Beitragsbild Überschüsse und Defizite in den Handelsbilanzen zerstören die Eurozone und gefährden die Europäische Union (II)
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Überschüsse und Defizite in den Handels­bi­lanzen zerstören die Eurozone und gefährden die Europäische Union (II)

in: vorgänge Nr. 221/222 (1-2/2018), S. 179-195

Im ersten Teil seines Beitrags (in Heft Nr. 220) erklärte Rainer Land, welche ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Probleme mit den Überschüssen in Außenhandelsbilanzen (und den notwendigen Defiziten anderer Länder) verbunden sind. Im zweiten Teil geht er auf die verschiedenen Ursachen für unterschiedliche Produktivitätsniveaus und die daraus entstehenden Differenzen in den Handelsbilanzen ein (etwa die Bevölkerungsstruktur, regionalen Infrastruktur- und Synergiebedingungen). Solche Differenzen wurden früher durch variable Wechselkurse (weitgehend) ausgeglichen. Mit der Einführung des Euros entfällt diese Möglichkeit des Ausgleichs für den europäischen Wirtschaftsraum. Zugleich fehlt es an einer europäischen Lösung, die eine adäquate Entwicklung der nationalen Lohnniveaus mit der Produktivität in den einzelnen Mitgliedstaaten gewährleisten könnte. Land zeigt, inwiefern die Wirtschafts- und Währungskrisen im gegenwärtigen Zustand unvermeidbar sind – und benennt mögliche Auswege.

Teil II: Überschüsse und Defizite im Detail – Ursachen und Ausgleichs­me­cha­nismen

4. Warum gibt es Überschüsse und Defizite?

Um zu verstehen, wie Überschüsse und Defizite zustande kommen, muss man sich mit drei Faktoren befassen: a) regionalen Unterschieden in der Produktivität, b) regionalen Unterschieden in der Bevölkerungszusammensetzung, vor allem dem Verhältnis der Zahl der Erwerbstätigen zur Einwohnerzahl und c) mit der Funktionsweise der Ausgleichsmechanismen, insbesondere den Transfersystemen sowie den differenzierten Lohnniveaus und ihrer Anpassung, die Veränderung von Wechselkursen eingeschlossen.

Überschüsse und Defizite gibt es zwischen Regionen innerhalb einer Volkswirtschaft sowie zwischen den Volkswirtschaften. Der Vergleich kann helfen, die Ursachen und die Funktionsweise der Ausgleichsmechanismen zu verstehen. Allerdings funktioniert der Ausgleich innerhalb einer Volkswirtschaft ganz anders als zwischen Volkswirtschaften.

4.1. Produktivitätsdifferenzen (8)

Die Produktivität in Ostdeutschland betrug 1989 etwa 44 Prozent der westdeutschen. Sie sank durch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zunächst (1991) auf 35 Prozent und stieg bis 2013 auf rund 76 Prozent der westdeutschen Produktivtät (Land 2015, Tabelle). Vieles weist darauf hin, dass sich dieser Abstand derzeit kaum verringert. Ein Rückstand von 35 zu 100 lässt sich nur in einer außergewöhnlichen Situation und mit besonderen Anstrengungen verkraften. Auch der heutige Rückstand (75 bis 80 zu 100) ist nicht unproblematisch.
Zwischen eigenständigen Volkswirtschaften sind solche Differenzen hingegen nicht selten. So haben die Euroländer Estland, Portugal, Griechenland im Vergleich zu Frankreich, einem großen Industrieland mit der höchsten Produktivität in der EU, eine Produktivität von 25, 38 bzw. 44 Prozent, während Deutschland 94 Prozent erreicht (s. Abbildung 4). (9)


Abb. 4: Reale Arbeitsproduktivität in Euro pro Arbeitsstunde zu konstanten Preisen (Quelle: Eurostat © Europäische Union, 1995-2017, eigene Grafik)

Folgende Gründe spielen eine Rolle: Erstens sind regionale Unterschiede der Produktivität durch die unterschiedliche Ressourcenausstattung, den Industrialisierungsgrad und die Wirtschaftsstruktur bedingt; sie spiegeln die pfadabhängige Entwicklung und Industrialisierungsgeschichte der einzelnen Regionen wider. Solche Differenzen sind unvermeidlich. Nicht jeder Unterschied in Ressourcen und Wirtschaftsstruktur hat unterschiedliche Produktivitätsniveaus zur Folge. Eine Region, die starke Kapazitäten im Bereich der Elektronik hat, kann mit einer anderen Region, in der starke Medien- oder Umweltunternehmen entstanden sind, durchaus auf gleichem Produktivitätsniveau (Wertschöpfung pro Arbeitsstunde) liegen.

Bei der Produktion fern-handelbarer Güter in modernen Industriegesellschaften, deren Preise weitgehend von überregionalen Märkten bestimmt werden, sind die Produktivitätsunterschiede weniger auf einzelbetriebliche Differenzen, sondern eher auf Synergieeffekte in Clustern zurückzuführen. Der Produktivitätsrückstand in Ostdeutschland (76 % im Jahr 2013) dürfte weder auf technologische Rückstände noch auf mangelhafte Qualifikation oder Motivation zurückzuführen sein. Ein einzelner Maschinenbaubetrieb in Mecklenburg könnte nicht überleben, wenn er deutlich schlechtere Produkte oder mit viel höheren Kosten produzieren würde. Die Angleichung des technologischen Niveaus führt aber nicht automatisch zu einer gleichen regionalen Produktivität. Ein High-Tech-Cluster aus vielen miteinander kooperierenden, aber auch im Wettbewerb stehenden Unternehmen (Forschung und Entwicklung, unternehmensbezogene Dienstleistungen und Infrastruktur eingeschlossen), wird viele innovative und hochpreisige Produkte herstellen und immer wieder neue entwickeln können. Im Ergebnis ist die Wertschöpfung des Clusters pro Beschäftigten bzw. pro Arbeitsstunde höher. Ein einzelner Maschinenbaubetrieb, wie etwa der Schiffsschraubenhersteller in Mecklenburg oder der Hersteller von sehr speziellen Operationstischen für Krankenhäuser in Thüringen, ist für sich genommen wahrscheinlich nicht weniger produktiv als ein vergleichbarer Betrieb in Baden-Württemberg oder in Boston (Massachusetts). Aber in peripheren Regionen gibt es weniger solche Betriebe und der Anteil der Beschäftigten in prosperierenden Branchen ist geringer.

