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Fall Akhanli gelöst - Problem weiterhin virulent

Am 13. Oktober wurde bekannt, dass Spanien dem türkischen Auslieferungsersuchen gegen den Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Dogan Akhanli nicht stattgeben wird. Wir freuen uns sehr für Herrn Akhanli – die mit seinem Fall verbundenen Probleme der polizeilichen Zusammenarbeit über Interpol sind damit leider nicht gelöst.

Die Rechtsunsicherheit für türkeikritische Bürgerinnen und Bürger sowie die Einschränkungen der Reisefreiheit in Europa sind ein ernsthaftes und zunehmendes Problem. Tarik Tabbara erläutert im folgenden Beitrag, warum ein koordinierter europäischer Rechtsschutz gegen Auslieferungsversuche von Drittstaaten dringend geboten ist.

Fall Akhanli gelöst - Problem weiterhin virulent

Interpol – ein Fremdkörper im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?*

Vorab-Veröffentlichung aus: vorgänge Nr. 219 (Heft 3/2017), erscheint im Oktober 2017

Am 19. August 2017 wurde der deutsche Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Dogan Akhanli, der aus der Türkei stammt, während eines Urlaubsaufenthalts in Spanien inhaftiert. Seine Festnahme ging auf ein Ersuchen der Türkei zurück, das über Interpol übermittelt worden war. Sie führte einer größeren Öffentlichkeit die rechtsstaatlichen Probleme von Interpol vor Augen. In der (noch längst nicht abgeschlossenen) politischen und rechtlichen Aufarbeitung des Falles werden Defizite im nationalen Umgang mit Interpol-Fahndungen deutlich, aber auch Verwerfungen mit der innerhalb der Europäischen Union garantierten Freizügigkeit. Der Beitrag beleuchtet kritisch, welche Probleme aus der Anlage und Ausgestaltung von Interpol folgen und welche Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des individuellen Rechtsschutzes bestehen.

Die Festnahme von Dogan Akhanli in Spanien: Ein Fall mit vielen Frage­zei­chen

Der in der Türkei geborene Akhanli war bereits in den 1980er Jahren nach dem Militärputsch in der Türkei inhaftiert und gefoltert worden. 1991 floh er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er als Flüchtling anerkannt und später auch eingebürgert wurde. Die Türkei wiederum bürgerte ihn zwischenzeitlich aus, weil er den Militärdienst nicht abgeleistet hatte. 2010 wurde der Schriftsteller, der sich u.a. mit dem Völkermord an den Armeniern auseinandersetzt, bei seiner Einreise in die Türkei erneut verhaftet.

Eigentlich wollte Akhanli im Sommer dieses Jahres in Grenada Urlaub machen, als er von der spanischen Polizei in seinem Hotel festgenommen wurde. Zwar wurde Akhanli – wohl auch nach erheblicher öffentlicher Empörung – schon am Tag nach seiner Verhaftung wieder auf freien Fuß gesetzt. Er durfte jedoch das Land nicht verlassen, ihm wurden Meldeauflagen auferlegt und er musste sich – auf eigene Kosten – eine Aufenthaltsmöglichkeit in Madrid organisieren. Deutsche Regierungsstellen nahmen zwar schnell Kontakt mit der spanischen Seite auf. Deutlich war aber auch, dass es kein etabliertes Verfahren zwischen zwei EU-Staaten in einer solchen Konstellation gibt. Erst am 13. Oktober diesen Jahres, also beinahe zwei Monate nach der Festnahme, teilte das spanische Justizministerium mit, dass das Auslieferungsverfahren von Doðan Akhanli an die Türkei nicht fortgesetzt werde.

