Themen / Sozialpolitik

„Reichtum ist ein scheues Wild.“

10. November 2017

Ungleiche Verhältnisse im neuen Armuts- und Reichtumsbericht. In: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 31-44

Der „Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung wurde bereits öffentlich diskutiert, bevor er veröffentlicht war. Es ging um die Änderungen, die im Rahmen der Ressortabstimmung der Ministerin Andrea Nahles abgerungen worden waren. Unabhängig von den erfolgten Abschwächungen belegt der Bericht die große Kluft zwischen den Armen und den Reichen in unserer Gesellschaft. Dies verdeutlicht die folgende Zusammenfassung und kritische Würdigung des Berichts. Dabei zeigt der Autor auch, welche Folgen langfristige Armut haben kann.

Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an,
und der Arme sagte bleich: ‚Wär ich nicht arm wärst du nicht reich.’
(Bertolt Brecht, 1934: Alfabet, Buchstabe „R“)

Die Frage der Sozialen Gerechtigkeit hat Konjunktur, nicht nur zur Wahlkampfzeit. Aufsehen erregte eine Meldung von Oxfam, dass die Nettovermögen der 36 reichsten Deutschen den Vermögen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung entsprächen. (1) Dem DIW-Präsidenten Fratzscher zufolge sei die Bundesrepublik gar „… zu einem der ungleichsten Länder der Welt …“ geworden. (2) Dies weckt Befürchtungen: Die Ungleichheit von Ressourcen und Teilhabechancen trägt zur Exklusion der Betroffenen bei, senkt die Partizipationsbereitschaft und kann Protest bewirken, auch bei der Stimmabgabe. Eine zunehmende Ungleichheit zwischen Arm und Reich konstatieren folgende Untersuchungen:

  • Paritätischer Gesamtverband: „Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017“ (2017)
  • Friedrich-Ebert-Stiftung: „Ungleiches Deutschland: Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015“ (2016)
  • Hans-Böckler-Stiftung: „Verteilungsbericht 2016 – Soziale Mobilität nimmt weiter ab“ (2016)
  • Siebter Altenbericht der Bundesregierung mit dem Abschnitt: „Ungleichheiten in der alternden Gesellschaft“ (BT-Drs. 18/10210, S. 54-105; 2017).

Ein gemeinsames Problem dieser Berichte ist die schwache Datenbasis zu Vermögenden. Präzisere Angaben hierzu sowie zur Entwicklung der Ungleichheit wurden nun vom „Fünften Armuts- und Reichtumsbericht“ (ARB) (3) der Bundesregierung erwartet.

I. Berichts­auf­trag und Methode

Der Bundestag beschloss 2000, dass die Bundesregierung regelmäßig einen Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen hat, um internationale Verpflichtungen einzulösen und „[…] eine wirksame Bekämpfung von Armut“ zu erreichen. (4) Hierzu sollten insbesondere Daten zur Höhe und zur Entwicklung der Vermögen gesammelt werden, denn: „Reichtum ist ein scheues Wild“ (5). Die Berichte sollten „[…] grundlegende gesellschaftliche Perspektiven und politische Instrumentarien zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut entwickeln.“ Vorgesehen war eine Berichterstattung zur Mitte der Legislaturperiode, um sozialpolitische Reaktionen zu ermöglichen.

Wie sein Vorgänger erschien auch der neue ARB erst zum Ende der Legislaturperiode. Eine gründliche Befassung mit den 706 Seiten war den Abgeordneten somit nicht möglich. Erklärt wurde die Verspätung mit der Dauer der Ressortabstimmung zum Entwurf. Dabei kam es zu Streichungen ganzer Textpassagen. Aufsehen erregte die Kürzung eines Abschnitts zur höheren Responsivität der Politik gegenüber den Interessen von Wohlhabenden: Die Wahrscheinlichkeit, Interessen politisch durchzusetzen, steige mit dem Einkommen und Vermögen dieser Einflussreichen. Dies war das Ergebnis einer Studie (6), die für die Erstellung des 5. ARB beauftragt wurde. Sämtliche Streichungen im Zuge der Ressortabstimmung sind auf den Internetseiten von LobbyControl (7) dokumentiert.

Der Erstel­lungs­pro­zess

Die Berichterstellung wurde durch ein Gutachtergremium und einen Beraterkreis begleitet, der sich aus rund 40 Personen der Wohlfahrtspflege, Spitzenverbänden und Interessengruppen zusammensetzt, sowie Vertreter_innen der Ressorts. 2015 wurden drei Symposien zur Konzeption und zu Arbeitsfortschritten durchgeführt sowie zwei Workshops des Gutachtergremiums zu Zwischenergebnissen. (8) Erst im Herbst 2015 wurde ein Expertenworkshop mit von Armut betroffenen Menschen zu folgenden Leitfragen veranstaltet: Was sind die Ursachen von Armut? Was bedeutet Armut für die Betroffenen? Welchen Beitrag leisten staatliche und nicht-staatliche Unterstützungsangebote bei der Bewältigung eines Lebens in Armut? Die späte Terminierung dieser Fachveranstaltung wurde kritisiert, da deren Ergebnisse nicht mehr in die Konzeption des Berichts einfließen konnten. Stimmen aus dem Beraterkreis monierten weiter, dass die Ergebnisse kaum nachvollziehbar und nur indirekt in den Bericht eingingen. (9)

Metho­di­sches Vorgehen

Die Methodik des ARB wurde weitgehend in den vorangegangenen Berichten entwickelt. Grundlage sind u.a. Datenbestände folgender statistischer Erhebungen:

  • Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS): Haushaltsbefragung (seit 1962) durch das Statistische Bundesamt etwa alle 5 Jahre zu Einnahmen und Ausgaben, Wohnsituation, Gebrauchsgütern, Vermögen oder Schulden.
  • European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC): Europaweite Erhebung (seit 2005) zu international vergleichbaren Informationen über Einkommensverteilung, Armut und einzelnen Lebensbedingungen.
  • Mikrozensus: Amtliche Erhebung (seit 1957) zu Arbeitsmarkt und Lebenslagen, wie Wohnsituation oder Gesundheit mit einer repräsentativen Stichprobengröße von 1% der Bevölkerung.
  • Sozio-oekonomisches Panel (SOEP): Jährliche Längsschnittstudie (seit 1984) zu Personen- und Familiendaten von Haushalten, u.a. zu Erwerbsbiografien und Gesundheit. 2002, 2007 und 2012 wurden Erhebungen zur persönlichen Vermögensbilanz durchgeführt (u.a. Geld-, Immobilien-, Betriebs- und Sachvermögen inkl. Gold, Schmuck und Sammlungen).