In der Regel sind Regionen in verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungszyklen. Eine Region, in der neue und expandierende Wirtschaftszweige entstanden sind (Silicon Valley), ist in einer anderen Lage als eine altindustrielle Region (Ruhrgebiet, Lausitz), in der bestimmte Produktionszweige überflüssig werden, schrumpfen oder ganz verschwinden und deren Produkte ausgesondert werden. Daher gibt es Regionen, die früher Überschüsse hatten, jetzt aber ein Produktionsdefizit aufweisen (z.B. die Lausitz, Teile des Ruhrgebiets, Schiffbaustandorte), und solche, die früher niedrige Einkommen hatten, jetzt aber prosperierende Überschussregionen geworden sind (wie Teile von Bayern).

Eine zweite Ursache sind Preisdifferenzen bei nicht fern-handelbaren, lokalen Gütern. Solche Güter und Dienstleistungen sind ein beträchtlicher Teil des regionalen Umsatzes (30 bis 40 Prozent). Dazu gehören Bauleistungen, lokales Handwerk, personenbezogene und andere Dienstleistungen, ein Teil des Einzelhandels und des Gastgewerbes. Dabei sind regionale Preisdifferenzen für die Produktivitätsunterschiede relevant. Kostet eine Bauleistung in München das Vierfache im Vergleich zu Friedland (Mecklenburg), dann ist auch die Produktivität (BIP pro Stunde) entsprechend höher, selbst wenn es keine Unterschiede in der Technologie gibt. Ein Friseur, der zwei Köpfe pro Stunde frisiert, bekommt in München 50 Euro dafür, in Putlitz hingegen nur 25. Der Münchener Friseur ist – wirtschaftlich betrachtet – doppelt so produktiv, obwohl er technologisch (Köpfe pro Stunde) die gleiche Produktivität hat (vgl. Anm. 8).

Drittens ist die Zusammensetzung der Bevölkerung von Bedeutung, zwar nicht für die Produktion pro Arbeitsstunde, aber pro Einwohner. Vergleichen wir zwei Regionen A und B mit je 5.000 Einwohnern, die dieselbe Arbeitsproduktivität von 50 Euro pro Stunde haben sollen. In der Region A sind 2.000 Einwohner beschäftigt, in der Region B 3.000. In A beträgt die Wertschöpfung pro Einwohner und Stunde dann 20 Euro, in der Region B 30 Euro pro Stunde, obwohl die Produktivität pro Arbeitsstunde gleich ist. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist die Region B 50 Prozent produktiver. Die Bevölkerungszusammensetzung beeinflusst die Produktivität im Verhältnis der Regionen zueinander. Je höher der Anteil von nicht erwerbstätigen Personen (Rentnern, Kindern, Arbeitslosen), desto geringer ist die regionale Produktivität bezogen auf die gesamte Einwohnerzahl.

Auch im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland spielt dies eine Rolle. Bezogen auf die Arbeitsstunde lag das ostdeutsche BIP bei 76 Prozent des westdeutschen (2013), bezogen auf die Einwohnerzahl aber nur bei 66 Prozent (vgl. Land 2015, Tabelle). Der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung war in Ostdeutschland wegen der Abwanderung seit 1990 deutlich geringer, die Produktivität (bezogen auf die Einwohnerzahl) entsprechend niedriger. Diese Differenzen wären noch höher, wenn man periphere Regionen wie Vorpommern mit Jena oder Hamburg vergleichen würde.

Zusammengefasst: Produktivitätsdifferenzen ergeben sich a) aus Produktivitätsunterschieden bei der Herstellung überregional handelbarer Güter (Produktpalette, Ressourcenausstattung, Forschung und Entwicklung, Qualifikation, Clustereffekte), b) aus den Preisdifferenzen bei nicht handelbaren Gütern und c) aus der Relation der Erwerbstätigen zur Gesamtbevölkerung.

Die Ausgleichsmechanismen für Produktivitätsdifferenzen innerhalb einer Volkswirtschaft und zwischen Volkswirtschaften unterscheiden sich grundsätzlich. Innerhalb einer Volkswirtschaft sind Transfers entscheidend, Lohndifferenzen spielen eine nachgeordnete Rolle. Zwischen Volkswirtschaften spielen Transfers eine geringe Rolle, der Ausgleich erfolgt hauptsächlich durch differente Lohnniveaus.

4.2. Ausgleichs­me­cha­nismen innerhalb einer Volks­wirt­schaft

In einem geschlossenen Wirtschaftssystem – einer aus mehreren Regionen bestehenden Volkswirtschaft (vom Außenhandel wird jetzt abgesehen) – muss immer genau so viel verbraucht, d.h. konsumiert plus investiert werden (real, d.h. in Form von Gütern und Leistungen), wie produziert wurde. Produziert eine Region innerhalb einer Volkswirtschaft mehr als sie verbraucht, hat sie einen Überschuss, was aber nur möglich ist, wenn eine andere Region mehr verbraucht, als sie produziert. Solche Differenzen sind innerhalb einer Volkswirtschaft normal. In Deutschland beispielsweise dürften viele Regionen in Baden-Württemberg mehr produzieren als sie verbrauchen, während im Ruhrgebiet oder in Sachsen-Anhalt Defizitregionen überwiegen dürften. In Mecklenburg-Vorpommern dürfte Stavenhagen eine Überschussregion sein, während Friedland und Woldegk weniger produzieren, als sie verbrauchen.

Überschüsse und Defizite müssen sich ausgleichen: Waren, Güter und Dienstleistungen wandern aus den Überschuss- in die Defizitregionen, aber die Zahlungen dafür bewegen sich in umgekehrte Richtung, denn die regional importierten Waren müssen natürlich bezahlt werden. Woher aber nehmen Defizitregionen das „Geld“ (eigentlich: das Einkommen), um den Import aus den Überschussregionen zu bezahlen? Die eigenen interregionalen Exporte reichen jedenfalls nicht. Gäbe es keinen finanziellen Zufluss, müssten die Haushalte, die Regionalverwaltung und/oder die Unternehmen ihre Ausgaben für Löhne, Investitionen und öffentliche Ausgaben reduzieren – was teilweise aus rechtlichen Gründen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist (z.B. Renten, Sozialausgaben, Gesundheit, Schule) und zudem die Region in eine Abwärtsspirale ziehen würde (z. B. wenn die Löhne regional sinken, die Bevölkerung daher stärker abwandert, die Wirtschaftsleistung weiter abnimmt usf.).

