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Zur Verfas­sungs­mä­ßig­keit des „Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunfts­s­taaten ..."*

15. August 2016

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 49-62

Die Deklaration sicherer Herkunftsstaaten bildet (neben dem Abschluss bilateraler Rücknahmeabkommen) gegenwärtig ein zentrales Element der deutschen Migrationspolitik. Mit ihr könne – so die Befürworter – die Zahl (unberechtigter) Asylanträge verringert und die Verfahren durch den Wegfall der Einzelfallprüfung vereinfacht werden. Mit der Deklaration sicherer Herkunftsstaaten wird jedoch der Kern des Asylrechts immer weiter in Frage gestellt, so Norman Paech. Ein von ihm erstelltes Gutachten listet die verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken gegen das Konzept sicherer Herkunftsstaaten detailliert auf. Wir drucken Auszüge aus diesem Gutachten, das im Auftrag der „Europäischen Rom und Cinti Union“ erstellt wurde und auf der Webseite des Autors (s.u.) abrufbar ist. Seine Kritik bezieht sich auf das Konzept sicherer Herkunftsstaaten allgemein und ist auch jenseits der damals diskutierten Länder (Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien) gültig. Der Autor hat diesen Auszug für den Wiederabdruck um aktuelle Vorbemerkungen ergänzt.

Vorbe­mer­kung: Roma, die „falschen“ Flücht­linge?

Die steigenden Flüchtlingszahlen aus den Ländern, in denen Krieg und Elend nicht ohne Verantwortung der europäischen Staaten herrscht, haben trotz „Willkommenskultur“ den Druck in der Öffentlichkeit schon bald erhöht, die Flüchtlinge zumindest von den Grenzen des eigenen Staates fern zuhalten. Damit drohte die Flüchtlingspolitik in eine Selektion nach „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen zu pervertieren. Und die Roma, Opfer der Diskriminierung in ihren Herkunftsländern, waren auch hier die ersten Opfer der weiteren Einschränkung der deutschen Asylpolitik. Am 6. November 2014 trat das „Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten …“ in Kraft. Gemeint waren Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien. Ein Jahr später, im Oktober 2015 Jahres sind Albanien, Kosovo und Montenegro hinzugekommen. In der Öffentlichkeit wird nur vom Westbalkan gesprochen, dessen Flüchtlinge mit diesem Gesetz noch schneller in ihre Länder zurückgeschickt werden sollen. Die Wortwahl verschleiert, dass es sich eindeutig um ein Anti-Roma-Gesetz handelt, denn 80 Prozent der Flüchtlinge aus diesen Ländern sind Roma. Und für sie sind diese Staaten überhaupt nicht „sicher“.

Das Gesetz hat eine doppelt umstrittene und unrühmliche Geschichte. Es basiert auf der heftig umkämpften, aber schließlich von CDU/CSU, FDP und SPD im Mai 1993 durchgesetzten Änderung des Artikels 16 GG, die als „Asylkompromiss“ verharmlost wird, tatsächlich aber die weitgehende Aufhebung des Asylrechts ermöglichte. Dies nahm seinerzeit Günter Grass zum Anlass – und nicht nur er – die SPD zu verlassen. In dem neu eingefügten Art. 16 a GG eröffnet Absatz 3 dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Herkunftsstaaten zu bestimmen, „ bei denen gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. In der damaligen Begründung der Fraktionen hieß es: „Die gesetzliche Qualifizierung als sicherer Herkunftsstaat begründet eine widerlegbare Vermutung; der Ausländer kann geltend machen, entgegen der aus der gesetzlichen Bestimmung folgenden Regelvermutung ausnahmsweise politisch verfolgt zu sein. Eine dahin gehende Prüfung findet nur statt, wenn der Ausländer erhebliche Tatsachen substantiiert vorträgt.“ Damit sollte nicht nur dem Missbrauch vorgebeugt werden, sondern jede Form des Asyls sollte verhindert, zumindest erschwert werden. Das war ein direkter Angriff auf die Substanz des deutschen Asylrechts. Damals wurden Bulgarien, Gambia, Ghana, Polen, Rumänien, Senegal, Slowakei, Tschechien und Ungarn als sicher eingestuft. Gambia wurde später aus der Liste gestrichen und die europäischen Staaten wurden mit ihrer Aufnahme in die EU in die europäische Freizügigkeit einbezogen. Übrig blieben Ghana und Senegal, jetzt sind sechs europäische Staaten aus der Nachfolge der Zerschlagung Jugoslawiens hinzugekommen. Um drei weitere Staaten, Algerien, Marokko und Tunesien, wird noch gerungen.

Als Ziel wird die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens genannt, um den Aufenthalt der Flüchtlinge zu verkürzen und die Kommunen von den Sozialleistungen zu entlasten. Vor allem sollen jedoch weitere Flüchtlinge abgeschreckt werden. Dies wird bereits als Erfolg des Gesetzes gepriesen. Dabei war die Anerkennungsquote für Roma bereits vor dem Gesetz sowohl beim „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF) wie auch bei den Verwaltungsgerichten sehr gering. Dies hängt mit den ewigen Stereotypen über Roma, dem offensichtlichen Antiziganismus und einem Mangel der rechtlichen Würdigung der Herkunftsstaaten zusammen, an dem auch Beratung und Verabschiedung des Gesetzes vor einem Jahr kranken.

