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Die 'Grund­rechts­union' als Ausweg aus der Krise? - Grund­rechts­schutz zwischen EGMR, EuGH und nationalen Verfas­sungs­ge­rich­ten*

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 41 – 49

Im Zuge des Europäischen Integrationsprozesses ist der deutsche Rechtsstaat mittlerweile intensiv in inter- und supranationale Rechtsregime eingeflochten. Dieser Beitrag geht aus politikwissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, welche Auswirkungen das Nebeneinander des Grundrechtsschutzes durch das deutsche Bundesverfassungsgericht, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Europäischen Gerichtshof hat. Im Verhältnis dieser drei Gerichte zueinander unterscheidet der Autor Konflikte über die Interpretation der Grundrechte von solchen über die Reichweite der Rechtsprechungskompetenzen. 

„Dann gehe ich halt nach Karlsruhe!“ Auch wenn dieser Satz von Bürger_innen oft leichtfertig ausgesprochen wird, da die Zulassungshürden einer Verfassungsbeschwerde gar nicht so leicht zu überwinden sind (Lübbe-Wolff 2005), so signalisiert er doch auch die hohe Wertschätzung, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips in Deutschland genießt (Kranenpohl 2009b). Im Zuge des europäischen Integrationsprozesses ist der deutsche Rechtsstaat mittlerweile intensiv in inter- und supranationale Rechtsregime eingeflochten. Ist den Bürger_innen aber bewusst, dass sie auch „nach Luxemburg“ zum Europäischen Gerichtshof der EU (EuGH) oder „nach Straßburg“ zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) des Europarats ziehen können, um ihre Grundrechte zu verteidigen?
Daher soll zunächst beispielhaft dargestellt werden, wie Grundrechtsschutz durch europäische Gerichte bereits praktiziert wird – und wie notwendig dieser ist. Im Weiteren werden die rechtlichen Verhältnisse im Gerichtsverbund kurz skizziert. Schließlich werden einige Problemfelder im Verhältnis der Gerichte der ‚Grundrechtsunion‘ angesprochen.

Grundrechtsschutz durch europäische Gerichte

Ende des 20. Jahrhunderts schien es, als ob sich die Idee einer umfassenden richterlichen Überprüfung allen staatlichen Handelns an den Grundrechten zumindest in Europa allgemein durchsetzen würde: Hatten schon Portugal und Spanien nach der Demokratisierung relativ starke Verfassungsgerichte eingerichtet, so beschritten auch die meisten mittelost- und osteuropäischen Demokratien nach dem Ende des Kommunismus diesen Weg (Stern 1999). Doch auch in etablierten westeuropäischen Demokratien wurde das richterliche Prüfungsrecht gestärkt: Der in seinen Handlungsmöglichkeiten relativ eingeschränkte französische Verfassungsrat wurde zunehmend aktiver (Fromont 2007), und selbst die britische Parlamentssouveränität erfuhr durch die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH eine Einschränkung (Schieren 2001).
Grundrechtsrelevant war zunächst vor allem die Einführung der Individualbeschwerde zum EGMR. Selbstverständlich sollte dies vor allem dazu dienen, rechtsstaatliche Defizite in jenen Signatarstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu bekämpfen, die (noch) nicht über einen ausgeprägten Grundrechtsschutz durch nationale Gerichte verfügten.[1] Schnell zeigten sich aber auch Auswirkungen auf Staaten mit vergleichsweise hohem Grundrechtsstandard (Bates 2010). In dem vielleicht am meisten Aufsehen erregenden Urteil gegen Deutschland entschieden die Straßburger Richter_innen 2009, dass die ‚nachträgliche Sicherungsverwahrung‘ von Straftäter_innen, da sie sich kaum vom Strafvollzug unterscheide, deshalb als ‚Strafe‘ anzusehen und eine nachträgliche Verlängerung daher ein Verstoß gegen Art. 7 EMRK sei (EGMR, 19359/04, 17.12.2009, M. ./. Deutschland); dies zwang das BVerfG, seine Rechtsprechung zum ‚Abstandsgebot‘ der Sicherungsverwahrung vom Strafvollzug zu modifizieren (BVerfGE 128, 326, Sicherungsverwahrung III). Ähnlich weitreichende Auswirkungen auf das deutsche Rechtssystem hatten Entscheidungen des EGMR zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK; bemerkenswert waren insbesondere die Fälle Caroline und Görgülü (Albers 2016: 78–86; Heckötter 2007; Kranenpohl 2016: 43–48).
Dagegen waren grundrechtsrelevante Entscheidungen des EuGHs zunächst auf den ökonomischen Bereich beschränkt. Aber auch diese können beträchtliche Auswirkungen haben: So entschieden die Luxemburger Richter_innen, die Verfassungsbestimmung, wonach Frauen  in der Bundeswehr keinen Dienst an der Waffe leisten dürften, stelle einen Verstoß gegen die Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben dar (EuGH, C-285/98, 11.01.2000, Kreil). Mittlerweile greift der Grundrechtsschutz des EuGHs aber deutlich weiter aus, wie seine jüngste Entscheidung zeigt, dass die Bedingungen des geplanten Abkommens der Europäischen Union und Kanadas über die Übermittlung von Fluggastdaten gegen Art. 7 und 8 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) verstießen (EuGH, Gutachten 1/15, 26.07.2017).