Die Einnahmen aus dem Güterexport sind in der Überschussregion laufend höher als die Ausgaben, in der Defizitregion laufend geringer. Der Warenaustausch zwischen beiden ist nur möglich, wenn die Differenz finanziell laufend ausgeglichen wird, und zwar durch Finanztransfers aus den Überschuss- in die Defizitregionen. Die Überschussregionen müssen ihren Warenexport in die Defizitregionen mittels Transfers irgendwie selbst bezahlen – aber wie? (10)

Welche Transfers kommen in Frage? Zunächst private Transfers, z.B. von Pendlern, die in der Überschussregion arbeiten, aber einen Teil des Einkommens am Familiensitz in der Defizitregion ausgeben oder an die Familie „zu Hause“ überweisen. Große Bedeutung haben die Transfers der Sozialsysteme: In der Überschussregion wird laufend mehr in die Sozialsysteme ein- als ausgezahlt, weil es hier relativ zur Gesamtbevölkerung mehr gut verdienende sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt. Umgekehrt in der Defizitregion, weil es hier relativ mehr Rentenempfänger, Arbeitslose und Sozialleistungsempfänger gibt. Der dritte große Block sind die laufenden Staatsausgaben, der Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern, Regionen und Kommunen und schließlich die privaten und öffentlichen Investitionen sowie die Wirtschaftsförderung. Würden diese Transfers nicht die interregionalen Handelsbilanzsalden ausgleichen, käme der Güterverkehr zwischen den Regionen zum Erliegen, die Überschüsse könnten nicht abgesetzt werden. Überschuss- wie Defizitregionen würden dabei verlieren: die Überschussregion würde Einnahmen und Einkommen verlieren und die Defizitregion die benötigten Produkte nicht mehr bekommen; sie würden erodieren und verfallen. Ohne den Ausgleich regionaler Überschüsse und Defizite würde die Volkswirtschaft in kleinere Einheiten mit insgesamt deutlich niedrigerem Produktivitätsdurchschnitt und stark unterschiedlichen Einkommensniveaus zerfallen.

Finanztransfers zwischen den Regionen sind eine unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren einer großen Volkswirtschaft, in der es eine gemeinsame Währung gibt und in der annähernd gleiche Lebensbedingungen die Integration der Bevölkerung zu einer Nation gewährleisten. Innerhalb einer Volkswirtschaft können Lohnunterschiede die Produktivitätsdifferenzen nur eingeschränkt kompensieren. Würde man Produktivitätsniveaus von mehr als 20 oder 30 Prozent durch entsprechende Lohndifferenzen ausgleichen wollen, wären weniger produktive Regionen bald entvölkert. Zwar werden die Lohnniveaus in schwächeren Regionen in der Regel etwas niedriger sein, aber innerhalb einer Volkswirtschaft dürfen die Abweichungen nicht sehr groß werden. Relevant ist auch, ob diese Unterschiede zu- oder abnehmen, die Regionen also divergieren oder konvergieren. Werden die Unterschiede in Produktivität, Einkommen, Beschäftigung und Infrastrukturausstattung größer, dann müssen die Transfers wachsen, was zu andauernden Auseinandersetzungen um die Neujustierung insbesondere der staatlichen Transfers führt – und zu wachsenden Pendlerströmen sowie einer Abwanderung. Eine konvergente Entwicklung auf der Basis komplementärer Wirtschaftsstrukturen hingegen verringert die notwendigen Transfers.

4.3. Handel zwischen selbstän­digen Volks­wirt­schaften

Zwischen Volkswirtschaften gibt es in vielen Fällen größere Produktivitätsdifferenzen als innerhalb einer Volkswirtschaft. Eine Produktivitätsdifferenz von 25, 40 oder 70 zu 100 (Estland, Spanien, Italien zu Frankreich) auszugleichen, würde Transfers in Höhe von vielen Milliarden Euro pro Jahr benötigen. Ein Ausgleich durch Transfers in diesen Größenordnungen wäre unvorstellbar. Der deutsche Handelsbilanzüberschuss 2016 betrug 252 Mrd. EUR, Frankreich hatte ein Defizit von 71 Mrd. Euro. Man sieht: Überschüsse und Defizite hängen nicht zwangsläufig von den Produktivitätsdifferenzen ab. Warum sollte Frankreich zum Ausgleich des Handelsbilanzdefizits Transfers von Deutschland bekommen, obwohl es genauso produktiv ist (genau genommen: sogar etwas produktiver)?

Ein Ausgleich durch Transfers ist aber auch nicht nötig, denn zwischen verschiedenen Volkswirtschaften werden Produktivitätsdifferenzen nicht durch Transfers, sondern durch unterschiedliche Lohnniveaus ausgeglichen. Zwischen Volkswirtschaften gibt es kein einheitliches Lohnniveau, es gibt auch keine praktischen und rechtlichen Mechanismen (Lohnfindung, Sozialsysteme, Steuersysteme), die ein einheitliches oder angenähertes Lohnniveau herbeiführen könnten. Weder die EU noch die Eurozone sind eine einheitliche Volkswirtschaft – und es ist m.E. auf absehbare Zeit auch nicht vorstellbar, dass sie es werden.

Im Handel zwischen eigenständigen Volkswirtschaften aber gilt: Den Produktivitätsniveaus sollten die Lohnniveaus entsprechen. Ein Land mit der doppelten Produktivität hat doppelt so hohe Löhne und damit auch eine Nachfrage, die der Produktion entspricht. Exportiert es einen Teil der Produktion, entsteht eine der Höhe nach identische Nachfrage nach Importen.

Dynamisch formuliert: Wächst die Produktivität um angenommen 3 Prozent, werden also 3 Prozent mehr Güter und Leistungen hergestellt, müssen auch die Löhne um den gleichen Betrag wachsen, um die Nachfrage nach Konsumgütern und ggf. nach Investitionsgütern für neue Produkte auf gleichem Niveau zu halten. Nimmt dabei der Anteil an Exporten zu, wird im Normalfall entsprechend mehr importiert, nehmen Exporte ab, sinkt automatisch die Nachfrage nach Importen.
Entsprechen die Lohnniveaus strukturell und der Tendenz nach den Produktivitätsniveaus, gibt es keine Überschüsse und Defizite im Handel bzw. diese treten nur temporär auf, wachsen nicht über die Jahre an. Die Handelsbilanzen gleichen sich mittelfristig aus.

Das bedeutet allerdings in der Umkehrung: Überschüsse und Defizite können auch bei gleichen oder ähnlichen Produktivitätsniveaus auftreten, und zwar dann, wenn die Lohnniveaus voneinander abweichen. Dies erklärt die Handelsbilanzdifferenzen zwischen Deutschland und Frankreich: Das deutsche Lohnniveau ist im Verhältnis zur Produktivität ca. 25 Prozent zu niedrig, daher importiert Deutschland zu wenig.