Das Recht auf Asyl ist ein Grundrecht, welches jedem einzelnen Flüchtling zusteht. Er hat einen Anspruch auf Einzelprüfung. Der Bundestag hat jedoch mit dem Gesetz den Ausländerbehörden die Einzelentscheidung über die Verfolgung abgenommen und generell die Staaten für verfolgungsfrei erklärt. Damit hat er die Beweislast umgekehrt und dem Flüchtling den Nachweis aufgebürdet, dass der Staat, aus dem er geflohen ist, entgegen der gesetzlichen Vermutung doch kein sicherer Staat ist. Insbesondere für Roma, die zum großen Teil Analphabeten sind, ist das eine schwer zu überwindende Hürde. Das zentrale Problem dieses Gesetzes ist jedoch, dass Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat die Sorgfalt bei der Analyse der Herkunftsstaaten vollkommen haben vermissen lassen, die ihnen vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1996 aufgegeben worden ist.

Nachdem sich CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag geeinigt hatten, die drei Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, beschleunigten sie den Gesetzgebungsprozess derart, dass niemand im Bundestag die Zeit für eine sorgfältige Prüfung finden konnte. Denn dann hätten sie tatsächlich sich mit den zahlreichen überaus kritischen Berichten über die Länder durch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, den EU-Ministerrat, den Menschenrechtskommissar, das Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Parlamentarische Versammlung des Europarates, der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, das United Nation Development Program (UNDP), das Kinderhilfswerk UNICEF bis hin zum U.S. Department of State Bureau of Democracy etc. auseinandersetzen müssen. Alle diese Materialien zeichnen ein Bild von der Situation der Roma in diesen Ländern, die nach den Kriterien der EU-Richtlinien nur als „strukturelle Verfolgung“ gewertet werden können. Die Open Society Foundation fasst in ihrem „Public Health Program“ die verzweifelte Situation der Roma zusammen:

„Roma erfahren systematische Diskriminierung und Ausschluss in verschiedenen Bereichen des Lebens wie Staatsbürgerschaft, Erziehung, Beruf, Wohnung und dem Zugang zu Gerichten. Viele Roma haben wenige wenn überhaupt keine persönlichen Dokumente, was ihnen den Zugang zu den grundlegenden und wesentlichen Diensten verwehrt. … Alle diese Probleme zusammen schaffen eine negative öffentliche Einstellung und Stereotype gegenüber den Roma, die tief verwurzelt immer handfestere Formen der Diskriminierung und Rechtsverletzung erzeugen, sowohl in der Gesundheitsversorgung wie auch in den anderen Bereichen. … Roma erfahren laufend eine entwürdigende Behandlung in den Gesundheitseinrichtungen, die niemals von anderen ethnischen Gruppen gemacht werden oder geduldet würde.“

Schließlich haben sich 27 Abgeordnete der SPD von ihrem eigenen Votum im Bundestag distanziert. Trotz ihrer grundsätzlichen Kritik an dem Gesetz hätten sie ihm nur deswegen zugestimmt, weil es Teil der Koalitionsabrede gewesen sei. Schon die vollkommen mangelhafte Prüfung und Auseinandersetzung im Gesetzgebungsprozess mit den zahlreichen Kritiken, die der Erklärung zu sicheren Herkunftsstaaten eindeutig widersprechen, machen dieses Gesetz verfassungswidrig. Es muss aufgehoben werden. Noch wichtiger allerdings ist, dass die verbreitete negative öffentliche Einstellung, die Stereotype und der allgemeine Antiziganismus in unserer Gesellschaft bekämpft wird, damit die Roma nicht als „schlechte“ und „falsche“ Flüchtlinge das Opfer einer gespaltenen und letztlich rassistischen Flüchtlingsselektion werden. Dieses Gesetz zumindest fördert den Antiziganismus mehr als dass es ihm entgegentritt.

A

Das Konzept sicherer Herkunftsstaaten ist in Art. 16a Abs. 3 GG verankert. Demnach kann der Gesetzgeber Staaten bestimmen, „bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. Bei einem Ausländer aus diesen Ländern wird vermutet, dass er nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. Die Prüfungsaufgabe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beschränkt sich durch die antizipierte Tatsachen- und Beweiswürdigung des Gesetzgebers auf die Frage, ob dem Antragsteller der Widerlegungsvortrag gelingt. Ist dies nicht der Fall, ist der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen (§ 29a AsylVfG) und eine Abschiebeandrohung mit einwöchiger Ausreisefrist zu erlassen (§ 36 Abs. 1 AsylVfG). Durch das Verdikt der offensichtlichen Unbegründetheit entfällt das vorläufige Bleiberecht des Antragstellers (§ 75 S. 1 AsylVfG), und seine Rechtsschutzmöglichkeiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unterliegen erheblichen Einschränkungen (§ 36 Abs. 3, 4 AsylVfG). Durch die gesetzliche Bestimmung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat wird der verfahrensbezogene Gewährleistungsinhalts des Grundrechts auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG für alle Asylsuchenden aus diesem Land also erheblich beschränkt.

