Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 218: Rückkehr zum gerechten Krieg?

Rückkehr zum „gerechten Krieg“?

in: vorgänge Nr. 218 (Heft 2/2017), S. 17-24

Die neuerliche Konjunktur eines gerechtfertigten Krieges geht einher mit der Abkehr vom weitgehenden Gewaltverbot des UNO-Völkerrechts, das kriegerische Mittel eigentlich nur zur Selbstverteidigung zulässt. Der gerechte Krieg werde heute meist mit moralischen Verpflichtungen, der Vermeidung humanitärer Katastrophen begründet. Völkerrechtlich findet diese Pflicht zur militärischen Intervention ihren Niederschlag in der Responsibility to Protect (R2P). Alexander Neu zeichnet die Entwicklung der R2P und die Aufweichung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes als Folge des Unilateralismus nach, der die Ära nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks prägte.

1. Unipolare Weltordnung und die Rückkehr zur Führbarkeit des Krieges

Ein Gespenst geht um in der Welt. Das Gespenst des „Gerechten Krieges“ erlebt nach Ende der Systemkonfrontation 1989/91 eine Renaissance. Bis Anfang der 1990er Jahre ist die Mehrheit der Menschen, die sich mit dem Thema der Außen- und Sicherheitspolitik sowie mit dem Völkerrecht beschäftigen, davon ausgegangen, dass die These des Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, wonach „Krieg ein Mittel der Politik“[1] sei, im Nuklearzeitalter ebenso in den Orkus der Geschichte zu verweisen sei, wie die zur Legitimation von Kriegen erdachte Figur des „Gerechten Krieges“.

Doch nach dem Ende der konfrontativen, aber relativ stabilen bipolaren Weltordnung trat im Jahre 1991 eine neue Ordnung auf die Bühne: die „pax americana“. Es handelte sich um den Beginn der Epoche der unipolaren Weltordnung – oder wie der damalige US-Präsident George Bush sen. es selbstbewusst formulierte: die „neue Weltordnung“.[2]

Die verbliebene Supermacht, die USA, sollte für mindestens ein Jahrzehnt diese neue, unipolare Weltordnung unangefochten prägen. Nichts konnte diese Zäsur so illustrieren wie der 1991 von der „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA geführte zweite Golfkrieg gegen den Irak. Der konventionelle Krieg war angesichts des fehlenden atomaren Widerparts (UdSSR) ohne Risiko eines Abgleitens in einen Nuklearkrieg wieder führbar.

Obschon im Kontext des zweites Golfkrieges eine völkerrechtliche Legitimation[3] zur militärischen Gewaltanwendung existierte, nämlich die vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Befreiung Kuwaits von der irakischen Besatzung, zeigte die „Koalition der Willigen“ zwei Verhaltensmomente, die einen Vorgeschmack auf die weitere Miss- oder sogar Verachtung des Völkerrechts seitens des Westens bieten sollte:

1. Die militärische Mission wurde zwar UN-mandatiert, aber nicht von der UNO geführt. Die militärische Umsetzung fand ausschließlich durch die USA und ihre Hilfstruppen statt – die Befreiung Kuwaits wurde gewissermaßen auf der Grundlage von Artikel 53 der UNO-Charta geoutsourct. Angesichts dessen hatte die UNO in dem Moment, in dem sie die Resolution verabschiedete, faktisch die Kontrolle über das weitere Geschehen unwiederbringlich aus der Hand gegeben. Und wer militärische Operationen führt, der bestimmt auch den Charakter der militärischen Operation und stellt die politischen Weichen für die Nachkriegszeit.