Die Rechtsverhältnisse im Gerichtsverbund

Allerdings ist die EMRK des Europarats nach deutscher Rechtsauffassung lediglich ein völkerrechtlicher Vertrag und damit ‚einfaches‘ Bundesrecht. Zudem verpflichtet die EMRK einen Mitgliedstaat im Falle eines durch den EGMR festgestellten Konventionsverstoßes lediglich dazu, den konkret gerügten Verstoß mit geeigneten Mitteln zu beenden und Beschwerdeführer_innen gegebenenfalls zu entschädigen (Art. 41, 46 EMRK). Damit war das BVerfG in seiner Rechtsprechung ‚eigentlich‘ nicht an die Straßburger Auslegung der EMRK gebunden. Allerdings haben die Karlsruher Richter_ innen mittlerweile anerkannt, dass die EMRK und EGMR-Rechtsprechung als „Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten“ dienen. Daher stehen Entscheidungen des EGMR, „die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, […]  rechtserheblichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft“ einer Karlsruher Entscheidung führen können (BVerfGE 128, 326, Sicherungsverwahrung III). Grundsätzlich ist das Verhältnis der beiden Gerichte aber – wie die ‚Caroline-Rechtsprechung‘ zeigt – weniger von der Frage von Über- oder Unterordnung geprägt, sondern eher davon, dass beide um eine korrekte Interpretation der einschlägigen Grundrechte in Anwendung auf den konkreten Fall ringen (Albers 2016: 83–85).
Allerdings hatte der EuGH schon früh die Chance ergriffen, die Kompetenzen der Gemeinschaften – und damit auch seine eigenen – gegenüber den Mitgliedstaaten – und somit auch gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten – auszuweiten.[2] Doch spielte in der Luxemburger Rechtsprechung der Schutz der Grundrechte zunächst keine herausgehobene Rolle: Zu stark erschien die Integration als politisches Projekt mit wirtschaftlichem Fokus und zu sehr dominierten dementsprechend in der Rechtsprechung des EuGH ökonomische Sachverhalte. Auch die feierliche Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) im Jahr 2000 änderte daran zunächst nichts, denn diese hatte zunächst nur ‚rechtspolitische‘ Bedeutung (Hoffmeister 2014: 120). Erst mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 wurde die GRCh Bestandteil des Primärrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV), womit der EuGH auf sie als grundrechtlichen Normenkatalog zurückgreifen kann.
Den sich daraus ergebenden Spielraum nutzte Luxemburg in der Entscheidung Åkerberg Fransson (EuGH, C-617/10, 26.02.2013) ausgiebig. Die Richter_innen entschieden, dass eine – durch Art. 50 GRCh untersagte – Doppelbestrafung vorliege, wenn eine Steuerhinterziehung sowohl mit Strafzahlungen als auch in einem Strafverfahren sanktioniert werde. Im Vorfeld der Entscheidung wurde allerdings streitig diskutiert, ob der EuGH überhaupt eine Zuständigkeit beanspruchen könne, denn Art. 51 Abs. 1 GRCh bestimmt, dass diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ bindend sei. Luxemburg entschied allerdings, dass sich die Sanktionierung einer Hinterziehung der schwedischen Mehrwertsteuer auf die europäische Mehrwertsteuerharmonisierungsrichtline 2006/12 stütze. Weiter postulierten sie: „Wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären“ (EuGH, C-617/10, 26.02.2013, § 21).
Der vom EuGH erhobene Anspruch einer weitreichenden Kontrolle mitgliedstaatlichen Handels am Maßstab der GRCh ist auch deshalb hervorzuheben, weil der Lissabon-Vertrag in Art. 6 Abs. 2 EUV eine weitere Intensivierung des Grundrechtsschutzes vorsieht: Die Europäische Union sollte wie die Mitgliedstaaten der EMRK beitreten, womit auch das Handeln der Union unmittelbar für die Jurisdiktion des EGMR zugänglich gewesen wäre. Kurz vor Weihnachten 2014 erklärte der EuGH aber die Beitrittsübereinkunft für mit dem Primärrecht der Europäischen Union nicht vereinbar (EuGH, Gutachten 2/13, 18.12.2014). Die Begründung wurde vielfach kritisiert (Tomuschat 2015; Kranenpohl 2016: 50–53), insbesondere da die Gerichtshöfe im Vorfeld auf Kooperationskurs schienen (Costa/Skouris 2011). Mit der Entscheidung dokumentiert der EuGH nach Auffassung von Beobachter_innen, dass er unwillig ist, sich in irgendeiner Form einer möglichen Jurisdiktion des EGMR zu unterwerfen. Zweifelhaft ist allerdings, ob eine solche Strategie tatsächlich erfolgreich sein wird, denn Straßburg behielt sich schon bisher eine zumindest indirekte Prüfung europäischer Rechtsakte vor (EGMR, Bosphorus ./. Irland, 30.06.2005, § 56), und Präsident Dean Spielmann betonte im EGMR-Jahresbericht 2014, im Zweifel vor einer Kontrolle von möglichen Grundrechtsverstößen durch die Europäische Union nicht zurückzuschrecken (EGMR 2015: 6).