Auch wenn der Fall von Dogan Akhanli in Spanien damit endlich ein gutes Ende gefunden hat, bleiben doch viele Fragen, schon weil der Schriftsteller beinahe zwei Monate in Spanien festgehalten wurde. Aber noch weit über den Einzelfall hinaus stellt sich die Frage, wie es um den rechtsstaatlichen Schutz bei Fahndungen über Interpol eigentlich bestellt ist. In dem konkreten Fall war zunächst klar, dass die Festnahme in Spanien auf ein Ersuchen der Türkei zurückging. Nicht ganz klar war dagegen, was Dogan Akhanli von der Türkei eigentlich zur Last gelegt wird. Nach unbestätigten Pressberichten soll es um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bzw. die Beteiligung an einem Raubmord gehen.[1] Die Bundesregierung ließ jedenfalls erkennen, dass sie die Vorwürfe gegen Dogan Akhanli für politisch motiviert erachtet und zumindest keine ausreichende Grundlage für seine Auslieferung an die Türkei sieht. Nicht ganz klar war außerdem, wie genau Interpol in die Festnahme in Spanien involviert war. Bekannt war, dass Akhanli schon 2013 auf Veranlassung der Türkei über Interpol gesucht worden war. Unklar war zunächst, auf welcher Grundlage die jetzige Verhaftung erfolgte und ob die aktuelle Fahndung mit Wissen deutscher Stellen geschah. Hier zeigten sich in der Öffentlichkeit, aber auch im politischen Raum erhebliche Unsicherheiten darüber, wie Interpol eigentlich funktioniert.

Zur Funkti­ons­weise von Interpol

Interpol bzw. die „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation“, so der offizielle Name, ist im Wesentlichen ein internationales Fahndungssystem. Die Wurzeln dieser heute größten Organisation grenzüberschreitender polizeilicher Zusammenarbeit reichen bis 1923 zurück. Dennoch ist Interpol nie Gegenstand eines förmlichen völkerrechtlichen Vertrages gewesen. Folglich ist die Teilnahme Deutschlands an Interpol auch nicht durch eine parlamentarische Entscheidung nach Art. 59 Abs. 2 GG legitimiert. Nach verbreiteter Lesart basiert Interpol noch nicht einmal auf einem Regierungsabkommen, sondern soll lediglich ein Zusammenschluss nationaler Polizeiorganisationen sein.[2] Ob das Bundeskriminalamt einem solchen Zusammenschluss ohne Einschaltung von Parlament und Regierung beitreten kann, ist allerdings zweifelhaft. Die erstaunliche Informalität der Rechtsgrundlage mag ein Grund dafür sein, dass Interpol ganz wesentlich von der Logik einer effektiven Strafverfolgung geprägt ist, wohingegen der Schutz individueller Freiheitsrechte, insbesondere der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, nicht effektiv in den Strukturen von Interpol verankert ist.

Der Grundgedanke von Interpol besteht darin, dass die teilnehmenden Staaten nicht jeden Staat gesondert – und mehr oder weniger ins Blaue hinein – auf diplomatischem Weg formell ersuchen müssen, eine aus strafrechtlichen Gründen gesuchte Personen auszuliefern. Über das System von Interpol können Verdächtige und verurteilte Straftäter_innen nahezu weltweit – inzwischen in 190 Staaten – gesucht werden.

Interpol bietet ein informationstechnologisches System, in das die Mitgliedstaaten Fahndungsersuchen einstellen können. Die Polizeien der Mitgliedstaaten haben über nationale Interpol-Büros, die in jedem Mitgliedstaat eingerichtet sind (Nationale Zentralbüros), direkten Zugriff auf die in das System eingestellten Ersuchen. Die Fahndungsersuchen können sich u.a. auf die Ermittlung des Aufenthaltsortes oder direkt auf die Festnahme mit dem Ziel einer späteren Auslieferung richten. Interpol selbst ist dabei vor allem die Vernetzungsplattform; Grundprinzip von Interpol ist die nationale Souveränität. Daher ist es auch irreführend, wenn Fahndungen über Interpol gelegentlich als internationaler Haftbefehl bezeichnet werden. Anders als der Europäische Haftbefehl nach dem Recht der Europäischen Union hat eine Fahndung, die in das System von Interpol eingestellt wird, für die um Mithilfe ersuchten Staaten keinerlei rechtliche Bindungswirkung. Wie sie mit den Ersuchen umgehen, die über Interpol übermittelt werden, entscheiden die ersuchten Staaten allein nach ihrem innerstaatlichen Recht und ggf. nach ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Mit der aktiven Teilnahme an Interpol geht keine rechtliche Verpflichtung zur grenzübergreifenden Umsetzung von Haftbefehlen einher, sondern es geht lediglich um eine gegenseitige Unterstützung bei der effektiven Kriminalitätsbekämpfung.

