielte in der Praxis kaum eine Rolle. Das hat sich ab 2014 geändert, nachdem mit zwei Gesetzesänderungen Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden (siehe dazu den Beitrag von Paech in diesem Heft). Der Bundestag hat auch eine Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als „sichere Herkunftsstaaten“ beschlossen. Für eine Zustimmung hierzu fand sich aber noch keine Mehrheit im Bundesrat.

Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt das Prinzip der „sicheren Herkunftsstaaten“ nicht, allerdings ist es sowohl im europäischen Recht als auch im Grundgesetz verankert.

Nach Artikel 16a Absatz 3 Grundgesetz können Staaten als „sichere Herkunftsstaaten“ bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Für diese Staaten wird eine generelle Verfolgungsfreiheit vermutet. Asylsuchende aus „sicheren Herkunftsstaaten“ können Tatsachen vortragen, die die Vermutung der Verfolgungsfreiheit widerlegen. Es findet praktisch eine „Beweislastumkehr“ statt. Der Asylantrag wird nicht unvoreingenommen überprüft, es wird vermutet, dass keine Verfolgungsgefahr besteht. Hiergegen müssen die Asylsuchenden in einem eingeschränkten Verfahren mit kurzen Rechtsmittelfristen vorgehen. Das ist sehr schwierig, zumal dann, wenn es wegen der kurzen Fristen nicht gelingt, eine anwaltliche Vertretung zu organisieren. Das Konzept „sicherer Herkunftsstaaten“ verstößt gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens, da es eine sorgfältige und unvoreingenommene Einzelfallprüfung gerade nicht beabsichtigt.

Wer ist Flüchtling?

Nachdem bisher Fragen des Zugangs zu einem Asylverfahren behandelt worden sind, soll nun auf die Frage eingegangen werden, wer ein Flüchtling ist. Die Flüchtlingsdefinition findet sich in Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und wird in § 3 des Asylgesetzes detaillierter beschrieben. Voraussetzung für die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist zunächst, dass die betreffende Person sich außerhalb ihres Herkunftslandes befindet. Von den 65 Millionen Flüchtlingen haben nur 21 Millionen ihr Herkunftsland verlassen. Nur auf sie trifft der Begriff „Flüchtling“ im Sinne der Flüchtlingskonvention zu. Die meisten sind Flüchtlinge im eigenen Land. Sie werden Binnenflüchtlinge genannt.

Weiter muss eine Verfolgungsgefahr im Falle der Rückkehr ins Herkunftsland bestehen. Als Verfolgung gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Als Verfolgung gelten auch Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie bei einer schweren Verletzung der grundlegenden Menschenrechte betroffen ist. Zu den grundlegenden Menschenrechten gehören u.a. das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung, die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit.

Die Verfolgung kann vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit der Staat oder die den Staat beherrschenden Organisationen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Die Verfolgungshandlung muss mit einem Verfolgungsgrund verknüpft sein. Verfolgungsgründe können die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, zu einer Religion, die Volkszugehörigkeit, die politische Überzeugung und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sein. Bei einer bestimmten sozialen Gruppe verfügen die Mitglieder der Gruppe über ein angeborenes unabänderliches Merkmal, z.B. das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung oder Identität.

Drohen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, ohne dass sie mit den Verfolgungsgründen verknüpft sind, dann ist die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt. In diesem Fall erhalten die betreffenden Personen subsidiären Schutz. Dieser wird auch gewährt, wenn eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.

Zukünftige Flücht­lings­po­litik der EU

Die Europäische Union bekennt sich seit dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs 1999 im finnischen Tampere immer wieder zum Schutz von Flüchtlingen auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) ist in Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) aufgenommen worden. Artikel 18 der Europäischen Grundrechtecharta gewährleistet das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieses Bekenntnis zum Flüchtlingsschutz kollidiert allerdings häufig mit einem weiteren Ziel der EU, der Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Hierzu gehört die Sicherung der Außengrenzen der EU. Die von der EU geschaffene Agentur Frontex soll die einzelnen Staaten bei der Überwachung und Sicherung der Außengrenzen unterstützen.