Daneben wurden für den ARB weitere statistische Berichte herangezogen wie der Deutsche Freiwilligensurvey (2016), der Siebte Altenbericht (2016) die internationale Schulvergleichsstudie PISA (2012) und andere Studien. Zusätzlich wurden Forschungsaufträge vergeben. So wurden für die Studie „Hochvermögende in Deutschland“ der Universität Potsdam 130 Personen mit einem frei verfügbaren Geldvermögen von über 1 Mio. Euro befragt. Aus den Datenbeständen aller Erhebungen wurden schließlich „Kernindikatoren“ für den ARB gebildet.

Zu berücksichtigen sind die spezifischen Schwerpunkte und Schwächen der Instrumente. So wird z.B. das Nettoeinkommen unterschiedlich erhoben: EVS und SOEP nehmen bei selbstgenutztem Wohnungseigentum fiktive Mieteinnahmen an, während die eigene Wohnung in Mikrozensus und EU-SILC nicht berücksichtigt wird. Im Mikrozensus wird das Einkommen nur nach Klassen aggregiert erhoben. Solche Besonderheiten müssen bei der weiteren Aufbereitung der Daten berücksichtigt werden. Die unterschiedliche Systematik erfordert aufwändige Umrechnungen und Gewichtungen, wie z.B. für einen Vergleich der Nettoeinkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe. Die genauen Rechenwege der durchgeführten Umrechnungen z.B. infolge der unterschiedlichen Erhebungstermine der Befragungen sind dem Bericht nicht zu entnehmen.

Leitfragen des ARB richten sich neben der Verteilung und Entwicklung von Wohlstand und Armut insb. auf die Lebenslagen einzelner Bevölkerungsgruppen: Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende, Erwerbslose, Kranke, Menschen mit Behinderung und Ältere. Weitere Schwerpunkte sind die soziale Mobilität, auch zwischen den Generationen, lokalräumliche Entwicklungen (Segregation) sowie die Auswirkungen von atypischer Beschäftigung, auch im langfristigen Bezug auf die Alterssicherung.

Gliederung des ARB

  • Berichtsteil A beschreibt die Konzeption des Berichts und die Rahmenbedingungen für das Spannungsfeld zwischen Armut und Reichtum. Untersucht werden langfristige Entwicklungen auf volkswirtschaftlicher Ebene sowie des Arbeitsmarkts. Ebenfalls behandelt wird die Datenlage zu den Hochvermögenden.
  • Berichtsteil B analysiert Erfolgs- und Risikofaktoren für Teilhabe nach vier Lebensphasen: frühe Jahre (bis 18 J.), jüngeres (18-34 J.), mittleres (35-64 J.) und älteres Erwachsenenalter (ab 65 J.). Schwerpunkt des 5. ARB sind jüngere Erwachsene (18-34 J.) und die Übergänge von Schule in Berufsausbildung, Studium und Beruf.
  • Berichtsteil C beschreibt 38 Kernindikatoren und deren Entwicklung seit dem vorherigen ARB (2013) für die gesamte Gesellschaft sowie für die Bereiche Armut und Reichtum. Hierzu zählen beispielsweise Angaben zu Bevölkerungsstruktur, Gesundheitszustand, Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohnen oder politisches Interesse. Weitere Indikatoren untersuchen Ausprägungen von Armut und Aspekte zur Entwicklung des Reichtums.

Kritische Anmerkungen zur Methodik

Eine systematische Lücke der Haushaltsbefragungen entsteht durch die Nicht-Einbeziehung großer Bevölkerungsteile mit Bezug zur Armut. Hierzu gehören ca. 335.000 wohnungslose Menschen. Nicht erhoben wurden auch Angaben zu Menschen in stationären Einrichtungen; dies sind rund 764.000 Pflegebedürftige und 200.000 Menschen mit Behinderung. Ebenfalls ausgenommen sind rund 185.000 Studierende in Wohnheimen sowie geflüchtete Menschen in Aufnahmeeinrichtungen und Unterkünften. (10) Faktisch ausgeschlossen ist auch der erhebliche Bereich verdeckter Armut oder die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialleistungen, z.B. aus Scham. Das Maß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen wird vom Paritätischen Gesamtverband mit einem Anteil von ca. 40% der an sich Berechtigten eingeschätzt. (11) Weiter zu bemängeln ist, dass Genderaspekte kaum thematisiert werden. Dies ist deshalb relevant, weil Frauen mit einer Armutsquote von 16,3% stärker von Armut betroffen sind; auch hat die Armutsbetroffenheit von Frauen seit 2011 stetig zugenommen. (12) Schließlich fehlt eine Untersuchung der langfristigen Entwicklungen von Armut bzw. Armutsgefährdung für die Betroffenen, denn die Haushaltsbefragungen zeigen nur Momentaufnahmen.