2. Die Art und Weise, wie der Krieg seitens der „Koalition der Willigen“ geführt wurde, ging weit über den Buchstaben und Geist der UN-Resolution 678 hinaus. Die militärische Verhältnismäßigkeit wurde gravierend missachtet. Tatsächlich muss man von vorsätzlichen Kriegsverbrechen sprechen, die bis heute nicht geahndet worden sind: Mit dem erzwungenen Abzug des irakischen Militärs aus Kuwait war der Krieg nicht zu Ende. Die abziehenden und geschlagenen irakischen Kräfte wurden auf der Verbindungsstraße zwischen dem irakischen Basra und Bagdad geradezu massakriert. Die US-Army bezeichnete die Massaker als „Truthahn-Schießen“.[4] Es wurde massenhaft abgereicherte Uran-Munition verwendet, die bis heute ihre schreckliche Wirkung in der irakischen Gesellschaft entfaltet: es gibt Missgeburten und hohe Krebsraten in den Regionen, in denen diese Munition eingesetzt wurde. Die Gräben, in denen sich irakische Soldaten versteckten, wurden mit Raupenfahrzeugen zugeschüttet, so dass sie erstickten, obschon sie nicht mehr kämpften etc.

Anstatt die unangefochtene westliche Vorherrschaft in den 1990er und 2000er Jahren positiv, im Sinne des Auf- und Ausbaus einer internationalen Rechtsstaatlichkeit zu nutzen, mithin also eine Vorbildfunktion für die übrige Staatenwelt zu leben, widerstanden die westlichen politischen, militärischen und ökonomischen Eliten nicht der Versuchung, ihre Dominanz zur maximalen Interessens- und Profitsicherung zu missbrauchen. Die westliche Vorherrschaft wurde egoistisch ausgenutzt.

Allerdings gab es ein Problem: die vielzitierten westlichen Werte, insbesondere die der Rechtstreue und der Rechtsstaatlichkeit. Man konnte und kann sie nicht ohne weiteres über Bord werfen, zumal das (UNO-)Völkerrecht im Wesentlichen ein Produkt westlicher Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft, Diplomatie und Politik ist, das vom Rest der Welt als tragfähige Basis des Staatenverkehrs akzeptiert wird. Mehr noch, man benötigt geradezu das Völkerrecht, um Drittstaaten, die sich der westlichen Ordnungspolitik nicht unterordnen wollen, zumindest an die Pflichten eines Völkerrechtsubjekts zu binden, um eine Anarchie in der Staatenwelt zu vermeiden.

Nun jedoch stellte die bestehende internationale Rechtsordnung, insbesondere die UNO und das UNO-Völkerrecht, aus Sicht der westlichen Imperialpolitik in der Epoche der unipolaren Weltordnung eine inakzeptable Hemmschwelle ihrer ungenierten Machtentfaltung dar. Was tun?

Das Ideenspektrum zur Marginalisierung der UNO und des modernen Völkerrechts reichte vom plumpen „wenn möglich mit, wenn nötig ohne UNO“, bis hin zum subtileren Vorschlag der „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ mit Hilfe der Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechtes. Ziel war und ist es immer noch, das in der UN-Charta umfassend formulierte Gewaltverbot aufzubrechen. Die UNO-Charta kennt zwei Ausnahmen (von der faktisch nicht mehr praktizierten Feindstaatklausel abgesehen):

1. Das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UNO-Charta.

2. Auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates in Form einer Resolution auf der Grundlage von Kapitel VII der UNO-Charta können Zwangsmaßnahmen – auch militärischer Natur – gegen Staaten, die den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ bedrohen, autorisiert und geführt werden.

Das „Problem“ des umfassenden Gewaltverbots wird durch das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat nochmals zu Ungunsten westlicher Imperialpolitik verschärft:

Nicht nur, dass festgestellt werden muss, dass ein Staat den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ bedroht, um ihn westlicherseits militärisch disziplinieren zu können. Nein, es muss auch noch eine Unterstützung der Mitglieder des Sicherheitsrates erreicht sowie ein Veto gegen die geplanten militärischen Zwangsmaßnahmen verhindert werden. China und Russland spielen seit Ende der 1990er Jahre (NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien ohne UN-Mandat) in den Augen westlicher Geostrategen eine ungute Rolle. Sie „missbrauchen“[5] das Vetorecht, um die westlichen Weltordnungs- und -gestaltungsvorstellungen zu behindern.