Überschüsse und Defizite im Handel zwischen selbständigen Volkswirtschaften können spiegelbildlich zwei Ursachen haben: Produktivitätsdifferenzen, die nicht durch entsprechende Differenzen der Durchschnittslöhne kompensiert werden, oder umgekehrt Lohndifferenzen, die nicht auf Produktivitätsdifferenzen basieren. Die Abweichung der Lohn- von den Produktivitätsdifferenzen ist die wichtigste Ursache der Eurokrise.

4.4. Ausgleich durch Wechsel­kurse

Im „klassischen“ Normalfall, der galt im Prinzip bis in die 1970er Jahre, können Überschüsse und Defizite zwischen verschiedenen Volkswirtschaften nicht sehr hoch werden, wenn sie autonome Währungen haben und die Wechselkurse frei schwanken (floaten) oder in einem System fester Wechselkurse regelmäßig an die Preisentwicklung und die Leistungsbilanz angepasst werden.

Die Veränderungen des Wechselkurses gleichen normalerweise die Handelsbilanz so aus, dass nur kleine Überschüsse oder Defizite zwischen den Volkswirtschaften entstehen können. Angenommen, eine Volkswirtschaft erzielt Exportüberschüsse und hat mehr Einnahmen in fremder Währung als Ausgaben für Importe. Auf dem Devisenmarkt würde dann mehr Währung des Defizitlandes angeboten, während es einen Nachfrageüberschuss der Währung des Überschusslandes gäbe. Die Währung des Defizitlandes würde abwerten, die des Überschusslandes aufwerten, d.h. die Preise der Exportgüter steigen, die der Importgüter sinken, der Export geht zurück, der Import steigt, solange, bis Export und Import ausgeglichen sind und es keine Differenz zwischen Angebot und Nachfrage der Währungen mehr gibt. Dies geschieht nicht augenblicklich, aber in der Tendenz; allerdings nur dann, wenn der Kurs ganz überwiegend von den Handelsströmen realer Güter und Dienstleistungen abhängt und durch Kapitalmarktflüsse, Interventionen und Spekulationen nicht erheblich modifiziert wird.

Überschüsse oder Defizite entstehen, wenn die Wechselkurse von den Paritäten der Handelsbilanz abweichen. Dies geschieht, wenn die Nachfrage und das Angebot nach Währungen auf den Devisenmärkten in erheblichem Maße von anderen Faktoren als dem Handel bestimmt werden. Dies kann im Prinzip drei Ursachen haben.

Erstens intervenieren die Zentralbanken, um Kurse zu beeinflussen, z.B. einen Kurs in einem vereinbarten Fenster zu halten, wenn ein Land an einem System fester Wechselkurse teilnimmt. Die Zentralbank gleicht die Differenz zwischen Einnahmen aus Exporten und Ausgaben aus Importen laufend aus, indem sie Währungsreserven auf den Markt wirft oder die Zinsen anhebt oder absenkt, um den Zustrom oder Abstrom von Devisen zu beeinflussen. Diese Interventionen sind kein Problem, wenn sich Überschüsse und Defizite mittelfristig ausgleichen, in einem Jahr also Devisen zufließen, im anderen abfließen. Es wird aber sehr teuer, wenn die Differenzen hoch sind und längere Zeit anhalten. Dies hat in den Währungssystemen von Bretton Woods und den Europäischen Währungssystemen I und II immer wieder zu erheblichen Spannungen und schließlich zum Ende dieser Systeme geführt (vgl. Varoufakis 2016 und Mitchell 2017).

Zentralbanken intervenieren auch, um einen bestimmten Wechselkurs aus politischen Gründen zu beeinflussen, z.B. um die Exportwirtschaft durch Unterbewertung zu stützen oder Kapitalströme ins Land zu locken. Interventionen der Zentralbanken sind für Überschussländer leichter, denn sie können abwerten bzw. Aufwertungen entgegenwirken, indem sie die eigene Währung auf den Markt werfen, also die Währung, die sie unbegrenzt selbst schöpfen können. Überschussländer haben bei Bedarf auch die Mittel für eine Aufwertung, da die Zentralbanken von Überschussländern in der Regel hohe Bestände an Fremdwährungsdevisen besitzen.

Die Anpassungslast liegt bei den Defizitländern. Wenn diese nicht abwerten wollen, müssen sie Fremdwährungen auf den Markt werfen und ihre eigene Währung zurückkaufen. Interventionen in einer Währung, die man nicht selbst emittierten kann, sind aber nur begrenzt möglich und teuer, da die Defizitländer in der Regel keine Gelegenheit hatten, Fremdwährungen anzusammeln (dies setzt nämlich vorherige Handelsbilanzüberschüsse voraus). In einem System fester Wechselkurse sind Länder mit Handelsbilanzdefiziten die Benachteiligten: sie müssen die Anpassungslast tragen, obwohl sie eigentlich die Schwächeren sind. (11)

Für Defizitländer sind Abwertungen die wirtschaftlich bessere Lösung. Italien war wirtschaftlich erfolgreich (wenn man Erfolg nicht am Außenhandelsüberschuss, sondern am Beschäftigungs-, Einkommens- und Lebensniveau der Bevölkerung misst), bis es sich dem Euro angeschlossen hat und seine Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr durch Abwertung erhalten konnte. Heute leidet es unter hoher Arbeitslosigkeit, sinkenden Einkommen und zunehmender Abhängigkeit von den Finanzmärkten.

Zweitens können Wechselkurse von den zum Ausgleich der Handelsbilanzen erforderlichen Paritäten abweichen, wenn es erhebliche Kapitalströme gibt. Das ist typisch für die USA, seit es ein wachsendes Handelsbilanzdefizit gibt (beginnend in den 1960er Jahren), das nicht durch eine entsprechende Abwertung des Dollars kompensiert wird. Das Handelsbilanzdefizit muss dann durch Verschuldung ausgeglichen werden, also durch einen Strom Finanztiteln aus dem Defizitland USA in die Überschussländer (China, Japan, Deutschland u.a.), d.h. durch die Zahlung von Dollar oder den Verkauf auf Dollar lautender Wertpapiere (vor allem Staatsanleihen). In den Bank­systemen und bei den Anlegern der Überschussländer sammeln sich dann Dollar- und Wertpapierbestände, denen US-Schulden entsprechen (und die in den Tresoren bzw. digitalen Datenbanken der Überschussländer auf ihre Abwertung warten, denn eine Rückzahlung ist praktisch ausgeschlossen). Durch die Bedeutung des Dollars, der amerikanischen Finanzplätze und der US-Staatsanleihen als weltweit wichtigster und sicherster Finanzanlage sowie durch ein vergleichsweise hohes Zinsniveau konnte seit den 1970er Jahren Jahr für Jahr genug Kapital in die USA gezogen werden, um deren Defizite in der Handelsbilanz und im Staatshaushalt zu finanzieren. Der Dollar war und ist die wichtigste Reservewährung. Viele Regierungen, Unternehmen, Versicherungen und Banken benötigen und halten Dollarreserven oder kaufen auf Dollar lautende Wertpapiere, auch weil diese hohe Sicherheit und respektable Renditen versprechen (vgl. Varoufakis 2012).