Stellt man die Maßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen denen zur Sicherung der Grenzen gegenüber, dann wird deutlich, wo die Priorität der EU liegt: nämlich bei der Sicherung der Grenzen. Diese Politik der Grenzsicherung wird die EU auch in Zukunft weiterverfolgen. Sie wird versuchen, die Anrainerstaaten auf der nichteuropäischen Seite des Mittelmeers und andere afrikanische Staaten bei entsprechenden Gegenleistungen dazu zu bringen, mögliche Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Mit dieser Verlagerung der Migrationskontrolle und der Kontrolle des Zugangs von Flüchtlingen auf Länder außerhalb der EU zeigt sich die EU unsolidarisch. Angesichts der Tatsache, dass nur drei bis fünf Millionen von 65 Millionen Flüchtlingen weltweit nach Europa gekommen sind, ist es unsolidarisch, die Verantwortung zum Schutz von Flüchtlingen auf andere, zum Teil wesentlich ärmere Länder abzuwälzen.

Das Zuständigkeitssystem der Dublin-III-Verordnung wird nicht nur von Nichtregierungsorganisationen heftig kritisiert. Es liegt nahe, das es keine gerechte Lösung darstellt, da es offensichtlich die Staaten an den Außengrenzen erheblich belastet. Die EU-Kommission wird einen Vorschlag zur Veränderung der Verordnung erarbeiten. Die Grundzüge sollen aber bleiben: Es bleibt bei der Zuständigkeit des Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens, den die Asylsuchenden zuerst betreten haben. Allerdings sollen stark belastete Aufnahmeländer durch eine Verteilung der Asylsuchenden auf andere Mitgliedstaaten entlastet werden. So hat der Europäische Rat im Juni und September 2015 die Verteilung von 160.000 Asylsuchenden aus Italien und Griechenland für die Jahre 2015 und 2016 beschlossen. Die Umverteilung soll Asylsuchende aus Syrien und Eritrea erfassen, da bei ihnen die Schutzquote EU-weit bei über 75% liegt. Dieser Beschluss ist nicht einstimmig gefasst worden. Die Slowakei und Ungarn haben dagegen beim Europäischen Gerichtshof Klage erhoben. Die Zahl der erfolgten Umverteilungen ist bisher äußerst gering.

Der Änderungsvorschlag zur Dublin-Verordnung soll die Kapazitäten der Mitgliedstaaten stärker berücksichtigen. Auch die Bedürfnisse der Flüchtlinge sollen stärker berücksichtigt werden, z.B. beim Zuzug zu Familienangehörigen über den Bereich der Kernfamilie (Eheleute, Eltern und minderjährige Kinder) hinaus.

Die EU-Kommission wird dem Drängen u.a. der Bundesregierung nachgeben und vorschlagen, die 2013 erreichte Gleichstellung von Flüchtlingen und Menschen, die subsidiären Schutz erhalten haben, wieder rückgängig zu machen. In Deutschland wurde das Recht für subsidiär Geschützte auf Familienzusammenführung erheblich eingeschränkt. Es ist zu befürchten, dass die Rechte von subsidiär Geschützten auch in weiteren Bereichen eingeschränkt werden.

Vorschläge zur Verbes­se­rung des Flücht­lings­schutzes

Die Bootsunfälle im Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa mit über 500 Toten haben weltweit Trauer und Entsetzen ausgelöst. Zu einem echten Umdenken haben sie aber nur in Italien geführt. Das Land startete für ein Jahr ein erfolgreiches Seenotrettungsprogramm. Damit konnten über 155.000 Menschen, die über das Meer nach Italien wollten, aus Seenot gerettet werden. Die Mitgliedstaaten der EU ließen Italien allein. Dies änderte sich erst nach einem weiteren schweren Schiffsunglück im April 2015, bei dem vor der libyschen Küste über 900 Menschen ums Leben kamen. Die EU hat nach diesem Unglück eine Rettungsaktion gestartet, die weitgehend die Nachfolge der italienischen Operation „Mare Nostrum“ übernahm. Auch die Bundesmarine beteiligt sich an dieser Rettungsmission und hat 2015 über 10.000 Menschen aus Seenot gerettet, die Europa über das Mittelmeer erreichen wollten. Diese Seenotrettungsaktionen müssen zumindest im bisherigen Maße fortgeführt werden. Menschen in Seenot müssen gerettet werden, der Schutz von Menschen hat Vorrang vor dem Schutz von Grenzen.