Um die Öffentlichkeit in den westlichen Staaten für konventionelle Kriege gegen unbotmäßige Staaten und deren Regierungen zu gewinnen, und um den moralischen Druck einer internationalen Öffentlichkeit (flankiert durch auch von westlichen Regierungen finanzierte NGOs) zu erhöhen, wurde die Legitimationsfigur des „Gerechten Krieges“ in der westlichen politischen Klasse reaktiviert. Dabei konnte und kann sich die politische Klasse auf die Zuarbeit so mancher Rechts- und Politikwissenschaftler, Philosophen und sogar Kulturschaffenden verlassen.

2. „Gerechter Krieg?“ Moral sticht Recht

Die Debatte um die Legitimationsfigur des „Gerechten Krieges“ reicht von der Antike bis in die Gegenwart.[6] Im Kern ging und geht es immer darum, die Motivation zum Kriege der Willkür zu entziehen und stattdessen an Kriterien zu binden, die als Entscheidungsgrundlage dienen, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht sei.

In der zeitgenössischen Debatte geht es aber auch und vielleicht sogar primär darum, die Bindung politischer Entscheidungen an Rechtsnormen – Völkerrechts- und ggf. Verfassungsrechtsnormen – und die sie tragenden Institutionen durch ein rechtsfremdes Gut, nämlich die Moral, aufzuweichen oder gar zu liquidieren. „Mit der UNO wenn möglich“ (aufweichen), „ohne sie, wenn nötig“[7] (liquidieren), beschreibt präzise diese Vorgehensweise. Moral sticht Norm, so könnte man den Versuch beschreiben, die Moral über die Norm zu heben, an dessen Ende eine rechtlose Moral in den internationalen Beziehungen vorherrschen könnte.

Nur, wo Moral draufsteht, ist keine Moral drin: Die Moral ist nicht der Zweck, sondern ein nicht zu unterschätzendes Manipulationsinstrument der politisch Herrschenden gegenüber der öffentlichen Meinung: „Es muss doch was getan werden …“, ist ein gängiges moralisches Argument gegen einen „Schurkenstaat“, wenn eine militärische Intervention der eigenen Interessenlage entspricht.

In diesem Sinne dient die Moral als Mittel, um das umfassende Gewaltverbot dauerhaft aufzuweichen, d.h. entweder neues kodifiziertes Völkerrecht oder Gewohnheitsrecht (neben den beiden bisherigen Ausnahmen vom Gewaltverbot) zu etablieren, um Krieg angeblich für Menschenrechte oder Demokratie führen zu können. Die Moral ist nicht das Ziel. Das Ziel ist seit Jahrhunderten unverändert, es geht um geo-politische und geo-ökonomische Einflusssphären:

  • Der die serbische Souveränität aufhebende Vertragsentwurf von Rambouilliet, der den Bürgerkrieg in der serbischen Provinz Kosovo Anfang 1999 angeblich beenden sollte, beinhaltete die Dauerpräsenz von NATO-Truppen in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien – also auch jenseits der serbischen Provinz Kosovo –, die Abspaltungsmöglichkeit des Kosovo sowie die Einführung der Marktwirtschaft.[8] Für die westlichen Balkan-Kontaktgruppenmitglieder unter Führung der USA war dieser von ihnen vorgelegte Vertragsentwurf nur marginal, nicht aber in der Substanz verhandelbar. Serbien blieb die Wahl zwischen Kapitulation ohne Krieg oder Kapitulation im Krieg. Kein Staat der Welt, der auf seine Souveränität Wert legt, hätte diesen Entwurf freiwillig akzeptieren können. In seiner Erpressungsqualität ging dieser Vertragsentwurf noch weit über die Erpressungsdepesche Wiens vom Juli 1914 hinaus, die die KuK-Monarchie an Serbien verschickte. In beiden Fällen ließ sich Serbien nicht erpressen; in beiden Fällen wurde Serbien anschließend militärisch überfallen.
  • Ähnlich erging es dem Irak, den es 2003 angeblich zu entwaffnen und zu demokratisieren galt, im Rahmen der US-Besatzung. Der damalige US-Statthalter im Irak erklärte kurz nach Beendigung der offiziellen Kampfhandlungen: Irak sei nun offen für Geschäfte.[9]