Drittens können Wechselkurse durch spekulative Kapitalbewegungen manipuliert werden, allerdings nicht anhaltend. Auch dabei können temporär Wechselkurse entstehen, die von den Handelsparitäten erheblich abweichen und die zuweilen katastrophale Währungskrisen auslösen. Untersuchungen zeigen, dass die Finanzmärkte auch unabhängig von Währungskrisen keine den Preisparitäten entsprechenden Kurse generieren, mal sind sie zu hoch, mal zu niedrig, also fast immer falsch für den aktuellen Handel und die Realwirtschaft. Dass dabei über mehrere Jahre durchschnittlich die richtigen Preisparitäten herauskommen, hilft wenig, denn der Handel orientiert sich an aktuellen Preisen, nicht an langfristigen Durchschnitten. Permanente Fehlallokationen sind im finanzmarktgesteuerten Kapitalismus normal: mal wird zu viel, mal zu wenig investiert, mal erscheint eine bestimmte Technologie rentabel, dann wieder nicht (vgl. Schulmeister 2012: 25ff, 51f).

In der EU gab es nach dem Ende des internationalen Währungssystems von Bretton Woods, in dem alle wichtigen Währungen fest an den Dollar gebunden waren, mehrere Versuche, in Europa ein System fester, aber anpassbarer Wechselkurse einzurichten. Diese Systeme – Währungsschlange, EWS I und EWS II – haben mal besser, mal schlechter funktioniert. Es gibt eine interessante wissenschaftliche Auseinandersetzung darum, ob die Vorteile oder die Nachteile dieses Systems im Vergleich zum Eurosystem überwogen haben, worin die Ursachen der Funktionsdefizite bestanden. (Höpner/Spielau 2015, Höpner 2013, Höpner/Flassbeck 2016, Busch u.a. 2016b, Flassbeck 2016b)

5. Der Sonderfall Eurozone: unter­schie­dene Volks­wirt­schaften haben eine gemeinsame Währung

Mehrere verschiedene Volkswirtschaften, erhebliche Produktivitätsdifferenzen, unterschiedliche Sozialsysteme – mit einer gemeinsamen Währung? Kann das funktionieren? Zweifel gab es von Anfang an.

Innerhalb der Eurozone gilt eine gemeinsame Währung, trotzdem handelt es sich nicht um eine einheitliche Volkswirtschaft. Die Unterschiede sind nicht regionaler, sondern nationaler Art. Der Grund sind zunächst (1) die erheblichen Differenzen in den Lohnniveaus, vor allem aber, dass es keinen übergreifenden gemeinsamen Mechanismus der Regulierung der Löhne und Einkommen gibt: Arbeitsrecht, Lohnabschlüsse, Tarifverträge und Sozialsysteme werden in den Nationalstaaten geregelt. Die Lohnniveaus ergeben sich als Folge nationaler Lohnfindung, in Deutschland durch Aushandlung der Tarifpartner in einem rechtlich geregelten Rahmen. (2) Ein einheitliches Lohnniveau setzt den freien Fluss von Arbeitskräften ohne relevante politische, rechtliche, aber auch sprachliche Barrieren voraus.(12) (3) Fehlen die politischen, rechtlichen, kulturellen Voraussetzungen für einen umfassenden Transfermechanismus, wie er zum Ausgleich von Überschüssen und Defiziten innerhalb einer Volkswirtschaft benötigt wird (4), wären die Größenordnungen der benötigten Transfers (mehrere hundert Milliarden pro Jahr) viel zu hoch.

Statische Betrachtung: Zwischen Volkswirtschaften werden volkswirtschaftliche Produktivitätsdifferenzen (vgl. Anm. 8) durch Lohn- und Einkommensdifferenzen kompensiert. Der Ausgleich wäre vollständig, wenn sich die Lohnniveaus wie die Produktivitätsniveaus verhalten. Ist die volkswirtschaftliche Produktivität in Staat A doppelt so hoch wie in B, dann sollten auch die Löhne und die davon abhängigen Masseneinkommen (Renten vor allem) doppelt so hoch sein. Auch die Gewinne wären doppelt so hoch, Lohnquote und volkswirtschaftliche Gewinnraten hingegen etwa gleich. Dann würden keine größeren Überschüsse und Defizite im Außenhandel entstehen können (mal wieder unterstellt, die Einflüsse der Finanzmärkte und der Spekulationen wären klein bzw. könnten hinreichend klein gehalten werden).

Das Verhältnis von Lohn (Bruttoentgelt pro Arbeitsstunde) und Produktivität (BIP pro Arbeitsstunde) wird in den Lohnstückkosten gemessen:

Wenn in zwei Ländern die Proportionen zwischen Stundenlohn und Produktivität gleich sind, z.B.

sind auch die Lohnstückkosten gleich, d.h. die beiden Volkswirtschaften wären preislich gleich wettbewerbsfähig. Dynamisch betrachtet: Steigen die Löhne so wie die Produktivität, bleibt die Wettbewerbsfähigkeit auch bei unterschiedlichen Produktivitätstendenzen erhalten. Steigen die Löhne etwas mehr als die Produktivität, angenommen um zusätzlich 1,9 Prozent, dann steigen auch die Lohnstückkosten um 1,9 Prozent und alle Preise würden im Mittel um diesen Betrag steigen. Das ist die sogenannte goldene Lohnregel: die Löhne sollen so steigen wie die Produktivität plus der Zielinflationsrate, die in der Eurozone 1,9 Prozent betragen soll. Wenn alle Länder die Löhne um die jeweils nationale Produktivität plus die gemeinsame Zielinflationsrate der Eurozone steigerten, würde sich die Wettbewerbsfähigkeit der Länder relativ zueinander nicht ändern, man würde relativ zueinander keine Marktanteile verlieren oder gewinnen, jedenfalls nicht wegen unterschiedlicher Lohnstückkosten. Ein gleichgewichtiger Handel erfordert, dass die Länder etwa gleiche Lohnstückkosten haben. Das bezieht sich auf den Durchschnitt, nicht auf die einzelnen Produkte. Vielmehr wird jedes Land bestimmte Produkte günstiger und/oder in besserer Qualität herstellen können und exportieren, jedoch die Dinge und Leistungen importieren, die anderswo günstiger hergestellt werden. Genau dann lohnt sich Handel für beide.