Ziel des Gesetzes ist laut Begründung, „die Möglichkeit“ zu verbessern, „aussichtslose Asylanträge von Antragstellern aus diesen Staaten in kürzerer Zeit zu bearbeiten und damit den Aufenthalt dieser Personen in Deutschland schneller beenden zu können“.(1) Gleichzeitig könne dadurch im Falle bestehender Hilfsbedürftigkeit „die Zeit des Sozialleistungsbezugs in Deutschland verkürzt und der davon ausgehende Anreiz für eine Asylantragstellung aus wirtschaftlichen Gründen reduziert“ werden. Es sind also zwei Ziele, die mit der Gesetzesänderung verfolgt werden: die Beschleunigung der Abschiebung im Asylverfahren und die Abschreckung vor der Flucht nach Deutschland. Da die Bundesregierung selbst lediglich mit einer „Verkürzung der Bearbeitungsdauer um jeweils 10 Minuten“ rechnet, setzt sie vor allem auf Abschreckung: „Durch die Einstufung der Westbalkanstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten ist mit einem Rückgang der Zugangszahlen zu rechnen, der zu nicht unerheblichen Entlastungen führen dürfte. …. Der Gesetzentwurf ist daher auch als klares Signal an diejenigen gedacht, die offensichtlich unbegründete Asylanträge stellen … Der angestrebte Entlastungseffekt entsteht daher ganz überwiegend durch eine Verringerung der Zahl der gestellten Anträge.“(2) Da die Flüchtlinge aus den drei Staaten in der Vergangenheit zu Zweidritteln und mehr Roma waren,(3) kann das Gesetz den Eindruck eines Anti-Roma-Gesetzes kaum vermeiden.

I.

Nach Art. 16a Abs. 3 GG darf ein Staat nur dann als sicherer Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet.

1. Art. 16a Abs. 3 GG greift mit dem Begriff der politischen Verfolgung die Formulierung des Art. 16a I GG auf. Verfolgung im Sinne des Art. 16a I GG setzt die gegenwärtig drohende, gezielte Beeinträchtigung absoluter Rechtsgüter – Leib, Leben oder persön­liche Freiheit – voraus, durch die/der Betroffene in eine ausweglose Lage gebracht wird.

Bei einer Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter ist die Verfolgung nur dann asyl­erheblich, wenn die Maßnahme nach ihrer Art, Schwere und Intensität die Menschenwürde verletzt und über das hinausgeht, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben.(4)

Eine solche Verfolgung ist dann politisch, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an bestimmte asylerhebliche Merkmale – nämlich seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen – gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.(5)

Politische Verfolgung ist dabei grundsätzlich staatliche Verfolgung.(6)

Verfolgungsmaßnahmen privater Dritter sind nur dann politische Verfolgung, wenn sie dem Staat zuzurechnen sind (sog. Zurechnungslehre). Das ist dann der Fall, wenn er die Verfolgungshandlungen Dritter anregt, unterstützt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt, weil er hierzu nicht willens ist oder nicht fähig ist, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall einzusetzen.(7)

Die Zurechnung endet aber dort, wo der Staat prinzipiell und auf Dauer nicht in der Lage ist, solche Übergriffe zu verhindern, die Schutzgewährung also seine Kräfte übersteigt.(8)

Da es um die Beurteilung der allgemeinen Situation in einem Land geht, ist ein Staat auch bei regional begrenzter Verfolgung nicht sicher im Sinne des Art. 16a III GG. Anders als bei der Einzelfallprüfung im Rahmen des Art. 16a I GG, ist eine bestehende inländische Fluchtalternative somit unerheblich. Vielmehr muss die Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit bestehen.(9)

Ein Staat kann auch dann nicht zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn dort nur Angehörige einer bestimmten Gruppe, nicht hingegen andere, dieser Gruppe nicht angehörende Personen verfolgt werden. Wenn ein Staat bei genereller Betrachtung überhaupt zu Verfolgung greift, sei dies auch auf eine oder einige Personen- oder Bevölkerungsgruppen begrenzt, kann die Verfolgungsfreiheit auch für die übrige Bevölkerung nicht mehr generell gewährleistet werden. Die Sicherheit vor politischer Verfolgung muss deshalb für alle Bevölkerungsgruppen bestehen.(10)

2. Damit ein Staat als sicher eingestuft werden darf, muss nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG zudem gewährleistet erscheinen, dass dort keine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Mit dieser Bezugnahme auf die Bestimmung des Art. 3 EMRK geht Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG über den Schutzbereich von Art. 16a Abs. 1 GG hinaus. Durch die Erweiterung des Prüfungsumfangs soll den fließenden Übergängen zu asylrechtlich erheblichen Verfolgungsmaßnahmen Rechnung getragen werden.(11)

Wesentliches Merkmal dieses Verfolgungsbegriffs ist seine Staatsfixiertheit, die den Flüchtlingsschutz davon abhängig macht, dass die Verfolgung von staatlichen Organen, ob Polizei, Justiz, Behörden oder Gesetzgeber ausgeht. Zudem wird damit der Eingriff vornehmlich auf die politischen Rechte verkürzt. Beides entsprach schon lange nicht mehr der sozialen Realität in den Ländern, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen, auf jeden Fall nicht der Realität in Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina. Insbesondere wurde durch die Rechtsetzung auf EU-Ebene (asylrechtliche Richtlinien) der Staatsfixiertheit des in der deutschen Rechtsprechung entwickelten Verfolgungsbegriffs wirksam entgegengewirkt.

II.