Interpol bietet ein differenziertes System verschiedener Fahndungsformen, die mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet sind. Die weitreichendste Form ist die sogenannte Red Notice, die ein Ersuchen um Festnahme bzw. vorläufige Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung umfasst. Eine Blue Notice beschränkt sich dagegen auf eine Fahndung zur Ermittlung des Aufenthalts einer Person, die wegen einer Straftat gesucht wird.[3] Ob ein Fahndungsersuchen über Interpol als Red oder Blue Notice ergeht, entscheidet der Staat, der das Ersuchen bei Interpol einspeist. Der Staat kann auch entscheiden, an welche Staaten die Fahndung gerichtet werden soll. Neben den Notices (Ausschreibungen) gibt es sogenannte Diffusions (Fahndungsdurchgaben), die direkt von einem nationalen Interpol-Büro an andere nationale Interpol-Büros übermittelt werden.

Die rechtsstaatliche Achillesferse von Interpol ist die nur sehr beschränkte Kontroll- und Filterfunktion, die die Organisation bei den Fahndungsausschreibungen in ihrem weltweiten Netzwerk wahrnimmt. Zwar untersagt Artikel 3 der Interpol-Statuten[4] den Missbrauch polizeilicher Fahndungen zu politischen Zwecken: „It is strictly forbidden for the Organization to undertake any intervention or activities of a political, military, religious or racial character.“ Nach den Regularien von Interpol erfolgt eine Überprüfung jeder Red Notice auf ihre Übereinstimmung mit den Interpol-Statuten aber nur intern durch das Office of Legal Affairs von Interpol, das direkt dessen Generalsekretär unterstellt ist.[5] Daneben kann sich zwar jedes nationale Interpol-Büro und auch jede Einzelperson an das Generalsekretariat wenden und bei Zweifeln an einem Verstoß gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten eine Überprüfung beantragen. Eine gerichtliche Überprüfung oder ein anderes, unabhängiges Überprüfungsverfahren ist jedoch nicht vorgesehen.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat diese Verfahrensausgestaltung jüngst scharf kritisiert. Sie ist der Auffassung, dass Interpol wesentlich schärfere rechtliche Kontrollen bräuchte, um einen Missbrauch seines Fahndungssystems effektiv zu unterbinden.[6] Sofern die nationalen Interpol-Büros direkte Übermittlung durch Diffusions nutzen, unterliegen die Fahndungsersuchen überhaupt keiner vorherigen Überprüfung durch Interpol. Vielmehr verlässt sich Interpol hier darauf, dass jedes nationale Interpol-Büro selbst sicherstellt, dass seine Fahndungsersuchen mit den Statuten in Einklang stehen – obwohl auch in diesem Fall die Infrastruktur von Interpol genutzt wird.

Fahndungsersuchen über Interpol werden in Deutschland zunächst vom Bundeskriminalamt (BKA) überprüft, das das nationale Interpol-Büro in Deutschland ist (§ 3 Absatz 1 Bundeskriminalamtsgesetz[7] (BKAG)). Der Ablauf der Prüfung richtet sich nach § 15 BKAG, wonach das Fahndungsersuchen dann in Deutschland umgesetzt wird, wenn die Anordnung von Auslieferungs- oder Überstellungshaft durch ein deutsches Gericht zulässig erscheint. In Fällen von besonderer politischer Bedeutung muss das BKA zuvor die Bewilligungen des Bundesamtes für Justiz und des Auswärtigen Amtes einholen.