Legale Zugangswege für Flüchtlinge

Die EU beklagt das „Schlepperunwesen“ und will es bekämpfen. Das Geschäft der Schlepper könnt erheblich gestört werden, wenn die EU für bestimmte Flüchtlinge legale Einreisemöglichkeiten schaffen würde. In Betracht kommen eine großzügigere und schnellere Visaerteilung für Familienangehörige, eine humanitäre Aufnahme von Schutz suchenden Menschen und eine Verstärkung des Resettlement-Programms, das die Neuansiedlung von Flüchtlingen, die zunächst Schutz in einem Erstaufnahmeland als Flüchtlinge gefunden , aber dort keine Perspektive haben, vorsieht. Der Hohe Flüchtlingskommissaar der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte für 2015 einen Bedarf von 960.000 Aufnahmeplätzen angemeldet. Die Europäische Union hat im Juni 2015 eine Zusage über 20.000 Aufnahmeplätze gegeben. Angesichts des hohen Bedarfs reicht das bei weitem nicht. Hier müsste das Aufnahmekontingent erheblich aufgestockt werden.

Verteilung von Asylsu­chenden

Wenn es zu einer Verteilung von Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten kommt, dann müssen die berechtigten Interessen von Asylsuchenden in Bezug auf das Aufnahmeland berücksichtigt werden. Dies hat das Exekutivkomitee des UNHCR, in dem über 50 Staaten, darunter auch die Bundesrepublik, vertreten sind, bereits 1979 empfohlen. Bisher ist dieser Empfehlung kaum gefolgt worden. Aber auch um die Integration zu erleichtern, ist es sinnvoll, dass Asylsuchende in einem Land aufgenommen werden, zu dem schon Bezüge wie früherer Aufenthalt, Sprachkenntnisse und Familienangehörige im weiteren Sinne bestehen.

Freizü­gig­keit für Schutz­be­rech­tigte

Es ist auch wünschenswert, dass Menschen, die in einem EU-Mitgliedstaat als Flüchtlinge oder subsidiär Geschützte anerkannt werden, möglichst bald das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU erlangen. Werden Asylsuchende abgelehnt, gilt die negative Entscheidung für alle anderen Mitgliedstaaten. Erhalten sie Schutz, gilt die positive Entscheidung nur für den Schutz gewährenden Staat. Da die Asylentscheidung aber von einem Staat für die gesamte EU getroffen wird, wäre es gerechtfertigt, dass sich Schutzberechtigte – vielleicht nach einer kurzen Wartezeit – in allen Mitgliedstaaten der EU niederlassen können.

Diese Forderungen an die EU und ihre Mitgliedstaaten sind berechtigt. Aber sie werden im Moment – angesichts der starken Stimmungen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in den meisten Mitgliedstaaten – bei den politischen Entscheidungsträgern kein Gehör finden. Bei „einfachen“ Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien sieht es anders aus. Hier gibt es schon die Einsicht, dass eine auf Abschottung ausgerichtete Flüchtlingspolitik auf Dauer nicht erfolgreich sein kann. Allerdings lässt sie die Angst vor rechtspopulistischen Parteien verstummen.
Es ist es wichtig, weiter beharrlich für die Rechte von Flüchtlingen einzutreten. Die Flüchtlingspolitik in Deutschland verlief nicht immer geradlinig. Befürchtungen nach der 1993 in Kraft getretenen Änderung des Asylgrundrechts, nun könnten Flüchtlinge in Deutschland keinen Schutz mehr finden, haben sich so nicht bewahrheitet. Das europäische Flüchtlingsrecht hat, unterstützt von der europäischen Rechtsprechung, zu einer Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs und damit des Schutzes von Flüchtlingen geführt. Es ist zu hoffen, dass der Schutz von Flüchtlingen bald wieder einen besseren Stellenwert erhält

WOLFGANG GRENZ   Jahrgang 1947, Jurist, langjähriger hauptamtlicher Mitarbeiter in der Bundesgeschäftsstelle von Amnesty International, zuletzt von 2011 bis 2013 als Generalsekretär der deutschen Sektion. Er ist Gründungsmitglied von Pro Asyl (1986), Mitglied im Aufsichtsrat der UNO-Flüchtlingshilfe und Ko-Autor des 2015 erschienenen Buches „Schiffbruch: Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik“ (gemeinsam mit Stefan Keßler & Julian Lehmann, bei Knaur).

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