Es ist zumindest fraglich, ob die Einführung der „freien Marktwirtschaft“ ein Menschenrechtsgut ist und sogar dafür gebombt werden darf.[10]

3. Gerechter Krieg und Entschei­dungs­kri­te­rien

In der zeitgenössischen Debatte um den „Gerechten Krieg“ wurden eine Reihe von Kriterien entwickelt. Die jüngste Ausarbeitung kommt von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS). Diese internationale Kommission unter Führung Kanadas wurde im Nachgang des NATO-Angriffskrieges auf Jugoslawien eingerichtet und veröffentlichte im Dezember 2001 einen „Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty” mit dem Titel: „The Responsibility To Protect”[11] (auch in Kurzform als „R2P“ bezeichnet).

Der Bericht gilt Humanitären Interventionsbefürwortern als Meilenstein. Seine Essenz lautet: Schutzverantwortung des Staates. Wer seine Bürger nicht schützen könne oder nicht schützen wolle, komme seiner Schutzverantwortung, die ein essentielles Element der Souveränität sei, nicht nach. Die internationale Staatengemeinschaft könne dann ersatzweise Verantwortung zum Schutze der Menschenrechte in dem Land – auch unter Anwendung militärischer Maßnahmen – für sich beanspruchen. Mit anderen Worten: Es findet eine Neuinterpretation des Souveränitätsbegriffs statt, die auf eine konditionierte Souveränität hinausläuft.

Der „Gerechte Krieg“ wird seitens der ICISS im Gewande des Menschenrechtsschutzes als sogenannte „Responsibility to Protect“ formuliert. Die hierbei ganz im Sinn der bellum iustum-Lehre (Lehre vom Gerechten Krieg) reproduzierten Entscheidungskriterien für ein militärisches Vorgehen lauten:

1. gerechter Grund (iusta causa): massenhafter Verlust von Menschenleben oder ethnische Säuberungen großen Ausmaßes seien ein gerechter Grund;

2. aufrichtige Absicht (recta intentio) der Interventen: die militärische Intervention müsse getragen werden von einer „aufrichtigen Absicht“, d.h. einer interessenfreien Politik;

3. letztes Mittel (ultima ratio): die Gewaltanwendung könne nur das letzte Mittel in einer Reihe bislang erfolgter und erfolgloser Maßnahmen darstellen;

4. verhältnismäßige Gewaltanwendung (proportionalitas): die Gewaltanwendung müsse verhältnismäßig sein;

5. erfolgsversprechende Gewaltanwendung (iustus finis): die ergriffene Gewaltanwendung müsse zum Erfolge führen;

6. legitimierte Autorität (legitima auctoritas): die Genehmigung einer militärischen Intervention müsse (zunächst) dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten bleiben.

Anhand dieser Kriterien wird deutlich, wie schwierig oder gar unmöglich die Definition eines „Gerechten Krieges“ ist, was dem Missbrauch Tür und Tor öffnet.

Die genannten Kriterien unterliegen einerseits – mit Ausnahme der legitima auctoritas – erheblichen Interpretationsmöglichkeiten seitens der Akteure, die in der Öffentlichkeit über die Deutungshoheit verfügen.

Andererseits sagt der auf diesen Kriterien basierende Ansatz erstens nichts über die Gewichtung (Hierarchisierung) der Kriterien im Abwägungsprozess aus noch darüber, ob zweitens alle Kriterien erfüllt sein müssten oder nur einige. Das gravierendste Defizit ist aber: Die Kriterien 2, 4 und 5 sind nur ex post, also nach dem Waffengang, verifizierbar. Ein Krieg muss also schon beendet sein, um feststellen zu können, ob die Entscheidung zum Waffengang gerechtfertigt war. Diese Kriterien versprechen also ex ante keine Entscheidungssicherheit, dass es nicht doch ein „ungerechter Krieg“ sein wird. War der Krieg anhand der nachträglichen Prüfung nicht gerechtfertigt, sind der Waffengang und seine Ergebnisse aber nicht mehr rückgängig zu machen.

