Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 214: Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung

Komplexe Krisen und Konflikte im Nahen Osten verursachen Flucht nach Europa*

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 21-33

Die Fluchtwelle der letzten Jahre nach Europa ist eng mit Bürgerkriegen und Krisen im Nahen Osten verknüpft. Besonders viele Menschen flohen und fliehen aus Syrien, wo der Konflikt zwischen autoritärer Regierung und Oppositionsbewegungen von der Etablierung des sogenannten „Islamischen Staates“ überlagert wird. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Essay „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“, das 2015 erschienen ist. Volker Perthes analysiert darin die komplexen Krisen und Konflikte in dieser Region und ihre Auswirkungen auf Europa.

Wenn wir nach der einen großen Überschrift suchen, die die Ereignisse und Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten seit 2011 und mehr noch seit 2013/2014 charakterisiert und welthistorisch einordnet, dann scheint das Wort »Ordnungszerfall« angemessen. Innerstaatliche Ordnungen zerbrechen, nicht überall, aber doch in mehreren Staaten der arabischen Welt. Am deutlichsten ist uns dies in Syrien, im Irak und in Libyen geworden. Die Menschen in der Levante, in den Ländern zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Persischen Golf also, erleben, wie die regionale Ordnung oder das regionale Staatensystem sich aufzulösen scheint, ohne dass klar wäre, wie eine neue Ordnung zustande kommen kann, wie sie aussehen wird, wer sie verhandelt oder errichtet. Und mancher wird sagen, dass auch die Werteordnung der eigenen Gesellschaften zerstört, mindestens aber beschädigt worden ist. Immerhin teilen die Menschen in Ländern wie Syrien und dem Irak, im Libanon oder in Iran trotz aller Erfahrung von Krieg, Konflikt, Repression und Gewalt auch eine Geschichte des Zusammenlebens über ethnische, konfessionelle und politische Trennlinien hinweg. Die Anerkennung dieser gesellschaftlichen und konfessionellen Vielgestaltigkeit als eines der Charaktermerkmale, ja vielleicht als die Raison d’être gerade des syrischen Staates aber und der damit verbundene Grundkonsens, dass man trotz aller Differenzen und Machtkämpfe irgendwie zusammenleben muss – all das gilt ganz offensichtlich nicht mehr, jedenfalls nicht für die kriegsführenden Parteien.

Das Ausmaß der Gewalt, die staatliche und nichtstaatliche Akteure in Syrien und anderen Ländern gegen die eigene Bevölkerung ausüben, und die konfessionelle Polarisierung – nicht nur, aber vor allem zwischen Sunniten und Schiiten –, die quer durch die Region zu spüren ist, fördern eine Spirale aus Hass und Angst und stellen die Hoffnung infrage, dass Staaten und Gesellschaften einfach wieder zusammenfinden werden, wenn nur die eine oder andere Terrororganisation besiegt oder das ein oder andere Regime gefallen ist.

Gewalt und konfessioneller Bürgerkrieg scheinen wenig mit den Forderungen nach Freiheit, Würde und Gerechtigkeit zu tun zu haben, die in den Protesten und Aufständen zum Ausdruck kamen, die die arabische Staatenwelt im Jahr 2011 erfassten. Zumindest zum Teil ist diese Gewalt als Reaktion bedrängter politischer Führungseliten auf die Forderung nach friedlicher Veränderung, auf den von vielen sogenannten »Arabischen Frühling« – oder die Furcht davor – zu verstehen. Und wo autoritäre Ordnungen zerfallen oder zu zerbrechen drohen, setzt dies alle möglichen Kräfte frei, die vordem »unter Kontrolle« waren oder zu sein schienen, extremistische politische Akteure und politisch oder wirtschaftlich motivierte Gewaltunternehmer eingeschlossen. Die Protestbewegungen haben aber auch gezeigt, dass es in allen Ländern der Region Menschen gibt, die sich dafür einsetzen oder (oftmals unter existenziellen Risiken) dafür eingesetzt haben, eine bessere Ordnung zu schaffen.

Gerade Europa, das den Beginn der Umbrüche in seiner südlichen Nachbarschaft begrüßt, dann aber – darüber lässt sich im Einzelnen streiten – wenig getan hat oder hat tun können, um friedliche politische Transformationsprozesse effektiv zu unterstützen, wäre gut beraten, seiner ursprünglichen Bewunderung für die »Generation Tahrir-Platz« nun keine angstgetriebene Politik der Abschottung gegen die Region und ihre Menschen folgen zu lassen.

Wie können wir, gerade wenn wir die Region von außen betrachten, verstehen, was seit dem Beginn der arabischen Proteste und Aufstände im Jahre 2011 im Nahen und Mittleren Osten vor sich geht? Stellen wir uns auf gescheiterte Staaten, regionale Kriege und Bürgerkriege, Terror und konfessionelle Gewalt als neuen Normalzustand ein? Auch das wäre kein guter Rat. Sicher scheint allerdings, dass die Region sich erst am Beginn einer langen Phase der Turbulenz befindet. In mancher Hinsicht ist der Nahe Osten schon heute nicht mehr der, den wir – europäische und andere ausländische Beobachter –, den aber auch ein Großteil der regionalen Akteure selbst kennen oder zu kennen geglaubt haben. […]