Leitet das BKA die über Interpol eingegangene Fahndung weiter und wird die Person ermittelt, richtet sich die rechtliche Zulässigkeit einer Auslieferung von Verdächtigen und verurteilten Straftäter_innen in Deutschland nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)[8] bzw. nach völkerrechtlichen Abkommen.[9] Zu beachten ist dabei aber für deutsche Staatsangehörige, dass diese nach Artikel 16 Absatz 2 GG nur an andere Staaten der Europäischen Union oder einen internationalen Gerichtshof ausgeliefert werden dürfen, nicht aber an alle übrigen Drittstaaten, also auch nicht an die Türkei. Für Auslieferungen zwischen den europäischen Ländern, soweit sie nicht Mitglieder der Europäischen Union sind,[10] ist meist das Europäische Auslieferungsübereinkommen (EAÜ) vom 13. Dezember 1957[11] einschlägig. Hierbei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der unter dem Dach des Europarates geschlossen wurde. Das EAÜ ist auch die einschlägige Rechtsgrundlage für die Auslieferungsersuchen der Türkei im Fall Akhanli, da sowohl Deutschland als auch Spanien und die Türkei Vertragsstaaten dieses Übereinkommens sind.

Voraussetzung für eine Auslieferung ist nach Art. 2 EAÜ insbesondere, dass die Tat auch in Deutschland strafbar wäre. In dringenden Fällen kann eine vorläufige Auslieferungshaft verhängt werden. Wenn eine Red Notice bestimmte – nicht allzu strenge – Mindestvoraussetzungen erfüllt, wird sie von der deutschen Rechtsprechung als hinreichende Grundlage für die Anordnung vorläufiger Auslieferungshaft angesehen. So soll es genügen, wenn neben der Bezeichnung der strafbaren Handlung eine Umschreibung des vorgeworfenen Verhaltens vorliegt, die dem Gericht die Subsumtion unter einen Straftatbestand ermöglicht.[12] Der Staat, der um die Auslieferung ersucht, hat dann bis zu 40 Tage Zeit, um eine konkrete Darstellung der Handlungen, derentwegen die Auslieferung begehrt wird, und eine rechtliche Würdigung vorzulegen (Art. 16 Abs. 4 EAÜ). Werden innerhalb dieses Zeitraums die erforderlichen Unterlagen vorgelegt, kann die Auslieferungshaft verlängert werden.

Der Umgang mit der Red Notice in Deutschland im Fall Akhanli

Wie bereits erwähnt, war zunächst unklar, in welcher Form Interpol bei der Festnahme von Dogan Akhanli in Spanien involviert war. Deutsche Regierungsstellen äußerten sich anfangs dahingehend, dass sie zwar von der Red Notice aus dem Jahre 2013 wussten, mit der die Türkei um eine Festnahme von Akhanli ersucht hatte, ihnen aber kein aktuelles Ersuchen bekannt gewesen sei. Das schien darauf hin zu deuten, dass die Türkei Deutschland von dem Verbreitungsgebiet des Fahndungsersuchens, das durch Interpol übermittelt wurde, ausgeschlossen hätte. Inzwischen bestätigte die Bundesregierung aber, dass ihr sehr wohl bekannt war, dass die Red Notice aus dem Jahre 2013 zum Zeitpunkt der Festnahme Akhanlis in Spanien noch in Kraft war. Diese Red Notice war offensichtlich der Auslöser der Festnahme Akhanlis im Sommer dieses Jahres.

Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen lassen sich die Abläufe inzwischen wie folgt rekonstruieren:[13] Die von der Türkei beantragte und im 2013 ausgestellte Red Notice wurde in Deutschland nicht umgesetzt, da auf ministerialer Ebene Bedenken gegen das Ersuchen bestanden. Nachdem auch das OLG Köln eine Auslieferung für unzulässig erklärt hatte, wurde der Sachverhalt der Staatsanwaltschaft Köln übermittelt. Diese sollte prüfen, ob wegen der Tatvorwürfe ein Ermittlungsverfahren in Deutschland aufzunehmen ist. Mit diesem (standardmäßigen) Vorgehen soll gewährleistet werden, dass durch die Ablehnung einer Auslieferung die Kriminalitätsbekämpfung nicht eingeschränkt wird. Die Kölner Staatsanwaltschaft sah jedoch von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab. Allerdings erneuerte die Türkei 2014 und 2015 ihr Fahndungsersuchen. 2015 teilte Deutschland der Türkei mit, dass eine Auslieferung nicht in Betracht komme, da Dogan Akhanli deutscher Staatsangehöriger sei.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man zu dem Schluss kommen, das Verfahren in Deutschland sei rechtsstaatlich sauber abgearbeitet worden. Bei näherer Analyse offenbaren sich jedoch gravierende Defizite im nationalen Verfahren sowie im Umgang mit Interpol-Fahndungsersuchen innerhalb der Europäischen Union.