Dynamische Betrachtung: Steigen die Löhne so wie die Produktivität, steigt auch die Nachfrage nach Gütern und Leistungen in gleichem Maße. Steigt die Produktivität um angenommen 2 Prozent, die Preise um 1,9 Prozent, dann würde das BIP nominal um 3,9 Prozent wachsen. Steigen auch die Löhne um nominal 3,9 Prozent, würde die Nachfrageentwicklung genau der gestiegenen Produktion entsprechen, es gäbe weder ein Nachfragedefizit noch eine Produktionslücke. Export und Import stiegen dann ebenfalls proportional. Stiege der Export überproportional, würde das Angebot auf dem Binnenmarkt sinken, die Nachfrage nach Importen dafür steigen, so dass die Import-Export-Handelsbilanz ausgeglichen bliebe.

Nur wenn die Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung abweicht, entstehen Export- oder Importüberschüsse: Steigen die Löhne mehr als die Produktivität, muss die zusätzliche Nachfrage durch mehr Importe ausgeglichen werden – Defizit. Steigen die Löhne geringer als die Produktivität, muss ein Teil der Produktion exportiert werden – Überschuss. Oder die Mehrproduktion könnte nicht verkauft werden, was folgend zu einer Reduzierung der Produktion und, wenn es nicht korrigiert würde, in eine Abwärtsspirale aus sinkenden Löhnen, sinkender Produktion und steigender Arbeitslosigkeit führen würde.
Betrachten wir die Daten der Eurozone. Die Abbildungen 5 und 6 zeigen, dass die Lohnstückkosten erheblich differieren, wobei die Differenzen seit Gründung der Eurozone bis zur Krise 2009 immer größer geworden sind. Abb. 5 zeigt die Lohnstückkostenentwicklung Deutschlands, Frankreichs und Italiens im Verhältnis zum Inflationsziel. Die deutsche Lohnentwicklung bleibt dramatisch hinter dem Inflationsziel zurück, Deutschland hat ca. 20 bis 30 Prozent zu geringe Lohnstückkosten, in der EWU ohne Deutschland (Griechenland, Spanien und Italien) waren die Lohnstückkosten zu hoch. Seit 2012 wächst der Abstand zwar nicht mehr, aber er wird auch nicht geringer.


Abb. 5: Lohnstückkosten Deutschland und EWU in nationaler Währung in Relation zum Inflationsziel der EZB (Grafik: Makroskop)


Abb. 6: Lohnstückkosten in Italien, Frankreich, Deutschland in Relation zum Inflationsziel der EZB (Grafik: Makroskop)

Die Lohnentwicklung in Frankreich entsprach bis 2013 fast ideal dem Inflationsziel von 1,9 Prozent, danach weicht sie nach unten ab – eine Folge der zunehmenden Arbeitslosigkeit (Abb. 6). In Italien sind die Löhne bis zur Krise zu stark gestiegen, seither nähern sich die Lohnstückkosten der Zielinflationsrate an. Allerdings können die Handelsbilanzdefizite der Eurozone nicht allein durch Lohnanpassungen in den Defizitländern nach unten abgebaut werden. Nur wenn Deutschland die Überschüsse abbaut, also Löhne erhöht und mehr importiert, haben die anderen Euroländer eine Chance.

Die französische Lohnentwicklung entsprach der goldenen Lohnregel; das Leistungsbilanzdefizit ist nicht durch überhöhte französische Lohnabschlüsse verursacht, sondern die Kehrseite des deutschen Überschusses. Daher wäre es falsch, das französische Leistungsbilanzdefizit durch Lohnsenkungen abzubauen, wie es derzeit mit „Flexibilisierung“ und „Strukturanpassung“ von Frankreich verlangt und von Präsident Macron angestrebt wird. Das französische Defizit muss durch Anpassung der deutschen Löhne nach oben abgebaut werden. Eine Anpassung der französischen Löhne nach unten, also auf ein Niveau unterhalb der Produktivitätsentwicklung, würde die Eurozone insgesamt in eine deflationäre säkulare Stagnation zwingen (oder sollte man sagen: in der schon gegebenen Krise festhalten).

Dass Deutschland mit einer Politik der Überschüsse durch Lohnzurückhaltung erfolgreich war, bedeutet nicht, dass dies für die gesamte EU funktionieren könnte. Der „Erfolg“ hatte einen Grund, der sich nicht auf die Eurozone übertragen lässt: Die wichtigsten Handelspartner und Importeure deutscher Waren – Frankreich, Italien und andere Euroländer – konnten sich nicht durch Abwertung ihrer Währungen wehren, weil sie in der Euro-Währungsunion gefangen waren. Und sie hatten auch keine eigene Zentralbank, die der deutschen Deflation durch Geldpolitik gegensteuern konnte. China und die USA werden aber eine Ausweitung des deutschen Modells der Handelsbilanzüberschüsse auf die gesamte EU nicht widerstandslos hinnehmen. Entweder werten sie auch ab – womit sich übrigens ein Teil der „ersparten“ deutschen Finanzanlagen durch Wertverlust verflüchtigen würde – oder sie werden mit politischen Mitteln gegen wachsende Handelsbilanzüberschüsse der „deutschen“ EU vorgehen. Werden die geplanten „Reformen“ zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch die derzeitige französische Präsidentschaft erfolgreich umgesetzt, dürfte sich die Abweichung von der Zielinflationsrate nach unten weiter verstärken. Wenn beide großen Volkswirtschaften der Eurozone versuchen, über eine Strategie der Lohnmoderation zu Überschüssen zu kommen, werden die Probleme der anderen Euroländer noch größer – und natürlich der Widerstand der anderen Länder der Weltwirtschaft, vor allem der USA.