Das Konzept sicherer Herkunftsstaaten ist europarechtlich in Art. 36f. der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrens-Richtlinie) geregelt. Nach Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie können die Mitgliedsstaaten Rechts-oder Verwaltungsvorschriften beibehalten oder erlassen, aufgrund deren sie im Einklang mit Anhang I zur Verfahrens-Richtlinie sichere Herkunftsstaaten bestimmen können. Die nationale Vorschrift zur Einstufung sicherer Herkunftsstaaten, Art. 16a Abs. 3 GG, darf also beibehalten werden, aber nur im Einklang mit Anhang I angewandt werden.

1. Gemäß Abs. 1 von Anhang I Verfahrens-Richtlinie gilt ein Staat nur dann als sicher, „wenn sich anhand der dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikations-Richtlinie) noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind“.

Der deutsche Gesetzgeber ist wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an die Art. 36f. Verfahrens-Richtlinie gebunden, soweit diese strengere Anforderungen als die nationalen Vorschriften hinsichtlich der Einstufung eines Herkunftsstaates als sicher stellen. Davon geht auch der Entwurf des Einstufungsgesetzes aus.

Ein Staat darf nach Abs. 1 von Anhang I der Verfahrens-Richtlinie zunächst dann nicht als sicher eingestuft werden, wenn dort eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Qualifikations-Richtlinie zu befürchten ist. Der Verfolgungsbegriff der Qualifikations-Richtlinie wurde mittlerweile durch § 3 a AsylVfG auch auf nationaler Ebene übernommen. Gemäß Art. 9 Abs. 1 Qualifikations-Richtlinie muss eine Handlung, um als Verfolgung zu gelten, entweder aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

Die Vorschrift beschränkt Verfolgungshandlungen also einerseits auf grundlegende Menschenrechte. Dazu zählen ausweislich des Wortlauts insbesondere die Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Abs. 2 der EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dieser notstandsfeste Kern der EMRK umfasst das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Folterverbot (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Prinzip nulla poena sine lege (Art. 7 EMRK). Der Hinweis auf den notstandsfesten Kern hat jedoch keine begrenzende Funktion, sondern lediglich beispielhaften Charakter.(12)

Bei der Qualifizierung als „grundlegend“ hat die Rechtsprechung keine hohen Hürden aufgestellt. Als grundlegende Menschenrechte kommen etwa auch die Art. 5 EMRK (Freiheit und Sicherheit), Art. 6 (faires Verfahren), Art. 9 (Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit), Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung), Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Betracht.(13)

Auch der Entzug der Staatsangehörigkeit (Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) wurde vom BVerwG als Verstoß gegen ein grundlegendes Menschenrecht anerkannt.(14)

Art. 9 Abs. 1 lit. a Qualifikations-Richtlinie verlangt zudem, dass das betroffene grundlegende Menschenrecht schwerwiegend verletzt ist. Es genügt also nicht jede Verletzung, sondern es wird eine gewisse Intensität verlangt. Was im konkreten Fall schwerwiegend ist, bedarf einer wertenden, alle vorgebrachten und sonst ersichtlichen Umstände und Tatsachen einschließenden Gesamtbetrachtung.(15)

Art. 4 Abs. 3 lit. c Qualifikations-Richtlinie schreibt diesbezüglich ausdrücklich vor, dass die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen sind, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung kann es zudem hilfreich sein, die Schwere des konkreten Eingriffs dem Umfang gegenüberzustellen, in dem das entsprechende Rechtsgut menschenrechtlich geschützt ist.(16)

Der erforderliche schwerwiegende Charakter der Verletzung kann sich im Rahmen des Art. 9 Abs. 1 lit. a Qualifikations-Richtlinie insbesondere auch aus der Wiederholung gleichartiger Handlungen ergeben, die zwar nicht einzeln aber in ihrer Gesamtwirkung eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen.(17)

Eine Verfolgung kann gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b Qualifikations-Richtlinie darüber hinaus aber auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a beschriebenen Weise betroffen ist.

Dadurch wird der Verfolgungsbegriff der Qualifikations-Richtlinie gegenüber Art. 9 Abs. 1 lit. a erweitert: Unterschiedliche Maßnahmen niedriger Eingriffsintensität, die jeweils für sich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 lit. a nicht erfüllen, können durch ihre Kumulierung ebenfalls eine Verfolgung darstellen, wenn sie in ihrer Gesamtwirkung eine ähnliche Betroffenheit auslösen. Erforderlich hierfür ist eine Gesamtbewertung der Situation der schutzsuchenden Person.(18)

Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b der Qualifikations-Richtlinie sind deshalb zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen.(19) Es ist also nicht erforderlich, dass die einzelnen Maßnahmen bereits eine Menschenrechtsverletzung darstellen.(20)

Anschließend ist anhand einer Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 lit. a Qualifikations-Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen zu ermitteln, ob diese in ihrer Gesamtwirkung eine Betroffenheit in ähnlicher Weise begründen. Dazu muss der Maßstab für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte jeweils fallbezogen konkretisiert werden.(21)

Der Zweck des Kumulationsansatzes besteht also darin, alle diskriminierenden Maßnahmen zu identifizieren, um anschließend die Frage beantworten zu können, ob diese in ihrer Gesamtwirkung einer Verfolgung gleichkommen.(22)