Syrien und Irak: Zeitenwende und Krisen

[…] In der Tat ist es nahezu unmöglich, Politik, Ideologieentwicklung und zwischenstaatliche Beziehungen in der arabisch-nahöstlichen Welt zu verstehen, ohne auf die Entstehung des regionalen Staatensystems nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) und, wenig später, der Auflösung des Osmanischen Reichs (1922) zurückzugreifen. Man wird hier immer wieder daran erinnert werden, dass die Grenzen zwischen Mittelmeer und Persischem Golf im Wesentlichen von auswärtigen Mächten, namentlich von Großbritannien und Frankreich, gezogen worden sind. So wird gängigerweise vom Sykes-Picot-System oder von den Sykes-Picot-Grenzen gesprochen – mit Bezug auf Mark Sykes und François Georges-Picot, einen britischen und einen französischen Diplomaten, die sich 1916 im Auftrag ihrer Regierungen über die Aufteilung der nahöstlichen Gebiete des Osmanischen Reiches einigten. Auch wenn das sogenannte Sykes-Picot-Abkommen nicht eins zu eins umgesetzt wurde, bildete es doch die Grundlage für die Einrichtung von Mandaten des Völkerbunds, mit denen Frankreich die Kontrolle über das heutige Syrien und den Libanon, Großbritannien die über Palästina, das heutige Jordanien und den Irak übernahm und damit auch die Verantwortung für die spätere Grenzziehung zwischen den daraus entstehenden Staaten.(1)

»Sykes-Picot« wurde aber auch zur Chiffre, stand und steht im politischen Sprachgebrauch für ein westliches oder imperialistisches Grand Design der politisch-territorialen Verhältnisse in der Region und eine von externen Mächten bestimmte Aufteilung in Einzelstaaten. Gleichzeitig fanden verschiedene politische Bewegungen und ganze Staaten im Widerstand gegen »Sykes-Picot« so etwas wie ihren Gründungsmythos. Das gilt insbesondere für die in Syrien entstandene panarabische Baath-Partei (das Wort baath steht dabei für die »Auferstehung« oder »Wiederbelebung« der arabischen Nation) und andere Spielarten eines großsyrischen oder arabischen Nationalismus wie auch für Syrien selbst, das sowohl seine territoriale Einheit wie seine Unabhängigkeit in längeren Auseinandersetzungen und Kämpfen gegen die französische Mandatsmacht durchsetzen musste. Die Ablehnung des »Sykes-Picot-Systems« gehört hier und in den meisten anderen arabischen Staaten gewissermaßen zum guten Ton.

Des ungeachtet ist das so entstandene System nahöstlicher Staaten und Grenzen über den Zweiten Weltkrieg, die Unabhängigkeit der Einzelstaaten und zahlreiche Kriege und Bürgerkriege hinweg fast ein Jahrhundert lang intakt geblieben – was gerade im Vergleich zur europäischen Entwicklung in dieser Zeitspanne ziemlich bemerkenswert ist. Seit 1948 gehört auch Israel als zwar lange nicht anerkannter, aber faktisch nicht ignorierbarer Mitspieler zu diesem System. In Syrien, in Jordanien, im Libanon, im Irak, unter Israelis und Palästinensern und in unterschiedlichem Ausmaß auch in Saudi-Arabien und den anderen Staaten der arabischen Halbinsel haben sich eigene, wenngleich nicht notwendig exklusive politische Identitäten herausgebildet. Vier bis fünf nahöstliche Generationen, die heutigen Entscheidungsträger eingeschlossen, sind so in einem regionalen System sozialisiert worden, das allgemein als ungeliebt, als »schlechte Ordnung« galt.

Derzeit scheint die Region einen dieser historischen Brüche zu erleben, die wir gern als tektonisch bezeichnen: Es sieht so aus, als löse sich die postosmanische Ordnung auf. Syrien, der zentrale Staat im regionalen Gefüge, funktioniert nur noch in Teilen als Staat; zumindest einige der Grenzen verlieren ihre Relevanz; neue Herrschaftsverbände entstehen; zwischenstaatliche und transnationale Konflikte überlappen einander. […] Wichtig ist an dieser Stelle, dass große auswärtige Mächte, anders als vor knapp hundert Jahren, kein Interesse zeigen, selbst eine »Neuordnung« der Region vorzunehmen. Die Tendenz geht eher dahin, bestimmte direkte Interessen zu verteidigen und sich ansonsten auf Gefahrenabwehr zu beschränken. Auch von den wichtigsten Regionalstaaten gehen – bislang jedenfalls – keine Initiativen zur Stabilisierung oder Neuerrichtung einer regionalen Ordnung aus. Im Ergebnis erleben immer mehr Menschen, dass die alte Ordnung zwar »schlecht« gewesen sein mag, die Alternative zu einer schlechten Ordnung aber nicht unbedingt eine bessere, sondern möglicherweise gar keine Ordnung ist.