Unzureichend sind auch optimistische Erklärungen der militärischen Interventen darüber, nur altruistisch (recta intentio) handeln zu wollen, dass die Ausmaße der „Kollateralschäden“ den Zweck des Einsatzes nicht delegitimieren (proportionalitas) werden und dass der Waffengang auf jeden Fall siegreich enden werde (iustus finis), d.h. das formulierte militärische Ziel auch erreicht werde.

Die genannten Kriterien als Entscheidungsgrundlage für den „Gerechten Krieg“ taugen somit nicht, um zu klären, ob ein Krieg unter der Bedingung der Rechtmäßigkeit überhaupt begonnen werden darf. Die Kriterien können aufgrund der skizzierten inhärenten Probleme nicht leisten, was sie leisten sollen.

4. Rückkehr des „Gerechten Krieges“ in diversen Formen

Neben dem oben bereits skizzierten „R2P“-Konzept als einer Erscheinungsform des „Gerechten Krieges“ sind weitere identifizierbar:

  • Der „Krieg gegen den Terror“ wird als „Gerechter Krieg“ der USA und letztlich des Westens verstanden. Die Akteure fühlen sich nicht nur territorial, sondern auch in ihren Grundwerten[12] und ihrem absoluten Hegemonialanspruch bedroht.
  • Das „Unable-Unwilling“-Konzept[13] ist an das R2P-Konzept sowie an den „Krieg gegen den Terror“ angelehnt. Erneut wird die Souveränität von Staaten durch den Westen konditioniert: Ist ein Staat in den Augen des Westens „unwillig“ oder „unfähig“, nach westlichen Maßstäben zu funktionieren, so ist seine Souveränität ggf. einzuschränken oder gänzlich aufzuheben. Der Westen soll demnach gemäß seinem Selbstverständnis intervenieren dürfen. Der derzeit laufende Einsatz der Anti-IS-Koalition unter Führung der USA und Teilnahme Deutschlands beruft sich auch auf dieses Konzept, um in Syrien ohne Zustimmung der syrischen Regierung Krieg führen zu können:
    „(…) In diesem Zusammenhang werden auch militärische Maßnahmen auf syrischem Gebiet durchgeführt, da die syrische Regierung nicht in der Lage und/oder nicht willens ist, die von ihrem Territorium ausgehenden Angriffe durch den IS zu unterbinden“.[14] Dieses Konzept steht klar im Widerspruch zum modernen UN-Völkerrecht.[15]
5. Fazit

Allen zeitgenössischen Konzepten des „Gerechten Krieges“ ist gemein, dass die nicht zum Westen gehörenden Staaten unter Umständen durch den Westen in ihrer Souveränität konditioniert werden. Um die Völkerrechtswidrigkeit nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, wird eine moralisch motivierte gewohnheitsrechtliche „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ suggeriert. Die beiden kodifizierten Ausnahmen des ansonsten umfassenden UN-Gewaltverbots (Art. 42 und 51 UN-Charta) sollen mit Verweis auf die angeblich neue gewohnheitsrechtlich etablierte Norm ergänzt werden. Diese „Weiterentwicklung“ kann indes angesichts ihrer Unilateralität keinen gewohnheitsrechtlichen Anspruch erheben. Gewohnheitsrecht im Werden muss von anderen Staaten mitgetragen und mitpraktiziert werden, damit es sich als allgemeingültige Rechtsnorm etablieren kann.

Der „Gerechte Krieg“ als Legitimationsfigur erhält in der Epoche der unipolaren Weltordnung („mit der UNO, wenn möglich oder ohne die UNO, wenn nötig“) eine Renaissance. Diese Willkür in Fragen der Rechtstreue führt zu einem Rechtsnihilismus.