II. Die Armut

Armut ist Armut an Gesundheitschancen, an Bildungschancen und fehlende Teilhabe am öffentlichen Leben. Sie behindert die Möglichkeit der Information, Partizipation und der demokratischen Mitbestimmung. Die statistische Festlegung von Armut erfolgt über Definitionen der absoluten sowie der relativen Armut: Die absolute Armut liegt z.B. nach den Kriterien der Weltbank bei einer Kaufkraftparität von unter 1,90 US-$ täglich. Weitere Indikatoren für das Vorliegen absoluter Armut wären nach der International Development Association (IDA) ein Pro-Kopf-Einkommen unter 150 US-$ im Jahr, eine Nahrungsaufnahme von (je nach Land) täglich 2.160 – 2.670 Kalorien, eine durchschnittliche Lebenserwartung von unter 55 Jahren oder eine Kindersterblichkeit von mehr als 33 von 1000 Kindern. Der ARB definiert Armut anhand des Kriteriums materielle Deprivation (Entbehrungen). Ob diese vorliegt, wird anhand einer Liste von neun Bedarfskriterien ermittelt. (13)

Relative Armut wird üblicherweise angenommen unterhalb von 60 Prozent des Mittelwerts (Median) aller Nettoäquivalenzeinkommen einer Bevölkerung. Dieser Wert wird als Armutsrisikoquote (auch: Armutsgefährdungsquote) bezeichnet. Kritisch festzuhalten ist, dass rechnerische Festlegungen relativer Armut nur bedingt aussagekräftig sind. Sie hängt von der Entwicklung aller Einkommen ab. Steigen die Einkommen in den oberen Einkommenssegmenten, wächst auch die relative Armut der unteren Gruppen. Armut ist aber auch relativ in Bezug auf die individuellen Lebenswelten. Neben Unterschieden der Lebenshaltungskosten zwischen Stadt und Land bestehen erhebliche regionale Unterschiede zwischen Süd- und Nord-, West- und Ostdeutschland. Zudem übersieht ein primär am Einkommen orientierter Armutsbegriff weitere Ressourcen, etwa vorhandenes Vermögen, Wohnungseigentum oder die Ausstattung mit langlebigen Haushaltsgütern. Umgekehrt ist zu bemängeln, dass eine punktuelle Messung von Armut auch kurzfristige, vorübergehende Armutsphasen erfasst, z.B. während einer Prüfungsphase bei sonst guter Berufsaussicht. Aus diesen Gründen verfolgt der ARB einen breiteren Ansatz zur Definition von Armut:

Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen mit vielen Facetten. Sie ist im Wesentlichen ein Mangel an Mitteln und Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Als komplexes Phänomen entzieht sie sich einer einfachen und eindeutigen Messung. […] Die Bundesregierung orientiert sich daher an einem umfassenden Analyseansatz, der die Risiken für Armut und soziale Ausgrenzung in verschiedenen Lebenslagen beschreibt. Das Indikatorenset des ARB zur Feststellung von Armut umfasst elf Indikatoren aus verschiedenen Bereichen …“ (ARB, S. 547)

Die Darstellung der Armut nach lebenslaufbezogenen Abschnitten und Dimensionen – wie Wohnen, Partizipation, Gesundheit oder Pflege – nimmt den größten Teil des ARB ein und bietet eine (Über-) Fülle von armutsbezogenen Daten und Aussagen zu unterschiedlichen Dimensionen der Armut. Die gilt auch für den Schwerpunktbereich des aktuellen ARB zu Übergängen von frühkindlicher Förderung, vorschulischer und schulischer Bildung bis zur berufsbezogenen Ausbildung und zum Berufseinstieg junger Erwachsener. Die vielen Ergebnisse zu den im Einzelnen behandelten Dimensionen der Armut können hier nicht wiedergebgeben werden. Die Materialfülle bietet aber zahlreiche Argumente für aktuelle Streitfragen der Armutspolitik.

Nachfolgend werden einige allgemeine Berichtsergebnisse zum Bereich der Armut sowie zu einem ausgewählten Beispiel (der Kinderarmut) dargestellt: Der ARB stellt für den Berichtszeitraum eine Stagnation der Armutsrisikoquote fest. Demnach wuchs diese Verhältniszahl hierzulande vor allem von Ende der 1990er Jahre bis 2005 von rund 12% auf 14% und lag seither zwischen 14% bis 15% (ARB, S. 548). Ein starker Anstieg von 14,5 auf 15,8 Prozentpunkte (also um rund 9%) im letzten Berichtsjahr 2016 wird teilweise durch methodische Änderungen, nämlich einer Änderung der Stichprobenkonzeption, erklärt (ebd.).

Zu den größten Personengruppen mit Einkommen unterhalb der Grenze relativer Armut zählen lang Arbeitslose und Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche. Ein besonders hohes Armutsriskio besteht dabei für Personen mit geringeren Chancen auf Auswege aus der Armutsfalle: Hierzu gehören vor allem langzeitig erwerbslose Menschen. Eine weitere, besonders prekäre Form von Armut ist die zunehmende und meist ausweglose Altersarmut, da im hohen Alter nur selten eine Erwerbsmöglichkeit besteht. Besonders häufig von Armut betroffen sind auch Alleinerziehende und deren Kinder.

Die Kinderarmut wird oft über fehlende Bildungs- und Ausbildungschancen „vererbt“. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die in absoluter Armut (14) leben, beträgt um 5% (2013: 5,6%, 2014: 5,0%, 2015: 4,7%) und liegt damit deutlich über dem Anteil der Gesamtbevölkerung (2013: 5,4%, 2014: 5,0%, 2015: 4,4%). (15) Dies bedeutet, dass hierzulande etwa 600.000 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren in absoluter Armut leben! Die Armutsrisikoquote von unter 18-jährigen wird je nach Berechnungsgrundlage zwischen 14,6% und 21,1% angegeben, (16) somit lebt etwa jedes Fünfte der knapp 13 Mio. Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren im Bereich relativer Armut! Dieser Anteil stieg sowohl nach Mikrozensus als auch nach SOEP in den letzten Jahren an. Nach aktuellen Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis des Mikrozensus 2016 ist die Armutsrisikoquote im Jahr 2016 auf 20,3% (17) angestiegen. Nach diesen Berechnungen wirken sich hier auch die sehr hohen Armutsrisiken von unter 18-jährigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus (in Deutschland geboren: 28,2%; zugewandert: 54,2%).