Je mehr im Hier und Jetzt aber Ordnung, soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität und Gewissheit fehlen, je weniger das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen im Rahmen verlässlicher Staatlichkeit abgesichert wird, desto wichtiger werden konfessionelle, ethnische oder tribale Bindungen und Identitäten, die sich entlang der langen Zeitlinie, der soziokulturellen longue durée entwickelt haben. Für das reale Geschehen ist es ziemlich irrelevant, ob oder zu welchem Grad es sich dabei um »erfundene« Gemeinschaften und entsprechend erfundene Identitätenii handelt – solange jedenfalls, wie diese Identitäten wirken, politisch nutzbar gemacht werden können und dabei helfen, passende Element der Geschichte im richtigen Moment in die kollektive Erinnerung zu rufen. Historische Episoden, die an ganz unterschiedlichen Stellen auf dieser Zeitlinie verortet sind, werden dann plötzlich so bedeutsam wie Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit. So kann der Streit über die rechtmäßige Nachfolge Muhammads, des Propheten des Islam, aus dem vor 1400 Jahren die konfessionelle Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten entstand, können die Kämpfe und Allianzen zwischen dem abbasidischen und dem fatimidischen Kalifat und den Kreuzfahrerstaaten, die Invasion mongolischer Heere, die Eroberungen der Osmanen und natürlich der westliche (im iranischen Fall gelegentlich auch der russische) Imperialismus unterschiedlichen politischen Gruppen und Gewaltakteuren als Orientierungspunkte für die Abgrenzung der eigenen gegen je andere Gemeinschaften dienen und dabei helfen, Konflikte der Gegenwart in ein – mehr oder weniger – überzeugendes historisches Narrativ einzuspinnen.

Externe Akteure, die die regionalen Dynamiken verstehen und mit den Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten zusammenarbeiten wollen, dürfen die longue durée mit ihren Erinnerungen und Identitäten nicht ignorieren, sollten sich aber auch hüten zu glauben, dass es bei den aktuellen Verwerfungen und Konflikten in der Region wirklich oder wesentlich um konfessionelle Gegensätze oder gar um die richtige Interpretation des Glaubens geht.

Die Mehrheit der sunnitischen Muslime (nicht nur in Syrien und im Irak) haben für den sogenannten Islamischen Staat nichts übrig, finden die Selbstausrufung seines Anführers zum Kalifen oder dessen Ankündigung, nach der arabischen Welt auch Rom zu erobern, bestenfalls lächerlich und die Bluttaten seiner Anhänger abscheulich. Die Symbole und historischen Referenzen aus der longue durée, die er nutzt, können aber dennoch Eindruck machen – die schwarze Fahne der Abbasiden etwa und sicher die Erinnerung an die ruhmreichen Zeiten, als deren Kalifat eine Großmacht und einen politisch-kulturellen Orientierungspunkt für die sunnitischen Muslime darstellte. Nur würde die Propaganda des sogenannten Islamischen Staates sehr viel weniger Wirkung entfalten, wenn sie sich nicht auf die Macht moderner Waffen stützen könnte und wenn die Staaten, auf deren Territorium diese Organisation ihre Herrschaft auszudehnen versucht, funktioniert und nicht so deutlich dabei versagt hätten, inklusive politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zu schaffen. […]

In Syrien begann der Aufstand im Frühjahr 2011 zunächst mit vereinzelten Protesten gegen lokale Behörden und Sicherheitskräfte, aus denen rasch eine zivilgesellschaftlich-politische Protestbewegung wurde, die große Teile des Landes erfasste. Das Regime von Baschar al-Asad setzte ebenso rasch auf das, was in seinem eigenen Jargon die »militärische Lösung« genannt wurde, reagierte also mit tödlicher Gewalt. Viele Soldaten, vor allem aus sunnitischen Gebieten, und eine Reihe von Kommandeuren desertierten, um die Bevölkerung ihrer je eigenen Dörfer oder Städte zu schützen. Seit Sommer 2011 lässt sich von einer Militarisierung des Aufstands sprechen, spätestens seit 2012 von einem anhaltenden Bürgerkrieg, in welchem das Regime aus Russland und Iran sowie von schiitischen Milizen aus dem Irak und der libanesischen Hizbullah unterstützt wurde und wird, die Opposition aus der Türkei, den arabischen Golfstaaten und aus westlichen Ländern. Dabei gewannen in den Gebieten, die dem Regime entglitten, zunehmend extremistische, politisch-islamische Gruppen die Oberhand, seit 2014 vor allem der im Irak entstandene sogenannte Islamische Staat.

Eine Konfessionalisierung und allgemeine Verrohung der Auseinandersetzungen hatte allerdings schon vorher eingesetzt. So organisierte das Regime neben den regulären Streitkräften eigene Milizen. Deren Mitglieder stammen vorwiegend aus der alawitischen Bevölkerungsgruppe, der auch der Präsident, seine Familie und seine engsten Mitarbeiter angehören. Die Alawiten sind eine vor allem in der Levante beheimatete Konfessionsgemeinschaft, die sich selbst der Schia zuordnet. Asads Herrschaftselite, wie schon die seines Vaters, bestand und besteht keineswegs ausschließlich aus Alawiten; aber wichtige Positionen im Sicherheitsbereich, von der Spitze bis hinunter zur Bataillonsebene, befanden sich überwiegend in der Hand von Alawiten, deren Familien, wie die Asads, aus den syrischen Küstenprovinzen stammen. Die neuen Milizen, die wenig später unter dem Namen »Nationale Verteidigungskräfte« zusammengefasst und der Armeeführung unterstellt wurden, traten vor allem durch Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung hervor. Auch wurde ihnen, anders als den regulären Streitkräften, offenbar erlaubt, bei feindlichen Teilen der Bevölkerung »Beute« zu machen. Das Regime setzte nahezu von Beginn an alle Waffentypen ein, die ihm zur Verfügung standen. Im August 2013 führte ein größerer Einsatz von Chemiewaffen zu einer bemerkenswerten russischen Initiative: Moskau überzeugte die syrische Führung, sich auf eine Erfassung und Zerstörung des syrischen Chemiewaffenpotenzials durch die Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) einzulassen, und bewahrte das Regime damit vor einer offenbar unmittelbar bevorstehenden militärischen Strafaktion der USA. Präsident Obama griff jedenfalls die russische Initiative auf und blies die bereits geplanten Luftschläge, von deren Nutzen er offenbar selbst nicht überzeugt war, ab – sehr zum Verdruss der syrischen Opposition und ihrer regionalen Verbündeten.