Defizite im deutschen Verfahren bei Inter­pol-Er­su­chen

Wie die Bundesregierung einräumt, wurde Dogan Akhanli weder über die Red Notice noch über die Einstellung des Verfahrens in Deutschland informiert. Eine sogenannte „Gefährdetenansprache“ hielt offenbar keine der mit dem Fall befassten Stellen für erforderlich. Dogan Akhanli wusste somit nicht, dass die Türkei international um seine Festnahme ersucht hatte und ihm auch im europäischen Ausland eine Festnahme drohen könnte. Die Stellen in Deutschland gingen offenbar davon aus, dass der Fall mit der endgültig verweigerten Auslieferung in die Türkei abgeschlossen sei. Dabei wäre es Aufgabe des BKA als zuständiger deutscher Stelle gewesen, bei Interpol vorstellig zu werden, um eine Aufhebung der Red Notice wegen des Verstoßes gegen Art. 3 der Interpol-Statuten zu bewirken. Die Strafverfolgung durch die Türkei war erkennbar politisch motiviert.[14] Die Untätigkeit der deutschen Stellen bedeutete in der Konsequenz, dass man Dogan Akhanli bei seiner Urlaubsreise – etwas überspitzt formuliert – ins offene Messer laufen ließ. Selbst wenn man wie die Bundesregierung davon ausgeht, dass Herr Akhanli über das türkische Auslieferungsersuchen Bescheid wusste, hätte man ihn über die Konsequenzen dieses Ersuchens informieren müssen. Die Erwartung, dass er selbst erkennt, dass es nicht nur besser wäre, die Türkei nicht zu betreten, sondern überhaupt auf Auslandsreisen – auch innerhalb der EU – zu verzichten, ist nicht nur weltfremd, sondern auch eine rechtsstaatlich höchst befremdliche Haltung.

Auf die Frage, warum der Betroffene nicht informiert wurde, antwortet die Bundesregierung, dass es „den Zwecken der grenzüberschreitenden strafrechtlichen Zusammenarbeit zuwiderlaufen [würde], wenn im Grundsatz alle Betroffenen über Fahndungen informiert würden“[15]. Dies offenbart die mangelnde Berücksichtigung der freiheitssichernden Rechtspositionen der Betroffenen in dem Verständnis der Aufgabe von Interpol. Vorliegend ging es um ein Verfahren, bei dem in Deutschland die Ermittlungen eingestellt wurden und sich ein Verstoß gegen Artikel 3 Interpol-Statuten aufdrängte. Als innerstaatliche Konsequenz aus dem Akhanli-Vorfall sollte daher für Fälle, in denen eine Auslieferung abgelehnt und ein nationales Ermittlungsverfahren eingestellt wird, eine Gefährdetenansprache grundsätzlich verpflichtend vorgesehen werden. Mit einer solchen Ansprache würden die Betroffenen immerhin davor gewarnt, dass ihnen beim Aufenthalt in anderen Staaten eine Auslieferung drohen könnte. Darüber hinaus sind Verfahren vorzusehen, wonach deutsche Stellen, auch wenn sie ein Ersuchen aus anderen Gründen abgelehnt haben, zwingend prüfen müssen, ob Bedenken gegen Interpol-Ersuchen bestehen, insbesondere ob es sich um eine unzulässige politisch motivierte Strafverfolgung (Art. 3 Interpol-Statuten) handelt. Bei entsprechenden Bedenken müsste das BKA sich gegenüber Interpol für eine Löschung der Red Notice einsetzen. Diese Maßnahmen zum Schutz der Gefährdeten lassen sich, jedenfalls im Grundsatz, auf grundrechtliche Schutzpflichten stützen.

