Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 219: Soziale Menschenrechte

Die Erlaubnis zum Erwerb tödlicher Medikamente

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 134-136

(Red.) In der letzten Ausgabe der vorgänge (Heft 218, S. 117 ff.) kommentierte Rosemarie Will eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum jahrelangen Rechtsstreit um die Abgabe eines tödlichen Medikaments (Az. BVerwG 3 C 19.15). Auf diesen Beitrag reagierte Johann F. Spittler, der viele Jahre lang sterbewillige Menschen im Auftrag von Sterbehilfe Deutschland e.V. begutachtet und betreut hat. Seine Einschätzung der Entscheidung fällt weniger positiv aus, als die Kommentierung von Rosemarie Will. Sie erläutert im Nachgang ihre Gründe für die positive Bewertung noch einmal.

Sehr geehrte Frau Will,

… aus der ärztlich-psychiatrischen Sicht ist das Leipziger Urteil – wie allgemein geschehen – als ein grundsätzlicher Schritt einer Liberalisierung für die Rechtsgeschichte der BRD nicht hoch genug einzuschätzen. Aus der Sicht von Suizid-Beihilfe-Aspiranten greift dieser Schritt bei Weitem zu kurz.

Vor Inkrafttreten des § 217 StGB habe ich 494 Menschen mit Beihilfe-Ersuchen an Dignitas und Sterbehilfe Deutschland eingehend ärztlich-neurologisch-psychiatrisch zur Frage ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit, der Selbstbestimmtheit ihrer Urteilsbildung und zur Wohlerwogenheit (von mir verstanden als Lebensentwurfs-Konformität) untersucht. Vor diesem Hintergrund ist es mein dringendes Bedürfnis, diesen Menschen eine qualifiziert begründete Stimme in der Öffentlichkeit zu geben.

Aus meiner Kenntnis der kontroversen gesellschaftlichen Debatte ist es für mich verständlich, dass das BVerwG eine sehr restriktive Formulierung gewählt hat: „… wenn sich ein schwer und unheilbar Kranker wegen seiner Erkrankung in einer extremen Notlage befindet …“. Befriedigen kann eine solche Restriktion unter dem Aspekt des heute in manchen Diskussionen beinahe zu einem herabwürdigenden Kampfbegriff gewordenen Selbstbestimmungsrechts jedoch nicht.

Nach den Erfahrungen aus der vorgenannten Untersuchungsreihe waren etwa 2/3 der Gesuche mit einer gravierenden körperlichen Krankheit (besonders Karzinome, amyotrophe Lateralsklerose, schwergradige Atembeeinträchtigungen) begründet. Etwa 1/5 der Gesuche waren maßgeblich mit schwergradigen psychischen Störungen begründet.

Ich hätte es mir in meinem früheren Leben als Arzt nicht in meinen düstersten Träumen vorstellen können, wie schwerwiegend Missbrauch in der Kindheit das gesamte Leben beeinträchtigt und wie wenig eine bis zu 50jährige Psychotherapie zu einer durchgreifenden Besänftigung des Leidens bei gleichzeitiger beeindruckender Klarheit der Selbstbeurteilung helfen kann. Schließlich hat bei etwa 1/10 der Gesuche das höhere Lebensalter, die bisher uneingeschränkte, manchmal eigenwillige Selbstbestimmtheit der Lebensführung und der Unwille – nicht eine Angst – die zunehmenden Einschränkungen des Alters und der Abhängigkeit ertragen zu sollen, die wesentliche Begründung ausgemacht.

Selbstverständlich ist unschwer nachzuvollziehen, dass die würgende Lebensbedrohung einer metastasierenden Karzinom-Erkrankung oder die beklemmende Bedrohung des Erstickens bei der amyotrophen Lateralsklerose oder einer fortschreitenden Lungenerkrankung die Vorstellung dringlicher beeindrucken, als das mühsame Leben mit schwergradigen psychischen Problemen oder die unausweichlich zunehmende Fremdbestimmung im Alter. Mit der Vorgabe des EGMR über das Recht der Selbstbestimmung am Lebensende und mit den Bedürfnissen des sonst so hofierten mündigen Bürgers ist diese Restriktion jedoch nicht vereinbar.

P.D. Dr. med. Johann F. Spittler
FA. Neurologie und Psychiatrie

Sehr geehrter Herr Spittler,

vielen Dank für ihre schnelle und kritische Reaktion auf meine Urteilsanmerkung. Das gibt mir nun die Gelegenheit, auf ihre Kritik am Urteil und meiner Wertung des Urteils öffentlich zu reagieren. Ich tue das in der Hoffnung einer produktiven Auseinandersetzung über die Selbstbestimmung Sterbender.