Als häufigste Ursache für Kinderarmut wird die „eingeschränkte Erwerbstätigkeit“ der Eltern festgestellt (ARB, S. XXI). Eine etwas zynisch anmutende Handlungsempfehlung des ARB lautet deshalb: „Gute und auskömmliche Erwerbsarbeit der Eltern trägt somit wesentlich zur Verringerung von Kinderarmut bei.“ (ARB, S. XXII). Wie bei allen anderen Armutsbereichen werden auch für den Bereich der Kinderarmut Gegenmaßnahmen der Bundesregierung aufgeführt. Genannt werden z.B. Kindergeld, Bildungs- und Teilhabepaket, Wohngeld, Erhöhungen des Kinderzuschlags und des Unterhaltsvorschusses sowie des steuerlichen Entlastungsbetrags für Alleinerziehende, ElterngeldPlus und Partnerbonusmonate sowie der Ausbau der Kitabetreuung.

Allerdings wäre jeweils näher zu prüfen, ob die aufgeführten Maßnahmen tatsächlich eine Vermeidung von Kinderarmut bewirken. Für darüber hinausgehende konzeptionelle Überlegungen wären schließlich auch die sozialen Folgekosten der Kinderarmut zu bedenken: Mit Kinderarmut konnotiert sind Schwierigkeiten im Schul- und Bildungssystem, formal niedrigere Bildungsabschlüsse, höhere Abbruchquoten und der seltenere berufliche Aufstieg. Weitere Armutsfolgen sind häufig eine schlechtere körperliche und psychische Gesundheit, ein ungesundes Wohnumfeld und ein geringeres Engagement in Vereinen. Bei armen Kinder werden häufiger psychische Auffälligkeiten festgestellt und sie erfahren öfter häusliche Gewalt. (18) Hinzu kommt die für alle Altersgruppen von Armutsbetroffenen höhere Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Die Verfestigung bzw. leichte Zunahme der relativen Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen bestärkt insgesamt den Eindruck, dass das lange bekannte und im ARB ständig berichtete Problem der Kinderarmut nicht ernsthaft angegangen wird.

III. Der Reichtum

Der ARB verwendet ein Indikatorenset aus sieben Messgrößen zur Beschreibung von Reichtum, die hier kurz beschrieben werden:

  • Einkommensreichtum: Zur Ermittlung dieses Indikators werden die o.a. Erhebungen (EVS, EU-SILC, SOEP) herangezogen. Als einkommensreich gelten Personen, die über mehr als das Doppelte des Mittelwerts aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügen. Diese Messgröße wird als relative (Einkommens-) Reichtumschwelle bezeichnet. Der Anteil dieser Personengruppe nahm z.B. auf Basis des SOEP in knapp 20 Jahren von 6,1% (1995) auf 8,0% (2013) um rund ein Drittel zu. Die Bezieher hoher Einkommen lassen sich weiter differenzieren, z.B. nach Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus, Haushaltstyp oder Wohnstatus.
  • Top-Vermögenseinkommensbezieher: Hierfür werden jährliche Einkünfte aus Vermögensbeständen, z.B. aus Immobilien oder Wertpapieren, von über 5.000 Euro einbezogen. Dieser nach dem SOEP ermittelte Personenanteil liegt seit 1995 um 7 %.
  • Top-Nettovermögende: Dieser Indikator bezeichnet den Bevölkerungsanteil von Personen mit einem eigenen Nettovermögen von über 500.000 Euro. Die Berechnung wird auch für Haushalte durchgeführt. Da diese Daten nur alle 5 Jahre erhoben werden, können Entwicklungen nur in diesem groben Zeitraster dargestellt werden. Über das SOEP werden als Vermögensbestandteile ermittelt: Bruttovermögen aus selbstgenutzten und weiteren Immobilien, Geld- und Anlagevermögen sowie Betriebs- und Sachvermögen. Verbindlichkeiten werden abgezogen. Darunter fallen z.B. Schulden durch Konsumkredite oder durch Hypothekenkredite. Der Indikator wird nach Geschlecht, Gebiet (Ost/West), Alter, Haushaltstyp, Erwerbsstatus, Wohnstatus, Migrationshintergrund sowie dem Einkommen in den jeweiligen Gruppen differenziert.                                              
    Da keine offiziellen Registerdaten zu Vermögen vorliegen, ist die Ungleichheitsforschung auf Stichprobenbefragungen als statistische Informationsquelle zur Vermögensungleichheit angewiesen. Hierbei liegt vermutlich eine Untererfassung der Gruppe der Hochvermögenden vor, auf die jedoch ein beträchtlicher Teil des Gesamtvermögens entfällt.
    Der Anteil der festgestellten Top-Nettovermögenden lag zwischen 2002 und 2012 durchgehend bei etwa 2,8% der Gesamtbevölkerung. Eine Darstellung der Vermögensverteilung nach Dezilen zeigt, dass die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über einen Anteil von 57,3% (2012, SOEP) des gesamten Nettovermögens verfügen (ARB, S. 506f.). Für die obersten 20 Prozent wird ein Anteil von 76,4% (2012, SOEP) des Nettovermögens errechnet, für die obersten 30 Prozent sind es 88,3% (2012, SOEP). Die reichere Hälfte der Bevölkerung verfügt fast über das gesamte Nettovermögen (2012: 99,0%; 2007: 99,8%; 2002: 99,3%; alles lt. SOEP); die Auswertung nach der EVS ergibt ähnliche Anteile.
  • Einkommensteuerpflichtige mit Höchstsatz von 45 Prozent: Angaben hierzu stammen aus den Geschäftsstatistiken zur Einkommensteuer des Statistischen Bundesamtes. Der Höchstsatz von 45% wurde ab 2007 festgelegt und gilt seit 2010 ab einem zu versteuernden Einkommen von 250.730 Euro. Einkünfte aus Kapitalvermögen sind hierbei kaum enthalten, da sie im Wesentlichen bereits über die Abgeltungsteuer entrichtet wurden. Die Anzahl der Steuerpflichtigen in dieser Gruppe stieg von knapp 69.000 (2007) auf etwa 73.000 (2012). Die durchschnittliche Höhe der von ihnen zu versteuernden Einkünfte liegt seit 2007 bei knapp über 1 Million Euro jährlich. Mit einem Anteil von 0,3% an allen Steuerpflichtigen leistete diese Gruppe im Jahre 2012 einen Anteil von 12,6% am gesamten Einkommensteueraufkommen.
  • Einkommensmillionäre: Diese Auswertung erfolgt ebenfalls über die Einkommensteuerstatistik des Statistischen Bundesamts. Die Personenzahl dieser Gruppe nahm zwischen 2002 und 2012 stetig von ca. 9.500 auf 16.400 Personen zu; im selben Zeitraum stiegen die Einkünfte dieser Gruppe von rund 26 Mrd. Euro auf 46 Mrd. Euro, dies entsprach 2012 etwa einem Siebtel des Bundeshaushalts. Durchschnittlich verfügten die einzelnen Mitglieder dieser Personengruppe über Jahreseinkünfte in Höhe von 2,8 Mio. Euro jährlich.
  • Einkommensanteile der Spitzenverdiener: Die Erhebung zu Top-Einkommensbeziehern erfolgt über die Datensammlung „World Wealth and Income Database“ (WID) von Wirtschaftswissenschaftler_innen. Die Datensammlung basiert auf Forschungsergebnissen aus über 25 Ländern, darunter auch Deutschland (19), und ermöglicht Auswertungen zu den Durchschnittseinkommen dieser Personengruppe und deren Anteilen am Gesamteinkommen aller Haushalte (z.B. oberste 0,1%, oberste 1% usw.).
    Das oberste Prozent der Einkommensbezieher_innen bezog 2012 einen Anteil von 11,4% aller Einkommen. Dies waren durchschnittlich rund 400.000 Euro. Die obersten 10 Prozent beziehen etwa 37% aller Einkommen; im Durchschnitt waren dies ca. 122.000 Euro. Im mehrjährigen Vergleich nehmen – nach Rückgängen in den Finanzkrisenjahren 2009 und 2010 – sowohl die Höhe dieser Einkommen als auch deren Anteile am gesamten Einkommensvolumen wieder zu.
  • Vermögensübertragungen (Erbschaften, Schenkungen): Weitere Angaben zu begüterten Steuerpflichtigen ermöglicht die Erbschafts- und Schenkungssteuerstatistik des Statistischen Bundesamts. Allerdings werden die meisten Erbschaften und Schenkungen gar nicht erfasst, da diese je nach Erbenzahl und Verwandtschaftsverhältnis unterhalb der Freibetragsgrenzen liegen.
    Die veranlagten Vermächtnisse und Erbschaften umfassten 2015 eine Summe von knapp 38 Mrd. Euro. Diese Summe ist in neun Jahren seit 2007 (22 Mrd. Euro) um etwa 73% gewachsen. Die Summe der veranlagungspflichtigen Schenkungen übertrifft inzwischen die Vermächtnisse und Erbschaften bei weitem. Sie hat sich zwischen 2007 (13 Mrd. Euro) und 2015 (64 Mrd. Euro) nahezu verfünffacht. (20)