Im Falle von Dogan Akhanli steht der Vorwurf einer politisch motivierten, willkürlichen Verhaftung im Raum. Im Falle einer Auslieferung droht ihm ein Strafverfahren, in dem die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze fraglich ist und sogar die Gefahr von Folter besteht. Gerade bei Gefährdungen für die menschliche Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) ist anerkannt, dass der Staat direkt abgeleitet aus den Grundrechten dazu verpflichtet sein kann, Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte zu treffen. Zwar folgt aus den Schutzpflichten in aller Regel keine bestimmte Handlungspflicht, der Staat darf aber ein Mindestmaß an Schutz nicht unterschreiten (Untermaßverbot).[16] Die Betroffenen beim Aufenthalt im Ausland gegenüber Auslieferungsverlangen von Drittstaaten gänzlich ihrem Schicksal zu überlassen, weil andernfalls die internationale Strafverfolgung gefährdet werde, wird diesen Anforderungen jedenfalls nicht gerecht.

Red Notice als Gefährdung der Freizü­gig­keit innerhalb der Europä­i­schen Union

Etwas sperrig, aber doch durchaus programmatisch, beschreibt die Europäische Union ihr Konzept einer unionsweiten rechtsstaatlichen Freiheitsordnung mit der Formel vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 Vertrag über die Europäische Union). Blickt man auf den Fall von Dogan Akhanli, so fällt die Diagnose über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der EU aber ernüchternd aus: In seinem Fall war die EU allenfalls ein Raum fragmentierter Freiheit und Sicherheit, in dem die Freiheitsgewährleistung in einem Mitgliedstaat (Deutschland) nicht davor schützt, wegen desselben Vorwurfs in einem anderen Mitgliedstaat (Spanien) wochenlang festgehalten und womöglich sogar ausgeliefert zu werden.

Die Situation von Dogan Akhanli wird durch ein Regelungsdefizit des europäischen Rechts besonders problematisch: Weder dem Betroffenen selbst noch der deutschen Regierung stehen geeignete Mittel zur Verfügung, um gegenüber dem türkischen Festnahme- und Auslieferungsersuchen an Spanien effektiv geltend machen zu können, dass das Ansinnen in einem anderen Mitgliedstaat der EU (Deutschland) bereits abgelehnt wurde und strafrechtliche Ermittlungen aufgrund der von der Türkei erhobenen Vorwürfe eingestellt bzw. (nach Vorprüfung) nicht einmal eingeleitet wurden. Hier zeigt sich eine rechtsstaatlich problematische Lücke im EU-Recht. Zwar sollen schrittweise Auslieferungsabkommen zwischen der Union und Drittstaaten aufgebaut werden. Bis dies erreicht ist, fehlt es aber an einem Rechtsrahmen der Union für Auslieferungen an Drittstaaten, mit denen die Union bislang keine Abkommen geschlossen hat. Und es fehlt eine koordinierte, einheitliche Vorgehensweise der Mitgliedstaaten zum Schutze der Unionsbürger_innen.

Insoweit besteht eine Diskrepanz zum Europäischen Haftbefehl. Zur Erleichterung der Strafverfolgung verwirklicht der Europäische Haftbefehl nämlich erstmals im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit das unionsrechtliche Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.[17] Dieses Prinzip besagt im Kern, dass behördliche oder gerichtliche Entscheidungen in einem Mitgliedstaat von den übrigen Mitgliedern anerkannt werden, dass sich die Mitgliedstaaten insoweit gegenseitig vertrauen. Beim Europäischen Haftbefehl sind – von Ausnahmen abgesehen – alle anderen Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Festnahmeentscheidung und das Übergabeverlangen eines anderen Mitgliedstaates anzuerkennen und umzusetzen, wenn die betreffende Person sich auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet aufhält.[18] Für den Schutz vor Auslieferungen ist ein solches Prinzip der gegenseitigen Ankerkennung dagegen vom EU-Gesetzgeber noch nicht umgesetzt worden. Das schränkt die Freizügigkeit der Unionsbürger_innen erheblich ein.