Höhere Standards in der ‚Grundrechtsunion‘?

Wie ist diese Entwicklung zu beurteilen? Zunächst einmal lässt sich beobachten, dass die gerichtliche Kontrolldichte in der ‚Grundrechtsunion‘ zunimmt, denn mögliche Grundrechtsverletzungen können mittlerweile vor verschiedenen Gerichten gerügt werden. Für unter der Jurisdiktion des BVerfG lebende Bürger_innen erscheint dies möglicherweise als ‚Luxus‘, doch sollte nicht übersehen werden, dass in EU-Staaten ohne einen in gleicher Weise ausgestalteten Grundrechtsschutz – wie Großbritannien (Schieren 2001) – lange Zeit dieser allein über die europäischen Gerichtshöfe erfolgen konnte. Zudem können die bereits skizzierten ‚Eingriffe‘ von EGMR und EuGH in den Bereichen Gleichberechtigung, Schutz der Privatsphäre und Verbot von Doppelbestrafungen durchaus als erforderliche Korrekturen an der deutschen Praxis des Grundrechtsschutzes begriffen werden.
Damit ist insgesamt eine Akzentverschiebung in der Rechtsprechung des EGMR zu beobachten: In der Vergangenheit konzentrierten sich Straßburger Richter_innen vor allem darauf, fundamentalen grundrechtlichen ‚Defiziten‘ in EMRK-Signatarstaaten entgegenzuwirken – und diese Aufgabe wird mit Blick auf autoritär agierende Potentat_innen in Mittel- und Osteuropa sicher nicht überflüssig werden. Dazu treten in neuerer Zeit aber immer häufiger auch Differenzen mit Verfassungsgerichten zutage, die traditionell grundrechtsaffin und grundrechtsdogmatisch aktiv sind. Dabei stehen Fragen zum Ausgleich konkurrierender grundrechtlicher Verbürgungen in Rede. Solche Abwägungs- und Drittwirkungskonstellationen werfen allerdings – selbst bei einem gegebenen Set intersubjektiv (und transnational) als unverzichtbar erachteter Grundrechte – multidimensionale rechtliche Konflikte auf, die noch stärker als klassische abwehrrechtliche Fragestellungen ‚interpretationsoffen‘ sind (Kranenpohl 2009a).
Mit dem die GRCh auslegenden EuGH betritt aktuell noch ein weiterer gerichtlicher Akteur die Bühne, der zudem in Åkerberg Fransson seine Entscheidungskompetenz beträchtlich ausdehnte. Angesichts der Ausweitung der EU-Gesetzgebung auf immer mehr Politikbereiche ist eine stärker auf ‚klassische‘ – und nicht nur wirtschaftliche – Grundrechte ausgerichtete Grundrechtsjudikatur durch Luxemburg sicher unumgänglich, denn diese sind der mitgliedstaatlichen Regelung – und damit (zumindest de facto) auch der mitgliedstaatlichen Jurisdiktion – weitgehend enthoben. Eine Überprüfung der datenschutzrechtlichen Qualität von Regelungen zur Erfassung von Fluggastdaten, die durch Verträge der Europäischen Union mit Drittstaaten kreiert werden, kann letztlich effizient und effektiv nur durch europäische Gerichte erfolgen, die  auch für alle Mitgliedstaaten rechtlich verbindliche Entscheidungen treffen. Insofern zeichnet sich der europäische Gerichtsverbund durch gegenläufige Tendenzen aus. Einerseits nimmt die gerichtliche ‚Kontrolldichte‘ insgesamt zu, andererseits treten aber auch gerichtliche Kompetenzkonflikte auf und nehmen an Intensität zu.
Eine nähere Analyse zeigt, dass Konflikte über die „Deutungsmacht“ (Vorländer 2006) zwischen den Gerichten in zwei analytisch zu unterscheidenden Konfliktdimensionen angeordnet sind: der Kompetenzdimension und der Interpretationsdimension. Die Kompetenzdimension rekurriert auf die Frage, welche Rechtsmaterie Vorrang genießt, wenn Regelungen (bzw. Interpretationen) unterschiedlicher Rechtskreise (hier also Europarecht und mitgliedstaatliches Recht) divergieren – und daraus folgend, welche Kompetenzverteilung zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten besteht. Während im innerstaatlichen Verhältnis unbestritten ist, dass auch einfaches zentralstaatliches Recht dem Recht der Gliedstaaten – und selbstverständlich auch deren Verfassungsrecht – vorgeht, ist dies für das Verhältnis von Europarecht und nationalem Recht trotz des vom Europäischen Gerichtshof früh beanspruchten (und durchgesetzten) ‚Anwendungsvorranges‘ des Europarechts (EuGH, 26/62, 05.02.1963, van Gend & Loos) nicht unumstritten. So gilt beispielsweise in Deutschland Europarecht als einfaches Gesetzesrecht, welches sich damit im Rahmen des Grundgesetzes bewegen muss – und auf den das BVerfG letztlich auch seine Kontrollkompetenz gegenüber der Europäischen Union stützt.