Hoffnungen, dass die Kooperation der USA, Russlands und anderer – auch Deutschland beteiligte sich an der Vernichtung syrischer Chemiewaffen – zumindest zur Deeskalation beitragen würde, erfüllten sich nicht. Alle Versuche einer diplomatischen Lösung, insbesondere die Bemühungen von drei erfahrenen Sondergesandten der Vereinten Nationen, blieben, bis zum Entstehungszeitpunkt dieses Essays jedenfalls, erfolglos. Anfang 2015 war Syrien faktisch vier- bis fünfgeteilt und meist auch in jedem der einzelnen Teile zusätzlich fragmentiert: Das Regime hielt etwa ein Drittel des Landes mit ungefähr der Hälfte der Bevölkerung, darunter die Hauptstadt Damaskus, die wichtigste Nord-Süd-Verbindung und das Küstengebiet. Der IS hatte große Teile des Nordens und Ostens des Landes unter Kontrolle. Die allgemein als moderat bezeichnete Opposition und mit ihr verbündete Milizen, darunter ebenfalls immer mehr islamistische Kräfte, hatten in Aleppo, in Teilen des Damaszener Umlands und Teilen des Südens die Oberhand. Die mit dem Qaida-Netzwerk verbundene Nusra-Front, die gegen das Regime, gegen den konkurrierenden »Islamischen Staat« und gelegentlich mit, gelegentlich aber auch gegen die moderate Opposition kämpft, kontrollierte einen Teil der nordwestlichen Grenzgebiete zur Türkei. Sie hatte zudem eine Präsenz auf dem Golan, an der Frontlinie zu Israel, aufgebaut. Im Norden des Landes, nahe der türkischen Grenze, waren zudem drei kurdische Kantone entstanden.

Im Irak, in dem der IS aus dem lokalen Ableger der al-Qaida entstanden war, hatte es 2011 keine den Protesten und Aufständen in den arabischen Staaten vergleichbare Entwicklungen gegeben. Das Land und seine politischen Fraktionen waren dabei, sich auf den angekündigten Abzug des amerikanischen Militärs und damit die Rückgewinnung der vollen Souveränität vorzubereiten. Die Amerikaner hinterließen kein geeintes, sondern ein politisch und ethnisch tief gespaltenes Land, dessen Trennlinien bald wieder aufbrachen. Spätestens 2013 befanden Teile der überwiegend sunnitisch-arabischen Gebiete sich im offenen Aufruhr gegen die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad. Dies erleichterte es dem sogenannten Islamischen Staat, 2014 die Großstadt Mosul und eine Reihe anderer irakischer Städte nahezu widerstandslos zu erobern. […]

Protest einer jungen Generation

Die arabischen Gesellschaften sind enorm junge Gesellschaften; weltweit liegt nur im Afrika südlich der Sahara der Anteil der jungen Leute an der Gesamtbevölkerung noch höher. In fast allen Ländern der Region ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung jünger als 30 Jahre. In Saudi-Arabien gilt dies für 57 Prozent, in Ägypten für fast 58, in Syrien, Jordanien und im Irak für zwischen 62 und 65, im Gazastreifen sogar für 72Prozent.(3)  Insgesamt hat die Wirtschaftsentwicklung mit dem Bevölkerungswachstum nicht mitgehalten; selbst die ölexportierenden Staaten haben relativ zur Bevölkerungsgröße heute weniger an Einkommen und Reichtum zu verteilen als noch vor einigen Jahrzehnten. Und kaum eins der Länder hat aus seinem Jugendreichtum wirklich Nutzen gezogen.

Zwar ist in allen arabischen Ländern das Schul- und Hochschulwesen deutlich ausgebaut worden. Die heute jungen Generationen sind im Allgemeinen viel besser ausgebildet als ihre Eltern und Großeltern; fast alle Kinder gehen zumindest einige Jahre zur Schule. Bildungs- und Ausbildungsunterschiede zwischen Männern und Frauen sind in der jungen Generation zwar nicht eingeebnet, aber doch sehr viel geringer als früher. In vielen Staaten der Region, darunter in Saudi-Arabien wie auch in Iran, sind mittlerweile mehr Frauen als Männer an den Universitäten eingeschrieben, meist auch mit besseren Ergebnissen. Insgesamt fällt es Schul- und Hochschulabsolventen aber zunehmend schwer, eine Beschäftigung zu finden, die ihrem Bildungsgrad entspricht. Im Staatsdienst vieler Länder und im meist schrumpfenden staatlichen Wirtschaftssektor sind die Ränge schlicht durch die älteren Generationen verstopft; oft mangelt es den Hochschulabsolventen zudem an einer praxisrelevanten Ausbildung, die sie für die private Wirtschaft attraktiv machen würde. Auch in den Golfstaaten, der wichtigsten Zielregion arabischer Arbeitsmigranten, ist es für den jungen ägyptischen Ingenieur oder die junge syrische Betriebswirtin heute nicht mehr so leicht, einen Einstiegsjob zu finden.