Anders als in Art. 9 I lit. a) Qualifikations-Richtlinie ist der Kumulationsansatz nicht auf „grundlegende“ Menschenrechte beschränkt. Vielmehr sind konzeptionell alle Menschenrechte zu berücksichtigen.(23)

Die Prüfung darf sich deshalb nicht auf bürgerliche und politische Rechte beschränken, sondern muss auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (sog. WSK-Rechte) mit einbeziehen. Dazu zählen insbesondere auch das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf einen angemessen Lebensstandard (Art. 12, 13 und 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte). Zwar unterscheidet den Flüchtlingsschutz vom Menschenrechtsschutz, dass nicht die ungehinderte größtmögliche Ausübungsfreiheit der Menschenrechte gewährt werden soll, sondern dass dieser nur eingreift, wenn die Verletzung ernsthaft genug ist.(24)

Bei der Prüfung von Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b Qualifikations-Richtlinie dürfen mögliche Verletzungen der WSK-Rechte aber nicht außer Acht gelassen werden. Prof. Daniel Thym weist in der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages darauf hin, dass die WSK-Rechte nicht in derselben Art und Weise rechtlich geschützt sind, wie das bei den politischen und bürgerlichen Menschenrechten der Fall ist.(25)

Das stimmt rechtlich nicht, denn die WSK-Rechte verfügen über die gleiche rechtliche Verbindlichkeit wie die politischen und bürgerlichen Menschenrechte. Der häufig nur unzureichend gewährte Schutz stellt jedoch ein seit langem kritisiertes Defizit dar, welches sich durch die ganze Menschenrechtsdebatte seit 1945 zieht. Ausdruck dieses minderen Schutzes findet sich z.B. in der ehemaligen Asylrechtsprechung, die ein Asylrecht nur bei einer „völligen wirtschaftlichen Existenzvernichtung“ anerkennen wollte.(26)

Einen ähnlich strengen Prüfungsmaßstab legt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wenn sie eine Verfolgungssituation nur dann für gegeben ansieht, wenn staatliche Maßnahmen darauf abzielen, Mitglieder einer Minderheit „physisch zu vernichten“ oder mit der „Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen“ zu bedrohen.(27)

Auch das Bundesverwaltungsgericht stellt für die flüchtlingsrelevante Verletzung der Rechte auf eine „existentielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkung“ ab. (28) Es fügt jedoch hinzu: „ Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a (Art. 9 Abs. 1 a Richtlinie 2004/83/ EU) entspricht.“ Es ist also mehr ein Problem der Quantität als der Qualität, bei der alle unterschiedlichen Eingriffe wie Diskriminierungen, Repressalien, Bedrohungen, Nachteile und Beeinträchtigungen untersucht werden müssen, um in der Summe zu der Einschätzung einer ähnlich schweren Rechtsverletzung bei den Betroffenen zu kommen wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gem. Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU.

Bei dieser Prüfung darf der Verletzung der WSK-Rechte für die Verfolgungssituation der Flüchtlinge keine geringere Bedeutung als der Verletzung der politischen und bürgerlichen Menschenrechte zuerkannt werden. Die WSK-Rechte sind genauso flüchtlingsrelevant wie die politischen und bürgerlichen Rechte. Sie sind gleichberechtigter Teil des demokratischen Systems. Der Schutz des Selbstbestimmungsrechts und der demokratischen Teilhabe an der Gesellschaft, in der die Flüchtlinge gelebt haben, umfasst alle Dimensionen der individuellen Existenz, die politische ebenso wie die ökonomische und soziale, die bürgerliche ebenso wie die kulturelle Existenz.

Das ändert sich auch nicht mit der Feststellung, dass effektiver Menschenrechtsschutz nicht dasselbe bedeutet wie der Schutz im Flüchtlingsrecht. D.h., dass das Flüchtlings- und Asylrecht nicht dazu da ist, die ökonomischen und wirtschaftlichen Probleme der Herkunftsstaaten zu lösen – genauso wenig wie die politischen und demokratischen Probleme. Entscheidend ist der Schutz vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Kriterium ist die schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte, die in beiden internationalen Pakten kodifiziert sind.(29)

2. Für den Gesetzgeber bedeutet der Kumulationsansatz bei der Einstufung eines Herkunftsstaates als sicher einen erheblichen Prüfungsaufwand: Zunächst hat er alle Menschenrechtsverletzungen einschließlich der Verletzungen der WSK-Rechte in dem Land in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber auch alle anderen Diskriminierungen und Benachteiligung, denen die Bürger des Herkunftsstaates ausgesetzt sind, in seine Betrachtung einzubeziehen, auch wenn diese keine Menschenrechtsverletzungen darstellen. Hat er sich darüber ein umfassendes Bild gemacht, hat der Gesetzgeber anschließend die Frage zu klären, ob es sich nachweisen lässt, dass sich die festgestellten Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen in dem Herkunftsstaat generell und durchgängig nicht so in einer Person kumulieren, dass sie in ihrer Gesamtwirkung eine Betroffenheit in ähnlicher Weise wie bei einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte begründen.