In der Interpretationsdimension steht dagegen in Frage, wie eine Norm richtig auszulegen ist. Dies ist gerade bei den hier betrachteten Fragen nicht trivial, denn die Begriffe ‚Norm‘ und ‚richtig‘ sind in diesem Kontext alles andere als eindeutig: Hinsichtlich der ‚Norm‘ offenbart sich das Problem bereits dadurch, dass sich die unterschiedlichen Gerichte gar nicht auf einen einheitlichen Normtext beziehen, sondern auf mehrere spezifische Normkorpora. Die Gerichte suchen das offenkundige Problem unterschiedlicher Normkorpora zwar dadurch zu lösen, dass sie bei allen textlichen Unterschieden eine weitgehende Identität der verbrieften Rechte postulieren, doch verdeutlicht dies nur die Brisanz, die damit letztlich der Rechtsauslegung zukommt. Zudem treten gerade in Grundrechtskatalogen oftmals relativ unbestimmte, damit auslegungsbedürftige und somit für den Diskurs offene Rechtsbegriffe auf, so dass die Aufgabe der ‚richtigen‘ Auslegung noch prekärer erscheint. Schließlich können gerade auf dem Feld der Grundrechte die juristischen Methoden viel weniger als etwa im Zivilrecht ein ‚Interpretationsgeländer‘ bereitstellen (Kranenpohl 2009a).
Ein in den ‚Kooperationsverbund‘ eingebundenes Gericht verfügt damit im Falle von Divergenzen mit anderen Gerichten zur Wahrung seiner Position und Autonomie grundsätzlich über zwei strategische Handlungsoptionen: Entweder kann es seinen Kompetenzvorrang behaupten oder es kann argumentieren, die betreffenden Normen ‚besser‘ zu interpretieren. Interessanterweise praktiziert etwa Karlsruhe beide Strategien gegenüber Luxemburg. Im Zuge der Solange-Entscheidungen (BVerfGE 37, 271; 73, 339) betonte das BVerfG gegenüber dem EuGH die Luxemburger Defizite im Grundrechtsschutz. Seit Maastricht (BVerfGE 89, 155) argumentiert Karlsruhe seinerseits stärker kompetenzorientiert und bestätigt etwa die Existenz des „Kooperationsverhältnisses“ mit dem EuGH im Bereich des individuellen Grundrechtsschutzes (BVerfGE 89, 155 [178]). Zugleich betont das BVerfG aber auch, dass die Europäische Union als ‚Staatenverbund‘ nur begrenzte Hoheitsrechte von den Mitgliedstaaten übertragen bekommen habe. Daher habe das BVerfG zu prüfen, ob trotz des durch den Europäischen Gerichtshof garantierten Grundrechtsschutzes, „Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen“ (BVerfGE 89, 155). In der Entscheidung zum Lissabon-Vertrag von 2009 (BVerfGE 123, 267) hielt das Gericht an dieser Linie fest: Die Übertragung weiterer nationalstaatlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene erfordere in jedem Fall einen förmlichen Gesetzesbeschluss, und gewisse Kernkompetenzen dürften überhaupt nicht übertragen werden. Insbesondere behielt sich Karlsruhe aber eine ‚Ultra-vires-Kontrolle‘ und eine ‚Identitätskontrolle‘ vor. In den jüngsten OMT-Vorlagebeschlüssen (BVerfGE 134, 366; BVerfG, 2 BvR 859/15, 18.07.2017) zeichnet sich aber möglicherweise ein Wandel ab, denn im Rahmen eines Vorlageverfahrens müssen sich die Karlsruher Richter_innen nun darauf verlegen, eine überlegene Argumentation vorzuführen.
Insgesamt ist seit Åkerberg Fransson klar zu beobachten, dass der EuGH deutlich auf die ‚Kompetenzkarte‘ setzt und sich in dieser Hinsicht – wie das EMRK-Gutachten zeigt – auch nicht ‚übertrumpfen‘ lassen will. Der EGMR pflegt dagegen deutlich stärker einen Dialog um die angemessene Interpretation von Grundrechtsnormen. Auch das BVerfG verlegte sich – wie gezeigt – seinerseits gegenüber dem EGMR wesentlich früher darauf, in der Interpretationsdimension zu argumentieren. Nationale Gerichte scheinen dagegen ‚kompetenzrechtlich‘ allenfalls Rückzugsgefechte führen zu können und verstärken ihre Diskurstätigkeit in der Interpretationsdimension.