In vielerlei Hinsicht waren, wie oft bemerkt worden ist, die Proteste und Aufstände von 2011 deshalb auch der Protest einer Generation, die höher qualifiziert und stärker vernetzt ist als ihre Vorgänger – viele nutzen soziale Medien, viele sprechen Englisch –, die aber vergleichsweise weniger Chancen hat. […]

Ungeachtet des konkreten Verlaufs in den einzelnen Staaten zeigten die Proteste und Aufstände, zeigten auch die unterschiedlichen Reaktionen der bedrängten Regime, dass der jahrzehntealte ungeschriebene Gesellschaftsvertrag der meisten arabischen Staaten, der sich auf eine Kombination von autoritärer, paternalistischer Herrschaft und sozialen wie wirtschaftlichen Entwicklungsleistungen gründete, nicht länger aufrechtzuerhalten war. Anders gesagt: Die Gleichung, auf der die so oft gerühmte Stabilität langlebiger arabischer Regime beruhte, funktionierte schlicht nicht mehr: teils weil die Bevölkerung sich weiterentwickelt hatte und aktiv Rechte und Reformen einforderte, teils weil die wirtschaftlichen Möglichkeiten fehlten, um das politische Ausgleichgewicht des Autoritarismus (also soziale Leistungen – Subventionen, Ausbildung, Arbeitsplätze, Wohnungen – und wirtschaftliches Wachstum) auch für eine wachsende Bevölkerung zu sichern. […]

Mit Blick auf die politischen, wirtschaftlichen und demografischen Indikatoren, die hier nicht im Einzelnen und für jedes Land analysiert werden können, spricht alles dafür, dass die gesamte Region auch unabhängig von zwischenstaatlichen Konflikten und äußerer Einwirkung erst am Beginn – und nicht etwa am Ende – einer Periode von Turbulenzen und Wandlungsprozessen steht, die kein Land, selbst diejenigen nicht, die 2011 nur mäßig erschüttert wurden und heute vergleichsweise gefestigt wirken, völlig unberührt lassen wird. Es ist gerade angesichts der demografischen Herausforderungen schlicht nicht vorstellbar, dass Gemeinwesen wie das saudische oder das iranische, die sich, bei allen Unterschieden, beide als besonders stabile Staaten präsentieren, keinen Wandel durchlaufen, sondern – in fünfzehn oder zwanzig Jahren – politisch und soziokulturell noch genauso aussehen wie heute.

Zwar lässt sich schwer abschätzen, wie dieser Wandel stattfinden wird – ob er evolutionär oder revolutionär sein wird, ob er über die Umwege von Krieg und Bürgerkrieg zustande kommt, ob Veränderungen im Rahmen bestehender Staaten stattfinden oder Staaten dabei unter Druck geraten, zerfallen oder sich neu konstituieren. Sicher ist nur, dass die Verhältnisse sich nicht einfach einfrieren lassen und dass, wie in anderen Teilen der globalisierten Welt, auch hier die Staaten, ihre Regierungen und bestimmte strategisch gut positionierte Gruppen wie etwa das Militär nicht mehr die einzigen Akteure sind. Die arabische Welt ist ebenfalls keine reine Staatenwelt mehr. Regierungen müssen vielmehr einkalkulieren, dass die Bevölkerung selbst aktiv wird. Schon hier zeigt sich, dass der Nahe und Mittlere Osten nicht mehr unbedingt der ist, den wir seit Jahrzehnten kennen. […]

Identität, Konfession und Ideologie

Die Menschen in der Region erleben ideologische Auseinandersetzungen – im Unterschied zu Debatten um Sachfragen, die es natürlich auch gibt – derzeit nicht als pluralistischen Meinungsstreit zwischen unterschiedlich akzentuierten liberalen, konservativen oder sozialistischen Programmatiken, sondern hauptsächlich als Kampf um die »richtige« Form des politischen Islam. Die Frage, wie viel und welche Art Islam die Politik prägen sollte, geht zudem mit einer konfessionellen Polarisierung einher, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten Es ist, wie bereits erwähnt, nicht so wichtig, wie konstruiert oder wie verwurzelt konfessionelle Gegensätze in einzelnen Ländern sind, solange relevante politische Akteure es schaffen, mit diesem Gegensatz Politik zu machen. Es gibt immer beide Narrative: eines, in dem die »ewigen«, soziokulturell tief verankerten Gegensätze zu den Schiiten, in Syrien den Alawiten, oder den Sunniten betont werden (denen man jeweils aufgrund dieser alten, historisch begründeten Gegensätze eigentlich noch nie getraut habe), ein anderes, in dem darauf verwiesen wird, dass man im eigenen Land jahrhundertelang konfessionsblind gewesen sei und wie eine große Familie zusammengelebt habe – bis zu den jüngsten Auseinandersetzungen oder der Machtübernahme dieser oder jener Gruppe jedenfalls oder bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Iraner, die Saudis, die Türken (gelegentlich auch der Westen) begonnen hätten, mittels der Förderung der einen oder der anderen Konfessionsgruppe Politik zu machen. Und natürlich gehen diese Narrative manchmal ineinander über; Konsistenz ist in solchen Fragen kaum zu erwarten.