Abbildung 7 zeigt die Leistungsbilanzsalden. In Korrespondenz mit Abbildung 6 erkennt man den Zusammenhang zu den Lohnstückkosten: Deutschland mit Lohnstückkosten deutlich unter der Zielinflationsrate hat Überschüsse, die Länder mit Lohnstückkosten, die der Zielinflationsrate entsprechen (Frankreich) oder darüber liegen (Italien, Spanien, Griechenland) haben Defizite. Die Korrektur der Löhne in der Krise führt ab 2011 zu sinkenden Defiziten, ab 2012 haben Italien und Spanien wieder Überschüsse, weil die Importe drastisch sanken (vgl. auch Abb. 2 in Teil I).


Abb. 7: Leistungsbilanzsalden Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien (Grafik: Makroskop)

Von 1991 bis etwa 2000 waren die Überschüsse und Defizite moderat im Bereich von plus minus 2 bis maximal 4 Prozent des BIP; nicht gerade problemlos, aber erträglich. Nach der Einführung des Euros als gemeinsamer Währung begannen die Leistungsbilanzsalden auseinander zu laufen. Der deutsche Überschuss (13) stieg fast stetig auf inzwischen über 8 Prozent des BIP. Die Leistungsbilanzsalden der anderen Euroländer sanken bis zur großen Finanzkrise auf Defizite von 4 und mehr, in Spanien auf über 8 Prozent. Seit 2009 gehen die Defizite zurück, und zwar auf Grund drastischer Einschränkung der Importe, was Ausdruck sinkender Einkommen und steigender Arbeitslosigkeit in der Wirtschaftskrise ist. Die Tatsache, dass die Leistungsbilanzdefizite Spaniens, Italiens und Frankreichs sinken, der deutsche Überschuss aber bislang nicht zurückgeht, zeigt, dass es noch keine hinreichende Korrektur der Lohnentwicklung in Deutschland gegeben hat. Zum anderen zeigt diese Entwicklung, dass die EU insgesamt auf dem Weg zu Handelsbilanzüberschüssen gegenüber nicht-Euro-Ländern ist – sichtbar in Abbildung 3 (s. Teil I).

Die oben gezeigten Grafiken dokumentieren, dass es in der Eurozone keine funktionierende Anpassung der Lohnniveaus an das Produktivitätsniveau gibt. Insbesondere ermöglichen die Regeln der Eurozone, dass eine Volkswirtschaft sich über hinter der Produktivität zurückbleibenden Löhne einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Mitgliedern der Währungsunion verschafft. Nur weil die anderen Euroländer höhere, aber im Fall Frankreichs ökonomisch richtige Lohnstückkosten haben, kann dies funktionieren. Ebenso wenig sind die Regeln umgekehrt geeignet, Abweichungen der Löhne nach oben rechtzeitig einzuschränken. Erst 10 Jahre nach Einführung des Euro wurde klar, dass einige Länder (konkret: Griechenland, Spanien und Italien) zu hohe Löhne hatten.

Einer der Grundfehler ist die fehlende Regulation der Lohnniveaus. Der andere Grundfehler ist, dass zwar das Schuldenmachen zur Finanzierung der Handelsbilanzdefizite begrenzt wird, aber die Kumulation von Finanzanlagen (das Gegenstück zu den Defiziten, der finanzielle Ausdruck der Überschüsse) unbegrenzt ist und sogar als Erfolgsausweis betrachtet wird. Dieser Fehler setzt sich auch formal fort: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sanktioniert Defizite ab 4 Prozent, Überschüsse aber erst ab 6 Prozent, obwohl beides Ausdruck ein und desselben Vorgangs ist. Die ökonomische Fehlkonstruktion setzt sich in der Rechtskonstruktion fort. Damit wird die Anpassungslast falsch auf die Defizitländer gelegt. Diejenigen, die keine Mittel zur Intervention haben, sollen sich durch Schrumpfen anpassen; diejenigen, die die Mittel hätten um Löhne, Ausgaben und Investitionen zu erhöhen, also ihren sachlichen Reichtum statt des Geldvermögens zu vergrößern, sind nicht dazu angehalten.

Halten wir fest: Verschiedene Volkswirtschaften haben unterschiedliche Produktivitäts-, aber auch unterschiedliche Lohnniveaus. Zwischen Handel treibenden Volkswirtschaften gleichen sich Produktivitätsunterschiede normalerweise durch die Anpassung der Lohnniveaus aus. Wenn die Löhne der goldenen Lohnregel entsprechen, dann entstehen keine größeren Überschüsse oder Defizite.

Der oben beschriebene Wechselkursmechanismus entspricht in seiner Wirkungsweise dem Ausgleich durch Anpassung der Lohnniveaus, denn die Veränderung der nominalen Wechselkurse ändert die realen Wechselkurse so, dass die Reallohndifferenzen den Produktivitätsdifferenzen entsprechen. In dem Land, das aufwertet, steigen die Lohnstückkosten und die Reallöhne, in dem Land das abwertet sinken sie. Dadurch werden Abweichungen der Löhne von der Produktivität korrigiert und Überschüsse bzw. Defizite in den Handelsbilanzen gehen zurück.

Da es in der Eurozone keinen Wechselkursmechanismus gibt, können divergente Entwicklungen der Lohnstückkosten nur vermieden werden, wenn die Löhne von vornherein der Produktivitätsentwicklung – der goldenen Lohnregel – entsprechen. Dies muss nicht in jedem Jahr und sehr genau geschehen, sollte sich aber über einen Zeitraum von einigen Jahren immer wieder ausgleichen. Abweichungen dürften sich nicht kumulativ verstärken, was aber seit 1998 der Fall war.

Das bedeutet, dass es eine Abstimmung der Regierungen und der Tarifpartner über die Lohnentwicklung geben müsste – und eine politische Notfall-Interventionsmöglichkeit, wenn sich erhebliche Divergenzen in der Lohnstückkostenentwicklung zeigten. Wenn die Tarifpartner keine Vereinbarungen erreichen, die eine den jeweiligen nationalen Produktivitätsentwicklungen entsprechende Entwicklung der nationalen Lohnniveaus gewährleisten, müssen politische Vorgaben und Eingriffe möglich sein. Dabei gilt es nicht nur, überschießende, zu hohe Lohnabschlüsse zu verhindern, sondern genauso, hinter der Produktivität zurückbleibende Löhne anzuheben. Ein wichtiger Punkt: Deutschland müsste über mehrere Jahre überproportionale Lohnsteigerungen akzeptieren, damit die anderen Länder die Chance haben, den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit wieder aufzuholen und sich in der Eurozone insgesamt wieder eine konvergente Lohnstückkostenentwicklung entlang der Zielinflationsrate einpendeln kann.