Die Verletzung der Menschenrechte kann auf Grund der umfangreichen und detaillierten Definitionen in beiden Internationalen Pakten und weiteren Spezialkonventionen relativ genau erkannt werden. Demgegenüber stellt der Begriff der Diskriminierung auf Grund seiner Unschärfe stärkere Anforderungen an seine Präzisierung und Relevanz für den Flüchtlingsschutz. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Satz, dass nicht jeder Verstoß gegen die in den Pakten kodifizierten Menschenrechte eine Verfolgung darstellt,(30) umso mehr für Diskriminierungen gilt. Ein Anhaltspunkt dafür, was unter den Begriff der Diskriminierung zu subsumieren ist, kann in dem Katalog des Art. 1 A Nr. 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gesehen werden. Danach ist derjenige Flüchtling, der sich wegen seiner „Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung“ außerhalb seines Herkunftslandes befindet und aus diesen Gründen dorthin nicht zurückkehren will oder kann. Diese Aufzählung liest sich wie die Konkretisierung des Diskriminierungsverbotes. Damit soll die menschliche Integrität in ihrer ethnischen, religiösen, sozialen und kulturellen Identität geschützt werden, was durchaus zutreffend als Schutz des „Rechts auf Selbstbestimmung“ umschrieben worden ist.(31)

Dies kann jedoch nicht abstrakt-generell festgestellt werden, sondern nur jeweils konkret auf den einzelnen Fall bezogen in seinem spezifischen nationalen und kulturellen Kontext. So stellt sich Diskriminierung in der Gesellschaft des Herkunftsstaats zweifellos anders dar als in der des Aufnahmestaats. Denn das Maß dessen, was als normale Belastung in der Gesellschaft zu akzeptieren und zu ertragen ist, variiert und ist national durchaus unterschiedlich. Was über die „normale“ und zumutbare Diskriminierung hinaus als Verfolgung und nicht mehr zu ertragende Diskriminierung qualifiziert werden muss, bedarf weiterer Untersuchung. Der UNHCR gibt in seinem Handbuch von 1979/2003 folgende Richtlinie vor: „Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist Diskriminierung mit Verfolgung gleichzusetzen. Dies wäre nur der Fall, wenn die Diskriminierungsmaßnahmen Konsequenzen mit sich brächten, welche die betroffene Person in hohem Maße benachteiligen würden, z.B. eine ernstliche Einschränkung des Rechts, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder des Zugangs zu den normalerweise verfügbaren Bildungseinrichtungen.“(32)

Für den Schutz des Flüchtlings ist entscheidend, dass er aufgrund seiner Erlebnisse vor seiner Flucht für den Fall seiner Abschiebung befürchten muss, wieder in eine Situation permanenter diskriminierender „Nadelstiche“(33) getrieben zu werden, die ihm schon einmal keinen Ausweg bot und auch jetzt wieder keinen Ausweg bietet.

Wie bereits betont, bestehen daran, dass diese Feststellung im Rahmen der abstrakt-generellen Einstufung der Sicherheit eines gesamten Herkunftsstaates überhaupt möglich ist, erhebliche Zweifel. Denn, ob durch die Kumulierung verschiedener Beeinträchtigungen die Schwelle der Verfolgung überschritten ist, kann jeweils nur individuell und im Einzelfall beurteilt werden. Allgemein verbindlich festzulegen, inwieweit kumulative Gründe den Verfolgungsbegriff erfüllen, ist nicht möglich.(34)

Es liegt in der Natur diskriminierender Verfolgungsmuster, dass sie nicht anhand starrer begrifflicher Kriterien erfasst werden können, sondern in der Feststellungspraxis eine offene und pragmatische Herangehensweise erfordern.(35)

Das Bundesverwaltungsgericht hat hinsichtlich der Anwendung des Art. 9 Abs. 1 lit. b zudem selbst ausgeführt: „…ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlichen schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabes für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen.“(36)

Wenn sich aber ein allgemein verbindlicher Maßstab, wann die Kumulierung verschiedener Eingriffshandlungen den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, schon nicht festlegen lässt, kann die Lage in einem Land diesbezüglich aber auch nicht abstrakt-generell bewertet werden. Wie soll der Gesetzgeber für ein ganzes Land abstrakt-generell ausschließen, dass dort die Kumulierung in allen Einzelfällen in ihrer Gesamtwirkung eine Verfolgung begründet, wenn sich der Maßstab, wann dies der Fall ist, nur für jeden Einzelfall bestimmen lässt? Wenn in einem Staat also eine Vielzahl diskriminierender Beeinträchtigungen gegenüber bestimmten Gruppen bestehen, lässt es sich mangels entsprechenden Maßstabes somit nicht nachweisen, dass generell und durchgängig der Tatbestand des Art. 9 Abs. 1 lit. b nicht erfüllt ist; eine Einstufung dieses Landes als sicherer Herkunftsstaat ist dann nicht rechtmäßig.

3. Der europäische Verfolgungsbegriff erweitert den nationalen Begriff der politischen Verfolgung auch hinsichtlich der Akteure, von denen die Verfolgungshandlungen ausgehen können. In Art. 6 Qualifikations-Richtlinie werden neben dem Staat (lit. a) insbesondere auch nichtstaatliche Akteure (lit. c) genannt.

Der europäische Verfolgungsbegriff folgt dabei der völkerrechtlichen Schutzlehre.(37) Demnach ist es grundsätzlich unerheblich, von wem eine Verfolgung ausgeht, entscheidend ist, ob der Antragsteller im Herkunftsstaat wirksamen Schutz vor der Verfolgung erlangen kann.(38) Dieses Konzept wurde mittlerweile durch § 3 AsylVfG auch auf nationaler Ebene übernommen.