Der ARB bietet relativ wenig Wissen über Hochvermögende sowie die Bezieher_innen hoher und höchster Einkommen in der Bundesrepublik. Einerseits ist dies durch die gezeigten erheblichen Lücken der Erhebung bedingt. So erfolgt die Einkommens- und Verbrauchstichprobe nur etwa alle 5 Jahre, ebenso die über das SOEP erhobene Vermögensbilanz (2002, 2007, 2012). Andererseits ist zu vermuten, dass nicht alle Befragten alle erforderlichen vermögensbezogenen Auskünfte geben.

Diese vermutete Untererfassung wird im ARB näher konkretisiert: Nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank und des Statistischen Bundesamtes betrug das gesamte Nettovermögen der privaten Haushalte (Geld-, Immobilien-, Betriebs- und Gebrauchsvermögen, inkl. der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck) Ende 2014 rund 11,7 Billionen Euro. (21) Laut ARB können Angaben zur Vermögensverteilung privater Haushalte nach der EVS aber lediglich für gut 5 Billionen Euro berechnet werden. Diese Vermögen sind nach den Vorgaben der EVS anders abgegrenzt; sie „[…] umfassen im engeren Sinne das verzinsliche Geldvermögen (Spar- und Bausparguthaben, Wertpapiere, Termingeld und angesammeltes Kapital bei Lebensversicherungen) und die Verkehrswerte von Immobilien (= Bruttovermögen) abzüglich Bau- und Konsumschulden (= Nettovermögen).“ (22) Lediglich diese Vermögensbestandteile gehen in die Berichterstattung des ARB ein. Das darüber hinaus berechnete (Sach-)Vermögen in einer sagenhaften Höhe von etwa 6,7 Billionen Euro (6.700 Milliarden!) wird im Rahmen des ARB indes nicht weiter berücksichtigt.

Die aus den verfügbaren Indikatoren berechneten Auskünfte zu Stand und Entwicklung des Reichtums zeigen für die meisten Indikatoren des Reichtums eine Zunahme:

  • Die Vermögen der reicheren Bevölkerungsanteile haben deutlich zugenommen.
  • Der Anteil von Beziehern hoher Einkommen wuchs stetig von 6,1% (1995, SOEP) auf 8,0% (2013, SOEP), in diesem Zeitraum also um rund ein Drittel.
  • Die Anzahl der Steuerpflichtigen mit einem Höchstsatz von 45% wuchs in 5 Jahren bis 2012 um 5,5% (von 69.000 auf 73.000).
  • Die Zahl der Einkommensmillionäre hat sich im Zeitraum von 2001 (9.500) bis 2012 (16.400) nahezu verdoppelt.
  • Die Einkommen der Spitzenverdiener verzeichnen, nach kurzem Rückgang in der (Finanz-) Wirtschaftskrise der Jahre 2009 und 2010, wieder eine leichte Zunahme.
IV.  Die Ungleich­heit