Die ‚Grundrechtsunion‘: notwendig, aber nicht ohne Risiken

Angesichts der immer deutlicheren Ausbildung einer supranationalen europäischen Herrschaftsordnung, auf die dank zunehmender „Intensität und … Reichweite grenzüberschreitender Austausch- und Produktionsprozesse“ (Zürn 1998: 76) auch nicht verzichtet werden kann, erscheint die Ausbildung eines europäischen Grundrechtsschutzregimes unerlässlich. Zum einen kann – wie die aktuellen ‚Rückzugsgefechte‘ des BVerfG zeigen – eine grundrechtsrelevante Kontrolle des Unionshandelns durch nationale Verfassungsgerichte nicht dauerhaft sichergestellt werden. Zum anderen wären langfristig Zonen unterschiedlicher Grundrechtsstandards innerhalb der Union normativ nicht akzeptabel. An der Etablierung eines unionsweiten Schutzregimes gegenüber Unionshandeln – gleich ob durch EuGH oder EGMR – führt scheinbar kein Weg vorbei. Mit Blick auf Karlsruhe und die vom EGMR veranlasste Modifikation seiner Rechtsprechung zum Recht auf Privatheit und zum Verbot der Doppelbestrafung kann auch die Position vertreten werden, dass die Aktivität von Gerichten, die nicht eindeutig als ’nachrangig‘ kategorisiert werden können, einer ‚Versteinerung‘ der Rechtsprechung entgegenwirken können. Schließlich erscheint es mit Blick auf die Entwicklungen in manchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beruhigend, dass es auch noch Richter_innen in Luxemburg und Straßburg gibt; auch die deutschen Mitbürger_innen scheinen gegen populistische Aufwallungen nicht völlig gefeit – und wer weiß, ob das BVerfG auch noch auf Folgebereitschaft stieße, wenn es gegen den (vermeintlichen) ‚Volkswillen‘ entschiede.
Ein solch eher polyzentrisches Regime zum Schutz der Grundrechte birgt aber auch Gefahren: Zum einen besteht das Risiko, dass gut informierte Akteure versuchen, ihre Anliegen letztinstanzlich von jenen Gerichten entscheiden zu lassen, von denen sie sich eine für sie günstige Entscheidung erhoffen. Insbesondere wenn die Gerichte Kontroversen in der Kompetenzdimension austragen, sind entsprechende Versuche nicht auszuschließen. Dazu absorbieren solche Kontroversen auch Energien, die die Richter_innen besser einsetzen sollten, um gemeinsam der Aushöhlung rechtsstaatlicher Garantien durch illiberale Vorstellungen eines einheitlichen Volkswillens entgegenzutreten, da die Folgebereitschaft gegenüber ihren Entscheidungen nie ’selbstverständlich‘ ist (Kranenpohl 2010: 423–431). Tragen die Gerichte ihre Kontroversen dagegen in der Interpretationsdimension aus, sind diese Gefahren zwar nicht völlig gebannt. Es kommt dann aber nicht zum „Kampf der Gerichte“ (Peters 2005), sondern der Diskurs erscheint dann als Ringen um die angemessene Anwendung von Grundrechtsnormen im „Kooperationsverhältnis“ (BVerfGE 89, 155 [178], Maastricht).