Wegen der Subsidiarität des internationalen Schutzes(39) ist der Flüchtling bei einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure gemäß Art. 6 lit. c Qualifikations-Richtlinie jedoch gefordert, darzulegen, dass der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Art. 7 Qualifikations-Richtlinie zu bieten. Mit dem Ausdruck „erwiesenermaßen“ ist keine verschärfte Beweislast verbunden. Vielmehr genügt es, wenn der Antragsteller Tatsachen darlegt, aus denen sich die mangelnde Schutzbereitschaft ableiten lässt.(40) Dann ist es dem Flüchtling unzumutbar, dass er sich nach der Rückkehr innerhalb des Herkunftslandes um Schutz gegen die private Verfolgung bemüht, so dass ein Eingreifen des nachrangigen internationalen Schutzes notwendig ist.

In Fällen nicht-staatlicher Verfolgung kommt es somit maßgeblich darauf an, ob ausreichender Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat im Sinne des Art. 7 Abs. 2 Qualifikations-Richtlinie besteht. Demnach muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Ein Schutz ist generell gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern (z.B. durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen) und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Ein zureichender Schutz gegen nicht-staatliche Verfolgung kann nur dann angenommen werden, wenn die eingeleiteten Schutzmaßnahmen effektiv sind, d.h. generell geeignet sowie funktional sind und für den Einzelnen den Zugang zur Schutzerlangung auch tatsächlich ermöglichen.(41)

Es müssen also zwei Tatbestandskomplexe für den Schutz im Herkunftsland erfüllt sein: Die generelle Schutzfähigkeit und -willigkeit des Staates und die Effektivität des Schutzes für die schutzsuchende Person, also ein konkreter Zugang im Einzelfall zu dem benötigten Schutz.(42) Es reicht daher nicht aus, dass ein Staat Verfolgungshandlungen missbilligt oder auch Gesetzesänderungen veranlasst, sondern es müssen ebenso die tatsächlichen Grenzen dieser Maßnahmen in den Blick genommen werden, also die Frage, ob der Schutz auch den Einzelnen erreicht.(43)

Das VG Stuttgart hat insofern hinsichtlich Zwangsheirat und sog. Ehrenmorden in der Türkei ausgeführt: „Einen effektiven Schutz vermag der türkische Staat in diesem Zusammenhang nicht zu gewähren. Denn obwohl der türkische Staat diese Verhältnisse in offiziellen Stellungnahmen missbilligt und auch keinesfalls tatenlos geblieben ist, insbesondere was die Ahndung und Verfolgung sog. Ehrenmorde betrifft, so sprechen doch die genannten Erkenntnismittel eine deutliche Sprache, was die Grenzen dieser Maßnahmen und der Einwirkungsmöglichkeiten betrifft. Es kann allenfalls davon ausgegangen werden, dass die Türkei am Beginn eines Umdenkungsprozesses steht, der allerdings nur in Ansätzen in die gesellschaftliche Wirklichkeit Eingang gefunden hat“.(44)

Für das Verfahren der Einstufung eines Herkunftsstaates als sicher bedeutet dies zunächst, dass der Gesetzgeber ausnahmslos alle Verfolgungshandlungen – unabhängig von ihrem Ursprung – in den Blick zunehmen hat. Insbesondere darf er Handlungen von privaten Gruppierungen oder auch Einzelpersonen nicht außer Acht lassen. Falls Anhaltspunkte für Fälle nicht-staatlicher Verfolgung in einem Herkunftsstaat bestehen, muss sich der Gesetzgeber zudem detailliert damit auseinander setzen, inwiefern gegen diese effektiver nationaler Schutz besteht: Bestehen schützende Rechtsvorschriften? Können diese von den Betroffenen tatsächlich in Anspruch genommen werden? Werden sie im Fall der Inanspruchnahme auch mit entsprechenden Maßnahmen durchgesetzt? Hinsichtlich all dieser Punkte sind die zugänglichen Quellen mit der gebotenen Sorgfalt auszuwerten.

NORMAN PAECH   studierte Geschichte und Recht in Tübingen, München, Paris und Hamburg. Seine Dissertation (1965) befasste sich mit Arbeits- und Öffentlichem Recht. Nach Zwischenstationen im Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und der Forschungsstelle der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) erhielt er 1975 eine Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg, 1982 wechselte er auf eine Professur für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, die er bis 2003 inne hatte. Paech gehörte von 1969 bis zu seinem Austritt (2001) der SPD an, ab 2007 war er Mitglied der Partei DIE LINKE, für die er von 2005 bis 2009 im Deutschen Bundestag saß und als Außenpolitischer Sprecher der Fraktion Tätig war. Persönliche Webseite: www.norman-paech.de.

* Ich danke Herrn Daniel Kamiab Hesari für seine wertvolle Mitarbeit.

Anmerkungen:

(1)  Entwurf„Einstufungsgesetz“, Deutscher Bundestag Drs. 18/258 v. 26. Mai 2014, S. 8.

(2)  Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Deutscher Bundestag Drucksache 18/394, zu Frage 9 und 19.

(3)  Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Deutscher Bundestag Drucksache 18/2471 v. 3. September 2014, Informationen zur Asylstatistik für das zweite Quartal 2014, S. 31f.