Erste Ansätze für eine Regelung des Auslieferungsrechts der Union gegenüber Drittstaaten in Fällen, in denen Personen sich in anderen EU-Staaten aufhalten, finden sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). In dem Fall Petruhhin (C- 182/15 v. 6.9.2016), dem eine von Russland ausgeschriebene Interpol-Fahndung zugrunde lag, entschied der EuGH, dass sich ausländische Unionsbürger_innen nicht auf das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot berufen können, wenn der Staat seine eigenen Staatsangehörigen nicht an Drittstaaten ausliefert. Unionsbürger_innen können also in diesen Staaten nicht verlangen, dass sie wie die eigenen Staatsangehörigen des betreffenden Staates behandelt und nicht an Drittstaaten ausgeliefert werden. Der EuGH betonte jedoch, dass es sich bei der Auslieferung von Unionsbürger_innen an einen Drittstaat um einen schwerwiegenden Eingriff in das Freizügigkeitsrecht handelt. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit hält es der EuGH für erforderlich, dass vor einer Auslieferung der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Auszuliefernde hat, kontaktiert wird. Dem Heimatstaat soll so die Möglichkeit gegeben werden, eine Auslieferung an den Drittstaat dadurch zu verhindern, dass er per Europäischem Haftbefehl die Überstellung an sich selbst verlangen kann, um dann selbst – soweit das nach seinem nationalen Strafrecht möglich ist – die Strafverfolgung zu übernehmen.[19]

Diese Rechtsprechung des EuGH kann natürlich noch nicht alle Probleme lösen, die durch eine potenzielle Auslieferung anderer EU-Mitgliedsstaaten an Drittstaaten entstehen. Die Überstellung per EU-Haftbefehl an den Herkunftsstaat steht nur dann als Schutz zur Verfügung, wenn der vom Drittstaat erhobene Tatvorwurf auch vom Herkunftsstaat als hinreichend begründet angesehen und insofern eine strafrechtliche Verfolgung beabsichtigt wird. In Fällen von unzulässigen, politisch motivierten Auslieferungsersuchen funktioniert dieses Verfahren dagegen nicht.

Der EuGH hat bislang nur einen Fall entschieden, in dem der Europäische Haftbefehl vor einer Auslieferung an einen Drittstaat schützen konnte. Es spricht einiges dafür, dass der in dieser Entscheidung vom EuGH entwickelte Gedanke verallgemeinert werden kann. Im Grunde entfaltet der EuGH hier die Idee eines gemeinsamen Rechtsraumes, in dem die Rechte der Unionsbürger_innen auch dann erhalten bleiben, wenn sie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Mechanismen des Schutzes individueller Rechte ist einem echten europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der diesen Namen verdient, im Grunde bereits eingeschrieben. Als Raum, der die Mitgliedstaaten überspannt, sollte er auch einheitliche Gewährleistungen und ein einheitliches Schutzniveau bieten – jedenfalls in grundlegenden rechtsstaatlichen Fragen wie der persönlichen Freiheit.

Auf der Linie der Petruhhin-Entscheidung läge es, wenn nicht nur die Festnahmeersuchen im Rahmen des Europäischen Haftbefehls unionsweit anerkannt werden, sondern gewissermaßen spiegelbildlich auch abgelehnte Festnahme- und Auslieferungsersuchen von Drittstaaten. Sofern also ein EU-Mitgliedstaat das über Interpol übermittelte Festnahmeersuchen eines Drittstaats abgelehnt und strafrechtliche (Vor-)Ermittlungen abgeschlossen hat, müsste dieser Staat vor einer Festnahme in einem anderen Mitgliedstaat informiert werden. Zudem müsste ihm die Möglichkeit gegeben werden, das Verfahren an sich zu ziehen – und zwar in Form eines Selbsteintrittsrechts, nicht nur in der Form eines Europäischen Haftbefehls, der nicht für alle Fälle geeignet ist. Wie gezeigt, bietet die Konstruktion über den Europäischen Haftbefehl nicht den rechtsstaatlich erforderlichen einheitlichen Schutz gegenüber illegitimen, politisch motivierten Auslieferungsersuchen. Den europäischen Rechtsgedanken der gegenseitigen Anerkennung für den Schutz vor Auslieferung in Drittstaaten zu entfalten und in für die Betroffenen rechtssichere Formen zu gießen, kann dabei nicht allein dem EuGH überlassen werden. Das ist eine originäre Aufgabe des Gesetzgebers bei der Schaffung eines wirklichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.[20]