Die Entwicklungen zu Armut und Reichtum zeigen eine Zunahme der Ungleichheit: Dies lassen – trotz methodischer Lücken und Untererfassung der Vermögen und Einkommen – bereits die beschriebenen Indikatoren zur Beschreibung des Reichtums vermuten: Die eine Hälfte der Bevölkerung verfügt über rund 99% der Nettovermögen, die ärmere Hälfte über praktisch nichts. Für die ärmsten 10% werden wegen Überschuldungen sogar Negativwerte in Höhe von 1,2% (2013, SOEP) des gesamten Nettovermögens ausgewiesen. Der Anteil der Einkommensreichen, die mehr als das Doppelte des Durchschnittseinkommens (Median) beziehen, ist in 18 Jahren von 6,1% (1995) auf 8,0% (2013) gewachsen. Dies ist eine Zunahme um fast ein Drittel. Auch die Zahl der Einkommensmillionäre hat sich in den zehn Jahren vor 2012 fast verdoppelt. Bei den Einkommensvermögen sind leichte Rückgange in den Jahren 2009/2010 zu beobachten, was vermutlich mit Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zusammenhängt.

Im harten Kontrast zur Zunahme des Reichtums zeigen sich die Entwicklungen der Armut: Zum manifesten Bereich der Armut gehören zum einen alle Menschen, die von erheblichen materiellen Einschränkungen betroffen sind. Dieser Anteil ist von 5,4% (2013) auf 4,4% (2015) gesunken. Vor allem betroffen sind Alleinerziehende (ca. 11,4%), Arbeitslose (ca. 30%) und Alleinlebende (ca. 10%). (23) Ebenfalls im Bereich der Armut leben Menschen, die auf Leistungen aus dem Mindestsicherungssystem angewiesen sind. Hierzu gehören Bezieher_innen von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) nach SGB II inklusive „Aufstocker_innen“, von Sozialhilfe (SGB XII) oder von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe lag zwischen 2008 und 2014 bei etwa 9%; 2015 stieg dieser Anteil auf 9,7% (24) – dies sind rund 8 Millionen Menschen! Den größten Anteil stellten 2015 wiederum die rund 4,2 Mio. Bezieher von Arbeitslosengeld II/Hartz IV dar. Die Armutsrisikoquote als ein Ungleichheitsmaß der Einkommensverteilung stieg von 1990 bis 2005 auf 14,7% und lag in 2015 bei 15,7% (Mikrozensus). (25)

Die Primäreinkommen (Bruttoeinkommen aus Arbeit sowie Vermögen, Vermietung und Verpachtung) entwickelten sich vor allem im Zeitraum zwischen Mitte der 1990er Jahre bis Mitte der 2000er ungleich. Als Ursache darfür werden die Veränderungen des Arbeitsmarktes identifiziert, etwa die Zunahme des Niedriglohnbereichs und atypischer Beschäftigungsformen, sowie Lockerungen der Tarifbindung. (26) Laut ARB hat sich die Ungleichheit der Einkommen seit etwa 2005 nicht mehr wesentlich verändert. (27) Da sich die relative Berechnung der Ungleichheit aus beiden Gruppen – arm und reich – ergibt, kann diese Stagnation zweierlei bedeuten: dass sich die Einkommen der Gesamtbevölkerung ähnlich entwickelten, oder aber das obere und untere Einkommensanteile gleichermaßen zunehmen (bei schrumpfenden Anteilen der mittleren Einkommen). Angesichts des insgesamt steigenden Wohlstandes heißt eine stagnierende Armut nichts Gutes: Zu beachten sind hierbei auch die Wandlungen großer Bereiche des Arbeitsmarktes in den letzten Jahren, wie das Entstehen eines „Dienstleistungsprekariats“ ohne auskömmliches Einkommen trotz Berufs („Aufstocker“), vermutlich auch nach inzwischen erfolgter Einführung des Mindestlohns.

Insgesamt beschreibt der ARB lediglich allgemeine Arbeitsmarktentwicklungen, ohne dabei detailliert auf die problematische Zunahme von atypischer Beschäftigung, wie Leiharbeit, Teilzeit- und befristete Arbeitsverhältnisse oder sonstigen Formen von Unterbeschäftigung im Niedriglohnbereich einzugehen. Neben der optimistisch dargestellten Entwicklung der Arbeitsmarktdaten (hier wären z.B. die Effekte der Verrentung langfristig erwerbsloser Menschen zu beachten) und den sozialpolitischen Wirkungen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wären hier auch die für den Bereich der Armut einschlägigen langfristigen Entwicklungen unter den Bedingungen von „Hartz IV“ eingehender zu untersuchen.

V. Mehr Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit und Freiheit!

Ein „sportliches“ Verständnis von Ungleichheit, etwa verstanden als Antriebskraft im Leistungswettbewerb, mag für viele legitim sein. Langfristig von Armut Betroffene werden hierfür wenig Verständnis aufbringen. Ungleichheiten bestehen sowohl in den Vermögen als auch in den Einkommen. Die Ungleichheit der Einkommen hierzulande ist im internationalen Vergleich nicht auffällig. (28) Eine Ursache der Einkommensungleichheit wird in den seit 25 Jahren sinkenden Einkommen der Geringverdienenden gesehen. (29) Bei der Ungleichheit der Vermögen nimmt Deutschland jedoch in der Eurozone eine Führungsrolle ein; (30) zu beachten ist hier die nach wie vor bestehende regionale Ungleichheit zwischen West- und Ostdeutschland. Einer Umfrage zufolge empfinden ca. 82% der Befragten die soziale Ungleichheit hierzulande als zu groß. (31) Folgende Argumente sprechen für eine Verringerung der Ungleichheit:

1. Ungleich­heit ist teuer

Das Schrumpfen der mittleren Einkommens- und Vermögensgruppen und die daurch zunehmende Polarisierung behindert das Wirtschaftswachstum, so der DIW-Präsident Fratzscher. (32) Das DIW ermittelte über eine Modellrechnung eine langfristige Verzögerung des Wirtschaftswachstums infolge großer Ungleichheit. (33) Die Ungleichheit wirke sich u.a. negativ aus auf Investitionen, kurzfristige Anreize, Sparquote sowie Ausbildungsstand und bewirke so einen Rückgang der Produktivität. Die ungleichheitsbedingten Einbußen berechnet die Studie für 2015 auf rund 40 Mrd. Euro. (34) Auch einem Thesenpapier des IWF zufolge bewirkt eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Vermögen ein schnelleres und nachhaltigeres Wirtschaftswachstum. (35)