(4)  Vgl. BVerfG, B. v. 02, 07, 1980 – 1 BvR 147/80.

(5)  Vgl. BVerfGE 80, 315, 335.

(6)  Vgl. BVerfGE 80, 315, 335.

(7)  Vgl. BVerfGE 54, 341.

(8)  Vgl. BVerfGE 94, 115, 134 f.

(9)  Vgl. BVerfGE 94, 115, 135 f.

(10) Vgl. BVerfGE 94, 115, 135 f.

(11) Vgl. BVerfGE 94, 115, 137.

(12) Vgl. R.Bank, N. Schneider, Durchbruch für das Flüchtlingsvölkerrecht, Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 5; R. Göbel-Zimmermann, Th. Masuch, in B. Huber, AufenthG, § 60 AufenthG, Rn. 60; R. Marx, Flüchtlingsschutz, § 12 Rn. 4 f.

(13) Vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 29.11.2006 – 1 A 164/04, S. 14.

(14) Vgl. BVerwG, InfAuslR 2009, 310; R. Göbel-Zimmermann, Th. Masuch in B. Huber, AufenthG, § 60 AufenthG, Rn. 60.

(15) Vgl. BVerwG, 20.02.2013, 10 C 23.12, Rz. 35; R. Göbel-Zimmermann, Th. Masuch, in B. Huber, AufenthG, § 60 AufenthG, Rn. 61; E. Hollmann, Die Qualifikationsrichtlinie – Voraussetzung des Flüchtlingsschutzes nach dem europäischen Recht, S. 8.

(16) Vgl. J. Dörschner, Vermeidungsverhalten bei religiöser Verfolgung, S. 139.

(17) Vgl. R. Bank, F. Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Beilage zum Asylmagazin 10/2008, S. 3.

(18) Vgl. R. Bank, F. Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Beilage zum Asylmagazin 10/2008, S. 3.

(19) Vgl. BVerwG, 20.02.2013, 10 C 23.12, Rz. 37.

(20) Vgl. J. Dörschner, Vermeidungsverhalten bei religiöser Verfolgung, S. 141; E. Hollmann, Asylfolgeantrag auf Grund der Qualifikaktionsrichtlinie, Asylmagazin 11/2006, S. 6.

21) Vgl. BVerwG, 20.02.2013, 10 C 23.12, Rz. 37.

(22) Vgl. R. Marx, Diskriminierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 2013, 233, 236.

(23) Vgl. R. Marx, Asylverfahrensgesetz, § 3a, Rn. 13.

(24) Vgl. R. Marx, Asylverfahrensgesetz, § 3a, Rn. 14.

(25) Vgl. Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Innenausschuss v. 23. Juni 2014, Wortprotokoll der 15. Sitzung Nr. 18/15, S. 19, 31.

(26) Vgl. z.B. BayVGH, Urteile v. 27. April 1971-Nr. 152 VIII 69; v. 12. März 1975 – Nr. 222 VIII 72; v. 24. Mai 1976 – Nr. 226 II 73; Nachweise bei R. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2012, S. 54 ff.

(27) Vgl. BVerfGE 76, 143, 158.

(28) BVerwG, Urteil v. 20. Februar 2013 – 10 C 23.12. unter Bezug auf UNHCR Richtlinie v. 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rz. 17.

(29) Vgl. R. Marx, Diskriminierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 7-8/2013, S. 233 ff., 237 ff.

(30) Vgl. EuGH, Urteil v. 5. September 2012, InfAuslR 2012, 444.

(31) Vgl. R. Marx, Diskriminierung als Fluchtgrund, ASYLMAGAZIN 78/2013, S. 233 ff., 234.

(32) Vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf, 1979/2003, Rz. 54.

(33) R. Marx, Diskriminierung als Fluchtgrund, S. 237.

(34) Vgl. auch R. Marx, Flüchtlingsschutz, § 13 Rn. 13.

(35) Vgl. R. Marx, Asylverfahrensgesetz, § 3a Rn. 12.

(36) BVerwG, 20.02.2013, 10 C 23.12, Rz. 37.

(37) Vgl. R. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2012, § 15, Rn. 8 ff.

(38) Vgl. Kommission, KOM (2001)510 endgültig; Ratsdok S. 18, in: BR-Drucks. 1017/01.

(39) Vgl. R. Bank, N. Schneider, Durchbruch für das Flüchtlingsvölkerrecht, Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 7.

(40) Vgl. R. Bank, N. Schneider, Durchbruch für das Flüchtlingsvölkerrecht, Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 9; Hailbronner; Ausländerrecht, § 3a AsylVfG, Rn. 14; E. Hollmann, Die Qualifikationsrichtlinie – Voraussetzung des Flüchtlingsschutzes nach dem europäischen Recht, S. 13.

(41) R. Bank, F. Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Beilage zum Asylmagazin 10/2008, S. 16.

(42) R. Bank, N. Schneider, Durchbruch für das Flüchtlingsvölkerrecht, Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 8.

(43) R. Bank, F. Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Beilage zum Asylmagazin 10/2008, S. 16; siehe auch K. Hailbronner; Ausländerrecht, § 3d AsylVfG, Rn. 19.

(44) VG Stuttgart, Urteil vom 29.1.2007, A 4 K 1877/06, Rn.

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