Es ist schon so, dass politische, soziale und auch ökonomische Netzwerke sich immer ethnischer Bindungen bedient haben. Man verlässt sich, gerade in Gesellschaften, die durch Patronage-Strukturen geprägt sind, gern auf die Mitglieder der eigenen Familie, Leute aus dem eigenen Dorf oder Viertel, aus der gemeinsamen Schul- oder Militärzeit, die in vielen Fällen aus der gleichen Konfessionsgruppe stammen. Konfessionelle Zugehörigkeit hat deshalb auch in der Vergangenheit eine Rolle in lokalen und regionalen Machtbeziehungen gespielt. Damit haben die Gesellschaften umzugehen gelernt. Gefährlich wird es eigentlich erst, wo Konfessionszugehörigkeit ideologisiert wird und wo politische, soziale oder geopolitische Konflikte konfessionalisiert werden: Die Rede ist dann etwa vom »schiitischen Halbmond« (den Teheran zu etablieren versuche) oder von einem »sunnitischen Block« (den es zur Abwehr schiitischer Hegemonieansprüche zu errichten gelte). Religiöse Polarisierungen gewinnen rasch eine Eigendynamik, in der Menschen aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit kategorisiert, ausgegrenzt und im Zweifelsfall zum Feind erklärt werden. Für extremistische sunnitische Islamisten sind Schiiten schlicht »Ablehner« oder »Verweigerer« (rafida) des richtigen Glaubens – und damit schlimmer als Christen oder andere Nichtmuslime. In sunnitisch-arabischen Kreisen im Irak werden Schiiten, zumal solche mit Funktionen im Staat, gern als »Safawiden« diffamiert – als Angehörige einer persischen Dynastie also, die Anfang des 16. Jahrhunderts den schiitischen Islam zur Staatsreligion auf dem Gebiet des heutigen Iran machte und bis Anfang des 17. Jahrhunderts auch Bagdad und große Teile des heutigen Irak zu ihrem Reich zählte. […]

Geopo­li­ti­sche Entwick­lungs­trends

Der allgemeine Zustand des internationalen Systems mit seiner multipolaren Gewichtsverteilung und die Erfahrungen mit den Krisen und Konflikten im nah- und mittelöstlichen Raum sorgen eher dafür, dass die wichtigsten externen Mächte – neben den genannten wäre das in erster Linie noch Indien – zwar bestimmte Interessen im Nahen und Mittleren Osten haben, sich gleichwohl aber soweit wie möglich aus den inneren Konflikten der Region herauszuhalten versuchen. […]

Anders als zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als Europäer und Amerikaner ein – wie sich zeigen sollte – lang anhaltendes militärisches Engagement in Afghanistan eingingen und die USA dann 2003 zusammen mit wenigen europäischen Partnern in den Irak einmarschierten, betreiben die wichtigsten internationalen Akteure heute der Region gegenüber eher eine defensive Geopolitik: Man versucht zwar, eigene Interessen zu wahren und zu schützen sowie regionale Partner zu stärken, setzt generell aber in erster Linie auf die Abwehr von Risiken und die Eindämmung von Konflikten in der Region. Das gilt, je nachdem, für syrische Chemiewaffen, für Migranten und Flüchtlinge oder für zurückkehrende Jihadisten. Es zeigt sich auch in der Begrenzung des Krieges gegen den »Islamischen Staat« auf Luftangriffe, Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe. Auf jeden Fall geht es nicht darum, Regimewechsel zu forcieren oder Staaten in der Region neu zu ordnen. China hat sich in dieser Hinsicht ohnehin immer zurückgehalten; die meisten Europäer haben schon die Irak-Politik von George W. Bush abgelehnt und sind – wie zuvor bereits Russland bzw. die Sowjetunion – durch ihre Afghanistan-Erfahrungen skeptischer geworden, was ihre Möglichkeiten im Hinblick auf umfassende Transformationsprozesse in Länder außerhalb des eigenen Kulturkreises anbelangt. Die USA schließlich haben aus dem Irak-Krieg gelernt. […]In der Konsequenz heißt das, dass die Dynamiken der Region in erster Linie durch lokale und regionale Akteure geprägt sein werden. […]

Die kleineren arabischen Nachbarn Syriens und Israels, Jordanien und der Libanon, sehen die Situation weniger gelassen. Beide sind, wie auch die Türkei, aber bei einer weitaus kleineren Bevölkerung, durch die große Zahl an Flüchtlingen aus Syrien herausgefordert, wenn nicht gar überfordert. Im Libanon, einem Land von vier Millionen Einwohnern, hielten sich nach Schätzung der UNO Anfang 2015 mehr als 1,25 Millionen syrische Flüchtlinge auf; in Jordanien mit seinen knapp sieben Millionen Einwohnern mehr als 600 000. Dies bedeutete nicht nur, dass man Unterkünfte und Hunderttausende von Plätzen in Schulen zur Verfügung stellen musste, sondern brachte gerade für den Libanon die Gefahr mit sich, den Bürgerkrieg aus Syrien direkt zu importieren. Die schiitische Hizbullah, die im Libanon auch in der Regierung vertreten ist, kämpfte in Syrien auf der Seite des Regimes, sunnitische Politiker unterstützten zum Teil aktiv die Opposition. Die libanesische Regierung versuchte mit einiger Mühe, eine Form der politischen und militärischen Dissoziation vom syrischen Krieg aufrechtzuerhalten, konnte allerdings nicht verhindern, dass es im eng mit Syrien verbundenen Norden des Landes immer wieder zu Schießereien zwischen lokalen Sunniten und Alawiten kam. IS-Kämpfer aus Syrien stießen mehrfach in den Norden des Landes vor. Soldaten der libanesischen Armee wurden wiederholt über die Grenze hinweg in Auseinandersetzungen gezogen. Umgekehrt sollen bis Ende 2014 bis zu tausend Hizbullah-Kämpfer in Syrien ihr Leben gelassen haben. Einige syrische Gruppen versuchten, den Krieg auf libanesisches Gebiet zu tragen, um der Hizbullah, die faktisch einen großen Teil des Grenzgebiets auf libanesischer und auf syrischer Seite kontrollierte, und vor allem den Unterstützern der Hizbullah zu zeigen, dass der Kampfeinsatz auf Seiten des Asad-Regimes einen Preis hatte. […]