TARIK TABBARA  ist promovierter Jurist, Ministerialrat und z.Zt. beurlaubt zur Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, wo er im Justiziariat arbeitet. Er hat einen Lehrauftrag für Grund- und Menschenrechte am Fachbereich Polizei- und Sicherheitsmanagement der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Grund- und Freiheitsrechten sowie dem nationalen, europäischen und internationalen Sicherheitsrecht. Tabbara ist Mitherausgeber der Gedächtnisschrift für Helmut Rittstieg: Gesellschaftliche Herausforderungen des Rechts (2015).

Anmerkungen:

* Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

1 Vgl. FAZ vom 20.8.2017, Die Gegner der Türkei sind selbst in Spanien nicht sicher, abrufbar unter www.faz.net; Zeit-online.de vom 20.8.2017, Kölner Autor Akhanli mit Auflagen frei.

2 Stock/Herz Kriminalistik 2008, 594, 598 m.w.Nachw.

3 Andere Ausschreibungen beziehen sich u.a. auf Warnungen vor bestimmten Personen oder die Suche nach Vermissten.

4 Constitution of the ICPO-Interpol [I/CONS/GA/1956(2008)] abrufbar unter https://www.interpol.int/.

5 Artikel 86 Interpol’s Rules on the Processing of Data [III/IRPD/GA/2011 (2016)] abrufbar unter https://www.interpol.int/.

6 Resolution 2161 (2017) angenommen am 26.4.2017.

7 BGBl. 1997 I S. 1650 zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 1. Juni 2017 (BGBl. I S. 1354).

8 In der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juni 1994 (BGBl. I S. 1537), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 27. August 2017 (BGBl. I S. 3295) geändert worden ist.

9 Einen knappen Überblick zum Auslieferungsrecht bietet Weigend JuS 2000, 105. Umfassende Darstellung bei Schomburg u.a. (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012.

10 Zwischen den EU-Mitgliedstaaten richten sich das Auslieferungsrecht inzwischen nach dem Europäischen Haftbefehl, s. hierzu unten.

11 BGBl. 1964 II 1369, 1976 II 1778, 1982 I 2071, 1994 II 299.

12 Z.B. OLG Karlsruhe, Beschl. vom 18.1.2008 – 1 AK 3/08, BeckRS 2008, 41994.

13 BT-Drs. 18/13652 vom 27.9.2017.

14 Die Red Notice wurde zwar inzwischen gelöscht, das hatte aber – wegen des andauernden Auslieferungsersuchens der Türkei – nicht zur Folge, dass Dogan Akhanli Spanien verlassen durfte. Vgl. allgemein zu dieser Problematik: Jung, in: Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Auflage 2014, § 18 Rn. 205 f.

15 BT-Drs. 18/13652, S. 11.

16 BVerfGE 88, 203, 254.

17 EuGH, Urteil vom 1.12.2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08, Rn. 49.

18 Einen Überblick bei Mokros in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. O Rn. 153 ff.

19 EuGH, Urteil vom 6.9.2016, Aleksei Petruhhin, C-182, 15, Rn. 25 ff.

20 Ein erstes Umdenken zeigt sich in der Antwort der Bundesregierung (a.a.O. Anm. 13, S. 7) zum Fall Akhanli, in der sie erstmals selbst prüft, „ob weiterer Handlungs- und Abstimmungsbedarf mit den anderen Mitgliedstaaten der EU wegen Missbrauchs des Interpol-Systems besteht.“

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