Sie sehen im Urteil des BVerwG eine Restriktion, verglichen mit der Praxis ihrer Suizidbegleitung bis zum in Kraft treten von § 217 StGB, weil nach der Entscheidung die Abgabe des tödlichen Medikamentes nur dann erfolgen darf  „… wenn sich ein schwer und unheilbar Kranker wegen seiner Erkrankung in einer extremen Notlage befindet …“. Sie haben Recht, wenn sie diese Voraussetzung für die staatliche Abgabe des tödlichen Medikamentes als eine Einengung des Selbstbestimmungsrechtes Sterbender bezeichnen, beispielsweise im Vergleich zur Schweizer Regelung und Praxis zur ärztlichen Verschreibung eines tödlichen Medikamentes. Ihr Verweis auf die von ihnen erhobenen empirischen Daten zur Freitodbegleitung[1] belegt eindrucksvoll die unterschiedlichen Gründe für selbstbestimmte Suizidentscheidungen. Sie alle als extreme Notlage eines schwer und unheilbar Kranken zu bezeichnen, dürfte schwierig bis unmöglich sein.

Zugleich hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich den Standpunkt bekräftigt, dass sich der Grundrechtsschutz nicht auf Fälle beschränkt, in denen infolge des Endstadiums einer tödlichen Krankheit der Sterbeprozess bereits begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht. „Die verfassungsrechtlich gebotene Achtung vor dem persönlichen Umgang des Einzelnen mit Krankheit und dem eigenen Sterben schließt auch die freiverantwortlich getroffene Entscheidung schwer kranker Menschen ein, ihr Leben vor Erreichen der Sterbephase oder losgelöst von einem tödlichen Krankheitsverlauf beenden zu wollen.“ (Rdnr. 24)

Um die von Ihnen genannten Fälle abdecken zu können, müsste man aber weitergehen, als das Bundesverwaltungsgericht es getan hat. Die Frage für mich war, ob das dem Bundesverwaltungsgericht möglich gewesen wäre, ohne die ihm von der Verfassung im System der Gewaltenteilung zugewiesene Entscheidungskompetenz als Fachgericht zu überschreiten. Um das ausnahmslose Verbot des Betäubungsmittelgesetzes zur Abgabe eines Medikamentes zur Selbsttötung zu beseitigen, muss es dieses Verbot zunächst für verfassungswidrig halten. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht als erstes deutsches Fachgericht getan. Darin liegen der Liberalisierungsschritt und das Verdienst des BVerwGs. Als Fachgericht kann das BVerwG eine gesetzliche Regelung aber nicht selbst für verfassungswidrig erklären, dies ist dem Verfassungsgericht vorbehalten.

Das BVerwG hatte im Umgang mit dem von ihm angenommenen Verfassungsverstoß folgende Möglichkeiten: Es kann die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Regelung im Wege der Richtervorlage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorlegen, damit dieses für alle Staatsorgane bindend über den angenommenen Verfassungsverstoß entscheidet. Zuvor ist es verpflichtet, zu prüfen, ob sich der Verfassungsverstoß im Wege einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung beseitigen lässt. Lässt sich auf dem Wege der verfassungskonformen Interpretation der Verstoß beseitigen, ist die Richtervorlage nach Karlsruhe ausgeschlossen. Für die Entscheidung darüber, welches der richtige Weg ist, liefert die Verfassung oft nicht wirklich einen geeigneten Maßstab. Im vorliegenden Fall hätte ich die Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht für einschlägig gehalten. Dabei wäre natürlich ungewiss gewesen, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt so weit gegangen wäre wie das Bundesverwaltungsgericht, oder ob es sich nicht einfach auf den Standpunkt der unteren Verwaltungsgerichte gestellt hätte, die das Verbot für verfassungsmäßig angesehen haben.

Interpretiert man das geltende Betäubungsmittelgesetz verfassungskonform, so wie es das BVerwG getan hat, ist man dabei den richterlichen Interpretationsgrenzen unterworfen. An diese Grenzen verfassungskonformer Interpretation ist das BVerwG m. E. durchaus gegangen. Das, was Sie fordern und ich auch für richtig halte, kann auf dem Weg der verfassungskonformen  Interpretation nicht erreicht werden. Dazu müssten die bestehenden gesetzlichen Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes aufgehoben werden – entweder durch den primären Gesetzgeber selbst, oder das Verfassungsgericht, das die bestehenden Regeln als verfassungswidrig einstuft und dem Gesetzgeber Maßstäbe für eine Neuregelung aufzeigt.

Für Nichtjuristen mag das wie ein Glasperlenspiel anmuten, es geht aber um ein Grundproblem der Gewaltenteilung zwischen Gerichten und Gesetzgeber. Der Gesetzgeber ist an die Verfassung gebunden. Verletzt er verfassungsrechtliche Maßstäbe, kann er von den Gerichten korrigiert werden: von den Fachgerichten im Wege der verfassungskonformen Interpretation; vom Verfassungsgericht im Wege der verbindlichen Aufhebung.

Mit herzlichen Grüßen
Ihre Rosemarie Will

Anmerkungen:

[1] Johann F. Spittler (2016): Urteilsfähigkeit und Selbstbestimmung bei psychischer Störung und Suizid-Beihilfe-Ansinnen, Schweizerische Ärztezeitung 97 (11), S. 435-437

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