Die meisten Staaten der Region sehen im sogenannten Islamischen Staat eine Bedrohung. Auch die von den USA geführte internationale Koalition gegen den IS ist allerdings keine stabile Allianz; und die Vorstellung, dass eine so ernste gemeinsame Herausforderung regionale und internationale Akteure dazu bringen würde, ihre ideologischen oder geopolitischen Rivalitäten zu überwinden, ist offensichtlich unbegründet. Vielmehr ist im heutigen Nahen und Mittleren Osten der Feind meines Feindes eben oft nicht automatisch mein Freund, sondern weiterhin mein Feind. So sind Iran und die USA zwar die wichtigsten Unterstützer der irakischen Regierung; beide bekämpfen im Irak den IS; faktisch hat die amerikanische Luftwaffe sogar mehrfach Unterstützung für irakisch-schiitische Milizen und reguläre Truppen geleistet, die von iranischen Ausbildern geführt wurden. Washington und Teheran sehen dennoch und trotz des sich abzeichnenden Kompromisses bei den Atomverhandlungen weiterhin im jeweils anderen ihren Hauptgegner im Nahen und Mittleren Osten, oder überhaupt. […]

Eckpunkte für europäische Politik

[…] Die kurzlebige Euphorie, die die arabischen Revolten in den USA und in Europa ausgelöst haben, [ist] zunehmend von einer Tendenz zur Abschottung gegenüber der arabisch-nahöstlichen Welt abgelöst worden […]. Man möchte die Gefahren und Risiken, die wir dort wahrnehmen, auch möglichst dort eindämmen. Eine solche Art des Gefahren-Containment wird allerdings nicht gelingen. Die Europäische Union versteht Nordafrika und den Nahen Osten zu Recht als Teil ihrer Nachbarschaft; Europa ist mit der gesamten Region viel zu stark verflochten. Geografie und Geschichte verbinden uns oftmals stärker, als uns – oder den Akteuren im Nahen und Mittleren Osten – lieb ist. Das Beziehungsgeflecht hat nicht nur wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische, sondern, in unterschiedlichem Ausmaß, auch entwicklungs-, migrations- und umweltpolitische sowie religiöse und kulturelle Aspekte. Darüber hinaus sind die Turbulenzen im Nahen und Mittleren Osten mittlerweile ein Element unserer Innenpolitik geworden: [Bereits] 2014 stammten mehr als zwanzig Prozent aller Flüchtlinge, die nach Deutschland oder in die EU-Staaten kamen, aus Syrien. Zwar nimmt die EU insgesamt nur etwa vier Prozent aller syrischen Flüchtlinge auf, aber dennoch gibt es eine Diskussion über Aufnahmekapazitäten und Lastenteilung.(4) In den meisten europäischen Ländern sind kritischere Diskussionen über den Islam und den Umgang mit Muslimen laut geworden. Und es gibt, wie unter anderem die Anschläge […in] Brüssel […und] Paris gezeigt haben, echte terroristische Bedrohungen durch al-Qaida oder den IS, bei denen fast immer eine direkte Beziehung in den Nahen und Mittleren Osten besteht. […] Gleichzeitig werden Anschläge auf Moscheen oder Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland oder Demonstrationen gegen eine angebliche »Islamisierung« Europas auch in muslimischen Ländern wahrgenommen. […]

Eine verantwortliche europäische Politik sollte weder auf regime change noch auf Eindämmung setzen. Sie muss eine Form des Engagements mit den regionalen Akteuren und den Problemen und Konflikten der Region suchen, das unseren Interessen und Werten entspricht. Hier ist nicht der Ort für ausführliche Politikempfehlungen. Aber drei Eckpunkte scheinen mir besonders wichtig: Bemühungen um Konfliktbeilegung, die Förderung politischer Transformation und die Bereitschaft zur Kooperation mit funktionierenden Staaten – auch mit solchen, die unseren politischen Vorstellungen nicht entsprechen.