UWE KRANENPOHL   Jahrgang 1966, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Evangelischen Hochschule Nürnberg sowie Privatdozent an der Universität Passau. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Politik und Recht, Parteien, Hochschuldidaktik; wichtigste Veröffentlichung: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses (2010)

Literatur:

Albers, Marion 2016: Rechtsprechungsrecht und Rechtsprechungsverbünde, in: Rehder, Britta/Schneider, Ingrid (Hrsg.): Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, Baden-Baden, S. 61–95.

Bates, Ed 2010: The Evolution of the European Convention on Human Rights. From Its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, Oxford.

Costa, Jean-Paul/Skouris, Vassilios 2011: Joint Communication from Presidents Costa and Skouris, 24.01.2011, in: http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2011-02/cedh_cjue_english.pdf; 30.12.2014.

EGMR 2015: Annual Report 2014, in: http://www.echr.coe.int/Documents/Annual_Report_2014_ENG.pdf; 30.03.2015.

Fromont, Michel 2007: Der französische Verfassungsrat, in: Starck, Christian/Weber, Albrecht (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Auflage, Baden-Baden, S. 227–258.

Heckötter, Ulrike 2007: Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, Köln.

Hoffmeister, Frank 2014: Charta der Grundrechte, in: Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch zur Europäischen Integration, 13. Auflage, Baden-Baden, S. 117–123.

Kranenpohl, Uwe 2009a: Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat, Jg. 48, H. 3, S. 387–409.

Kranenpohl, Uwe 2009b: Die gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen der Verfassungsrechtsprechung oder: Darum lieben die Deutschen Karlsruhe, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 56, H. 4, S. 436–453.

Kranenpohl, Uwe 2010: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, Wiesbaden.

Kranenpohl, Uwe 2016: Zwischen Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg. Perspektiven eines europäischen Gerichtsverbunds zum Schutz der Grundrechte, in: Rehder, Britta/Schneider, Ingrid (Hrsg.): Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, Baden-Baden, S. 33–60.

Lübbe-Wolff, Gertrude 2005: Die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde. Wie man das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher macht, in: Anwaltsblatt, Jg. 55, H. 8-9, S. 509–517.

Peters, Anne 2005: Die Causa Caroline. Kampf der Gerichte?, in: Betrifft Justiz, Jg. 21, H. 83, S. 160–168.

Schieren, Stefan 2001: Die stille Revolution. Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, Darmstadt.

Stern, Klaus 1999: Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft Dokumentation zum Verfassungskongress „50 Jahre Grundgesetz / 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ vom 6. bis 8. Mai 1999 in Bonn, Opladen, S. 249–276.

Tomuschat, Christian 2015: Der Streit und die Auslegungshoheit: Die Autonomie der EU als Heiliger Gral. Das EuGH-Gutachten gegen den Beitritt der EU zur EMRK, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift, Jg. 42, H. 5-8, S. 133–139.

Vorländer, Hans (Hrsg.) 2006: Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden.

Zürn, Michael 1998: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt am Main.

Anmerkungen:

1 Im Folgenden wird auch in Bezug auf die EMRK meist der Einfachheit halber der Begriff ‚Grundrechte‘ verwendet, obwohl diese den Terminus ‚Menschenrechten und Grundfreiheiten‘ verwendet.

2 S. dazu auch das Interview mit Dieter Grimm in diesem Heft, S. 5 ff.

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