2. Ungleich­heit ist unsozial, ungesund und wenig menschlich

Der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Rolf Rosenbrock fasste zusammen: „Gesellschaften, die eine weniger ungleiche Verteilung haben, sind gesündere und auch humanere und auch effektivere und effizienter funktionierende Gesellschaften.“ (36) Ein steigendes Maß an Ungleichheit kann dagegen gesellschaftspolitisch unerwünschte Folgen zeitigen: Hierzu gehören durchaus nachvollziehbare Abstiegsängste der unteren Mittelschicht, Neid auf die Besserverdienenden oder die Resignation der bereits „Abgehängten“ sowie der Bewohner abgehängter Regionen und Bezirke. Hierin sind auch mögliche Ursachen für den Zulauf zu rechtspopulistischen Bewegungen und die seit längerem beobachtete Zunahme eines „Extremismus der Mitte“ (37) zu sehen.

3. Ungleich­heit kann die Freiheit einschränken

Auf das Verhältnis zwischen Ungleichheit und Unfreiheit wies der Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits in seinem Sondervotum zur Aussetzung der Vermögenssteuer durch das BVerfG (38) im Jahre 1996 hin. Er formulierte: dass die Ungleichheit in der Gesellschaft „[…] ein gewisses Maß nicht überschreiten darf, sonst geht sie über in Unfreiheit“. Der Ausgleich gesellschaftlich begründeter Ungleichheiten gehöre demnach zu den Kernaufgaben des demokratischen, sozialen Rechtsstaats und wenn die Ungleichheit sich „ungezügelt potenzieren“ könne, könne die verfassungsmäßige Ordnung insgesamt bedroht sein. Die Staatszielbestimmung des sozialen Rechtsstaats hieße nicht, wachsende Ungleichheit hinzunehmen; sondern auch, die Sozialbindung des Eigentums zu sichern. Sie könne in Notsituationen sogar eine Befugnis zur Vergesellschaftung begründen. (39)

VI.  Fazit

Angesichts der beschriebenen Akkumulation großer Vermögen bei relativ wenigen Haushalten – dem obersten Prozent gehören 32%, den obersten 10% gehören 60% des verfügbaren Privatvermögens – oder einer jährlich durch Erbschaften und Schenkungen übertragenen Vermögenssumme von rund 200 Mrd. Euro (40) erscheinen Überlegungen einer höheren Besteuerung dieser Gruppen legitim. Eine Wiedereinführung der 1996 durch das BVerfG ausgesetzten Vermögenssteuer ist aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen vorerst jedoch nicht absehbar. (41) Und eine Besteuerung hoher Erbschaften verspricht wenig Ertrag: Zwar fallen jährlich rund 1.200 Erbschaften über 5 Mio. Euro an; diese 0,08% aller Erbfälle erfassen immerhin ein Siebtel des gesamten vererbten Vermögens. Dennoch werden relativ wenige Erbschaftssteuern gezahlt, da meist Freibeträge gelten. Hohe Vermögen werden zudem meistens als Unternehmen vererbt, was wiederum Freistellungsmöglichkeiten eröffnet. Nach einer Untersuchung erfolgten solche Erwerbe ab 20 Mio. Euro zwischen 2011 und 2014 zu 93% erbschaftssteuerfrei. (42) Nach wie vor gilt somit die Feststellung: „Reichtum ist ein scheues Wild.“ Um dieses aufzuspüren und belastbare Erkenntnisse zum Bereich des Reichtums und der Entwicklung der Ungleichheit hierzulande zu gewinnen, muss die bestehende Untererfassung des privaten Reichtums der Vermögenden und der hohen Einkommen beseitigt werden. Dies ist Voraussetzung für die Wahrnehmung der wachsenden sozialen Ungleichheit als gesellschaftspolitisches Problem und für die überfällige Debatte sozialpolitischer Strategien. Für den Bereich der Armut ist zu fordern, dass die Materialfülle der Armut- und Reichtumsberichterstattung zu den armutsbezogenen Lebenslagen systematisch ausgewertet werden sollte. Vor allem aber sind sozialpolitische Taten erforderlich, die eine armutsfeste Sicherung für die Risikogruppen ermöglichen, wie Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende oder von der Alters- und Kinderarmut Betroffene.

TOBIAS BAUR   Jahrgang 1959, Diplom-Verwaltungswissenschaftler, tätig im Bereich der Sozial- und Gesundheitsverwaltung sowie als selbständiger Berater für die Entwicklung von Sozialorganisationen und soziales Unternehmensengagement. Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union mit den Arbeitsschwerpunkten Soziale Grundrechte (Sozial- und Gesundheitspolitik, Inklusion), Engagementpolitik und Partizipation.

Anmerkungen:

1 Oxfam-Factsheet zum Weltwirtschaftsforum 2017: Ein WirtschaftsSystem für Alle – Auswege aus
der Ungleichheitskrise, Januar 2017, S. 2.

2 Fratzscher, Marcel zit. nach Der Spiegel: „Die geteilte Nation“ vom 12.3.2016, S. 11.

3 BMAS [Hg.]: Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. April 2017. Der Bericht sowie die früheren Berichte und weitere Materialien sind verfügbar
unter: http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Der-fuenfte-Bericht/fuenfter-bericht.html. Alle weiteren Seitenangaben ohne Quelle beziehen sich auf diesen Bericht.