Fraglich bleibt indessen, ob der „Gerechte Krieg“ als Legitimationsfigur im Zuge der sich bereits entwickelnden multipolaren Weltordnung weiter als vorteilsbringend betrachtet werden kann. Auch neue Großmächte wie die BRICS-Staaten könnten versucht sein, ihre Interessenpolitik im Gewande des „Gerechten Krieges“ zu verfolgen, um nicht unter strategischen Gesichtspunkten gegenüber dem Westen in eine nachteilige Position zu geraten. Die Russische Föderation hat sich bereits die „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ zu Nutze gemacht: bei der diplomatischen Anerkennung von zwei abtrünnigen georgischen Provinzen (2008) sowie der Integration der Krim in die Russische Föderation (2014).

ALEXANDER S. NEU   Jahrgang 1969, studierte bis 1995 Politikwissenschaften in Bonn. Ab 2000 arbeitete er bei der OSZE im ehemaligen Jugoslawien, anschließend promovierte er 2004 mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit zur Jugoslawien-Kriegsberichterstattung von Times und Frankfurter Allgemeiner Zeitung. Von 2006 bis 2013 war er Referent für Sicherheitspolitik der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, dem er seit 2013 als Abgeordneter angehört. Derzeit ist Alexander Neu Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss.

Anmerkungen:

1 Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“, hinterlassenes Werk, 3. Aufl., Ullstein, Frankfurt a.M. / Berlin 1991.

2 Ernst-Otto Czempiel, „Die amerikanische Weltordnung“, in: „Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland“, Aus Politik und Zeitgeschichte 48/2002.

3 UN-Sicherheitsratsresolution 678 aus dem Jahre 1990.

4 Ramsey Clark: http://www.humanrights.de/doc_it/archiv/u/usa/irak2.html.

5 Bspw. in Süddeutsche Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/politik/reaktionen-lizenz-zum-toeten-fuer-assads-regime-1.1275629.

6 Ludwig Siep, „Einführung in die politische Philosophie“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/philosophischesseminar/mitglieder/siep/seminar/gerechterkrieg/gerechterkrieg.pdf; s. dazu auch den Beitrag von Frey in diesem Heft.

7 So Madeleine Albright, damalige US-Außenministerin, während des rechtswidrigen Angriffskriegs auf Jugoslawien, zitiert nach: Hans Joachim Gießmann, „Die Bundeswehr – ein Instrument der Außenpolitik?“, in: Lutz Kleinwächter u.a. (Hrsg.), „Militärmacht Deutschland: Zur aktuellen Debatte um Auslandseinsätze“, WeltTrends-Papiere 5, Potsdam 2007, S. 18.

8 Neil Clark, „Das Juwel von Trepca“, Der Freitag v. 1.10.2014, https://www.freitag.de/autoren/derfreitag/das-juwel-von-trepca.

9 The US occupation chief says Iraq is `open for business‘, in: Tapei Times, 27.05.2003, http://www.taipeitimes.com/News/world/archives/2003/05/27/2003052863.

10 Carolin Söfker, „durch die Besatzungsmacht geprägte Neuordnungen besetzter Staaten. Welche Auswirkungen haben völkerrechtlich verbotene Angriffskriege auf die Reichweite der Kompetenzen von Besatzungsmächten“. Dissertationsschrift, Universität Bochum, Utz-Verlag, München 2015, S. 140.
11 S. http://responsibilitytoprotect.org/ICISS%20Report.pdf.

12 „Brief von US-Intellektuellen üb er moralische Gründe für einen gerechten Krieg – Wofür wir kämpfen“, abgedruckt in: Neue Züricher Zeitung (NZZ), 23.02.2002: https://www.nzz.ch/article7ZME0-1.372747.

13 “THE „UNWILLING OR UNABLE STATE“ AS A CHALLENGE TO INTERNATIONAL LAW”: http://www.mpil.de/de/pub/forschung/nach-rechtsgebieten/voelkerrecht/the-unwilling-or-unablestate.cfm.

14 Antrag der Bundesregierung zum Anti-IS-Einsatz der Bundeswehr vom 1. Dez. 2015, BT-Drs. 18/6866, S. 2.

15 Zur verfassungs- und völkerrechtlichen Bewertung des Syrien-Einsatzes siehe auch den Beitrag von Hahnfeld in diesem Heft.

Dateien

nach oben