Die Regulation der Lohnentwicklung hat drei mächtige Gegner: die deutsche Exportwirtschaft, die den Wettbewerbsvorteil durch den Rückstand der Löhne und möglichst weiter hinter der Produktivität zurückbleibende Löhne nicht aufgeben will; die Finanzmärkte, die Geschäfte mit der Finanzierung von Überschüssen und Defiziten machen; und die Regierung, die am Gängelband der Export- und Finanzwirtschaft und der neoliberalen Wirtschaftsberater hängt – unterstützt von den Medien, die mehrheitlich ebenfalls den neoliberalen Diskurs stützen. Sie alle propagieren Lohnzurückhaltung und Austerität als die Mittel der Wahl und wollen die Eurozone gesund schrumpfen statt sie durch steigende Löhne und Investitionen zu entwickeln.

Deshalb stehen die Chancen nicht besonders gut für eine Lohnregulierung, die mit den Funktionsbedingungen einer Währungsunion kompatibel wäre. Keine Partei in Deutschland verfolgt eine derartige Strategie.

RAINER LAND   Dr. sc. oec. (Jg. 1952), studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1992 ist er Redakteur der Zeitschrift Berliner Debatte Initial. Seit den 1980er Jahren arbeitet er an »Bausteinen zu einer evolutorischen Theorie der Moderne«. Seit 2000 ist er in diversen empirischen und theoretischen Projekten am selbst gegründeten Thünen-Institut e.V. in Bollewick tätig.

Literatur

Das Literaturverzeichnis finden sich in Teil I des Beitrags in vorgänge Nr. 220, S. 63 ff.

Datenquellen

Abb. 4: Daten von Eurostat, http://ec.europa.eu/eurostat/de/data/database (zugegriffen 31. Oktober 2017), eigene Grafiken

Abb. 5, 6 und 7: Daten von Statista 2017, https://de.statista.com/; Grafik Makroskop

Anmerkungen:

8 Sicherheitshalber merke ich an, dass es sich hier um die gesamtwirtschaftliche Produktivität einer Volkswirtschaft oder einer Region handelt, gemessen in Produktionswert bzw. Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Arbeitsstunde oder pro Beschäftigten, in einigen Fällen auch pro Einwohner. Dies ist zu unterscheiden von technischen Produktivitätskennziffern (Menge an Produkten in Stück pro Arbeitsstunde), betriebswirtschaftlichen oder branchenbezogenen (Produktionswert pro Stunde in einem Unternehmen oder einer Branche). In jeder modernen Volkswirtschaft steigt die technologische
Produktivität notwendigerweise in einigen Branchen überdurchschnittlich (innovative neue Industrien), in einigen unterdurchschnittlich (alte, traditionelle oder lokale Industrien mit geringem Innovationspotenzial) und in einigen sachbedingt gar nicht (Lehrer, Ärzte, viele personenbezogene Dienstleistungen. Ein Arzt, Lehrer, Friseur oder Wahrsager kann die Zahl seiner Klienten pro Stunde nicht wesentlich erhöhen, ohne die Qualität seiner Dienstleistung zu mindern). Damit diese Branchen an der durchschnittlichen Produktivitäts- und Einkommensentwicklung der Volkswirtschaft teilhaben, müssen die Preise für die Produkte und Leistungen in Branchen mit unterdurchschnittlicher Produktivitätsentwicklung überdurchschnittlich steigen, während sie in innovativen Branchen sinken oder unterdurchschnittlich steigen. Durch diesen systemischen Mechanismus werden die unvermeidbaren technischen Produktivitätsdifferenzen zwischen Branchen ausgeglichen, so dass bei einem funktionierenden System der Preis- und Lohnregulation theoretisch alle in gleichem Maße an der volkswirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung teilhaben. Eine Konsequenz dieses marktwirtschaftlichen Ausgleichs ist, dass die Inflationsrate in der Regel nicht Null sein kann, sondern in der Nähe der durchschnittlichen Produktivitätssteigerung liegen sollte.

9 Wir sehen von Sonderkonstellationen wie Irland oder Luxemburg ab.

10 Die Alternative zu Transfers wäre, dass sich die Haushalte der Defizitregionen zunehmend verschulden, während die der Überschussregionen Geldvermögen anhäufen – eine Alternative, die innerhalb einer Volkswirtschaft nur sehr eingeschränkt besteht, weil eine Region nicht über das Mittel der Kreditschöpfung verfügt, keine eigene Währung hat. Auch regionale Banken werden Kunden in Defizitregionen keine hohen und unbefristeten Kredite gewähren, weil sie nicht damit rechnen können, dass diese die Kredite zurückzahlen können. Um Kredite zu tilgen und zu verzinsen, benötigt man nämlich Überschüsse.

11 Keynes Vorschlag sah eine andere Verteilung der Anpassungslasten vor – hier sollten die prosperierenden Überschussländer in einen Fonds einzahlen, mit dem Währungsinterventionen auf multinationaler Ebene ermöglicht wurden. Der Vorschlag wurde aber von den USA abgelehnt. „Wie Keynes 1941 sagte, trifft bei festen Wechselkursen ‚… die Last der Anpassung das Land, das in der internationalen Zahlungsbilanz in der Position des Schuldners ist – das heißt, das (in diesem Zusammenhang) das schwächere und dazu auch noch das kleinere ist im Vergleich zur Gegenseite, die (in dem Fall) der Rest der Welt ist.‘ [Keynes 1980: 279]“. Zit nach Varoufakis 2016 Kindle Pos. 5699-5702, Fußnote 22. Vgl. auch Pos 428, 499, 548, 2265, 5022, 5298.

12 Zwar gibt es innerhalb der EU Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber abgesehen vom Billiglohnsektor und einigen speziellen Branchen ist die Arbeitsmigration schwach und bei Weitem nicht hinreichend, um die Lohn- und Einkommensniveaus anzugleichen. Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede verhindern Wanderung in Größenordnungen, wie sie z.B. für die USA typisch sind. Man darf angesichts der ökologischen Zukunftsfragen auch bezweifeln, ob die mit der Herstellung eines einheitlichen europäischen Arbeitsmarkts verbundene Mobilität von Portugal bis Bulgarien und Sizilien bis Norwegen wirklich wirtschaftlich wünschenswert und lebensweltlich sinnvoll ist.

13 Der Exportanteil beträgt 46 Prozent des BIP (2016), das wäre kein Problem, wenn der Importanteil genauso hoch wäre. Der beträgt aber nur 38 Prozent des BIP.

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