4 Beschluss vom 27.1.2000 zu BT-Drs. 14/999: „Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung“.

5 BT-Drs. 14/999, S. 1.

6 Schäfer, Armin: Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015 Endbericht – Forschungsvorhaben im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales, Juni 2016 http://www.armin-schaefer.de/wp-content/uploads/2016/12/endberichtsystematisch-verzerrte-entscheidungen.pdf (Zugriff 10.08.2017)

7 https://www.lobbycontrol.de/2017/04/armuts-und-reichtumsbericht-die-originaldokumente-zureichtum-und-einfluss/ (Zugriff: 08.08.2017)

8 Dokumentationen der Symposien und Workshops sind abrufbar unter: www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Service/Aktuelles/aktuelles.html

9 Dies berichteten z.B. der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und der Paritätische Gesamtverband.

10 Paritätischer Gesamtverband (Hg.): „Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017″ (2017). Die zitierten Zahlen sind bezogen auf den Mikrozensus, das Problem der Nicht-Erreichbarkeit betrifft jedoch alle Haushaltsbefragungen.

11 Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (Stand: 04.01.2017), S. 6.

12 S. Endnote 11.

13 S. folgende Endnote 14.

14 Die absolute Armut wird im ARB festgestellt über Kriterien erheblicher materieller Entbehrungen; Voraussetzung ist das Fehlen von vier Bereichen aus folgender 9-Punkteliste (EU-SILC): 1. Miete,
Wasser/ Strom sowie Verbindlichkeiten bezahlen, 2. angemessene Beheizung der Wohnung, 3. unerwartete Ausgaben tätigen können, 4. eine Woche an einem anderen Ort verbringen, 5. jeden Tag eine warme, vollwertige Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwertiger Proteinzufuhr, 6. Auto, 7. Waschmaschine, 8. Farbfernseher, 9. Telefon (ARB, S. 572).

15 5. ARB, S. 572.

16 5. ARB, S. 248.

17 WSI-Institut: Policy Brief 8/2017: Armut und Einwanderung – Armutsrisiken nach Migrationsstatus und Alter – Eine Kurzauswertung aktueller Daten auf Basis des Mikrozensus 2016, S. 3 – WSI und
der Paritätische Gesamtverband bezeichnen die Armutsrisikoquote übrigens als „Armutsquote“.

18 5. ARB, S. 278

19 5. ARB, S. 590

20 5. ARB, S. 592

21 5. ARB, S. 614

22 5. ARB, S. 614

23 5. ARB, S. 572, basierend auf EU-SILC und weiteren Berechnungen.

24 5. ARB, S. 563 f.

25 5. ARB, S. 548.

26 5. ARB, S. 53, Definition Primär- bzw. Markteinkommen vgl. 5. ARB, S. 99.

27 5. ARB, S. 124.

28 SPIEGEL online vom 23.04.2017: „Etwas ist faul im Kapitalismus“ mit Hinweis auf Thesenpapier des IWF: Ostry, Jonathan D.; Berg, Andrew; Tsangarides, Charalambos G.: „Redistribution, Inequality
and Growth“ (2014, 30 S.).

29 Fratzscher, Marcel: „Republik ohne Chancengleichheit: Deutschland am Wendepunkt“ in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 04/2016, S.91-100, S. 94.

30 Fratzscher, Marcel: „Das Märchen vom Märchen der Ungleichheit“ in ZEIT-online vom 17. Juli 2016.

31 Mau, Steffen, Heuer, Jan-Ocko: Wachsende Ungleichheit als Gefahr für nachhaltiges Wachstum (FES-Schriftenreihe: „gute gesellschaft – soziale demokratie“ (2017), S. 4 und S. 7.

32 S. Endnote 29.

33 Albig, Hanne; Clemens, Marius et. al.: „Zunehmende Ungleichheit verringert langfristig Wachstum – Analyse für Deutschland im Rahmen eines makroökonomischen Strukturmodells“ (FES-Schriftenreihe:
„gute gesellschaft – soziale demokratie“) (2016) – Eine Zusammenfassung von 29 Untersuchungen zu wirtschaftlichen Effekten von Ungleichheit vgl.: Behringer, Jan; Theobald, Thomas; van Treeck, Till: „Ungleichheit und makroökonomische Instabilität – Eine Bestandsaufnahme“ (FES-Schriftenreihe: „gute gesellschaft – soziale demokratie“) (2016), S. 29 f.

34 Albig, Hanne; Clemens, Marius et. al. (Endnote 33), S. 5.

35 Zu diesem Ergebnis kommt ein Thesenpapier des IWF: Ostry, Jonathan D.; Berg, Andrew; Tsangari – des, Charalambos G.: „Redistribution, Inequality, and Growth“ (2014, 30 S.), zitiert nach SPIEGEL online: „Etwas ist faul im Kapitalismus“ vom 23.04.2014.

36 Rosenbrock, Rolf: Gespräch zur Eröffnungsrede von Richard G. Wilkinson zum Kongress „Armut und Gesundheit 2017“ in: Info-Dienst für Gesundheitsförderung Nr. 17/ 2017, S. 8.

37 Vgl. die etwa alle zwei Jahre erscheinenden „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (erstmals: Oliver Decker, Elmar Brähler, Norman Geißler „Vom Rand zur Mitte – Rechtsextreme Einstellungen
und ihre Einflussfaktoren in Deutschland“, 2006); aktuelle Studie: Zick, Andreas: Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände – Rechtextreme Einstellungen in Deutschland, 2016: http://www.fesgegen-rechtsextremismus.de/inhalte/studien_Gutachten.php (Zugriff: 28.08.2017).

38 BVerfGE 93, 121 (149ff.).

39 Wikipedia, Eintrag: „Vermögensteuer (Deutschland)“ https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensteuer_(Deutschland) (Zugriff 24.07.2017).

40 Beckert, Jens: „Neid oder soziale Gerechtigkeit? Die gesellschaftliche Umkämpftheit der Erbschaftssteuer“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte v. 6.6.2017 (S. 23-29), S. 23.

41 Vgl. hierzu: Wieland, Joachim: Rechtliche Rahmenbedingungen für eine Wiedereinführung der Vermögensteuer – Rechtsgutachten, erstattet für ver.di (2003).

42 Bach, Stefan; Mertz, Thomas (DIW, 2016) zit. nach Beckert, Jens: Endnote 40, S. 23.

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