Europäische Politik sollte sich weiter um die friedliche Regelung von Konflikten mit und zwischen regionalen Akteuren bemühen. […] Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben nicht nur aus humanitären Gründen ein elementares Interesse daran, auf ein Ende des Mordens in Syrien hinzuarbeiten. Dabei ist es wichtig, den Umgang mit dem Konflikt in Syrien nicht auf Terrorismusbekämpfung oder die Auseinandersetzung mit dem IS zu verkürzen. Es ist schädlich genug für das Ansehen Europas, wenn unter den Millionen Syrern und Syrerinnen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden oder ins Ausland geflohen sind, der Eindruck entsteht, der Westen bekämpfe zwar den IS, lasse die »normalen« Syrer aber mit Asad allein oder akzeptiere gar das Narrativ Asads, demzufolge es nur die Entscheidung zwischen ihm und dem islamistischen Terrorismus gebe. Internationale Politik muss sich um haltbare Waffenstillstände, um Verhandlungen und um einen politischen Übergangsprozess bemühen, der genügend Glaubwürdigkeit entfaltet, um dem IS und anderen Jihadisten den Boden zu entziehen. Europa wird seine guten Dienste auch in anderen zerrissenen Staaten anbieten müssen, nicht zuletzt im Jemen, in Libyen oder im Sudan. In all diesen Fällen wird ein Ausgleich sich nur durch Formen der Machtteilung finden lassen. […]

Die Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen ist essenziell und keinesfalls nur ein Herumdoktern an Symptomen. Ohne ausreichende Bildungs- und Ausbildungsangebote für Flüchtlinge in den Nachbarländern beispielsweise droht die Marginalisierung und Radikalisierung einer ganzen Generation. Es ist wichtig, dass auch Deutschland und die EU im Ganzen weiter Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen.
Dabei darf die Konfession der Flüchtlinge keine Rolle spielen. Eine gezielte Bevorzugung christlicher Flüchtlinge, wie einzelne Politiker dies gelegentlich vorschlagen, wäre grundfalsch. Nicht nur würden wir damit in der Region den Eindruck vermitteln, dass der Westen selbst eine konfessionelle Agenda hat. Wir würden auch, gegen den Wunsch der Kirchen im Nahen Osten, zum Exodus der Christen aus der Region beitragen und letztlich die Agenda all derer befördern, die den religiösen Pluralismus in diesen Ländern zerstören wollen. Europa muss deshalb bei der Aufnahme von Flüchtlingen sowie insgesamt im Umgang mit den Ländern und Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens konfessionell farbenblind sein. Das ist auch die überzeugendste Demonstration unserer demokratisch-säkularen Werte einschließlich unseres Verständnisses von Religionsfreiheit.

[…] Europäische Politik wird sich weiter für politische und wirtschaftliche Transformationsprozesse in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens stark machen müssen. […]

Europäer und andere externe Akteure können Ordnung, Frieden sowie Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten nicht von außen herstellen. Sie können auch terroristische Akteure wie den sogenannten Islamischen Staat nicht besiegen. Sie brauchen regionale Partner, die selbst Verantwortung übernehmen, nicht zuletzt, wo es darum geht, eine haltbare regionale Ordnung zu entwickeln. Europa kann diese Partner unterstützen, hat aber nur begrenzten Einfluss auf deren Agenda, ideologische Ausrichtung oder Regierungssysteme. Wir sollten unsere Präferenzen, Werte und Interessenlagen nicht verstecken. Im Gegenteil: Hier sollten wir eher transparenter und deutlicher sein. Als Faustregel gilt aber, dass wir in Fragen der regionalen Sicherheit und Ordnung prinzipiell bereit sein sollten, mit allen Staaten und Quasi-Staaten zusammenzuarbeiten, die funktionieren und ein Mindestmaß an guter Regierungsführung und Inklusivität aufweisen. […]

Europäische Politik ist gut beraten, einen intensiven politischen Dialog gerade auch mit schwierigen Partnern zu führen. Dazu gehört zunächst einmal anzuerkennen, dass jeder Staat auch legitime Interessen hat. Dass diese Partner sich in der Region besser auskennen und von regionalen Entwicklungen stärker betroffen sind als wir, gilt es ebenfalls zu akzeptieren. Das heißt nicht, dass wir ihre Politik für richtig halten müssen. Bei allen Differenzen, die wir mit Saudi-Arabien, Ägypten, Iran, den VAE, Katar, der Türkei, Israel oder dem palästinensischen Staat haben mögen – Differenzen sehr unterschiedlicher Art zweifellos –, müssen wir daran interessiert sein, dass diese Staaten ihre eigenen Probleme und die Probleme mit ihren Nachbarn konstruktiv bearbeiten können. Wenn sie dafür unsere Unterstützung suchen, sollten wir diese nicht verweigern. In jedem Fall ist es leichter, mit einem schwierigen, aber funktionierenden Partner umzugehen, als mit gescheiterten Staaten.

PROF. DR. VOLKER PERTHES   geboren 1958, leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die SWP berät den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung zu außen- und sicherheitspolitischen Themen.

* Bei dem Beitrag handelt es sich um Textauszüge aus: Volker Perthes, Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay. © Suhrkamp Verlag Berlin 2015. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Anmerkungen:

(1) Das Standardwerk hier ist nach wie vor David Fromkin, A Peace to End All Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York: Avon Books 1990.

(2) Der Begriff der erfundenen Gemeinschaften geht auf Benedict Anderson zurück, der in seinem Buch Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (London: Verso 1983, deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin: Ullstein 1998) erklärt, dass Nationen eher »imaginierte « und konstruierte oder eben »erfundene« als »natürliche« oder »ursprüngliche« Gemeinschaften sind. Entsprechendes lässt sich für ethnische Gruppen und Gemeinschaften sagen.

(3) Zahlen für 2015; Quelle: US Census Bureau, »Midyear population by 5-year age groups«, online unter: http://www.census.gov/population/international/data/idb/region.php (Stand April 2015).

(4) Quellen: Eurostat; UNHCR.

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