Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 224: Der Osten als Vorreiter? Rechtspopulismus im Gefolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche

Ist das die Lösung?

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 102-105

Michael Bröhning, Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. Dietz-Verlag, Bonn 2018, 112 S., 12,90 €

Der Titel und der Untertitel sind eindeutig. Michael Bröning lässt keinen Zweifel: Er steht für die Nation und den Nationalstaat. B., der das Referat „Internationale Politikanalyse“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin leitet, weiß natürlich, dass eine solche Haltung Kritik herausfordert. Eingangs zitiert er deshalb mit Peter Glotz gleich einen heftigen Kritiker des Nationalstaats, der 1970 die Bejahung der Nation als „moralischer Wahnsinn“ und den Staat einen überkommenen „Homunkulus“ nannte, „der weltweit nichts als Unfrieden stifte“ (S. 7). B. fragt dagegen, wie sich die weltweit anhaltende emotionale Bindung vieler Bürgerinnen und Bürger an das Phänomen Nationalstaat erklären lasse (S. 9). Er verweist dazu auf Umfragen, die für die nationale und gegen eine übernationale Einheit ausfallen (S. 10) sowie auf geschichtliche Beispiele, die seine Auffassung stützen sollen, etwa dass die Strände der Normandie nicht von kosmopolitischen Brigaden der Weltgesellschaft, sondern von den Streitkräften der demokratischen Nationalstaaten der Welt erstürmt worden seien (S. 13). B. vergisst allerdings, dass die Truppen unter einem einheitlichen Oberkommando standen, gemeinsame Werte vertraten und einheitliche Ziele verfolgten. Im Folgenden will B. die zentrale Rolle des Nationalstaaten auf drei Ebenen herausarbeiten (S. 14ff.): (1.) Migration, Solidarität und Integration; (2.) Europa und Demokratie sowie (3.) globale Politik und Nationalstaat. Sein abschließendes Fazit mündet in einem linken Lob der Nation.

B. stellt zunächst fest, dass wir in einem Zeitalter der Migration leben und die Fluchtbewegungen weltweit zunehmen. Notwendig sei nicht nur eine Steuerung, sondern auch eine Begrenzung der Migration (S. 24f.). Eine ungebremste globale Migration käme vor allem Kapitalbesitzern zugute, senke das Lohnniveau und verstärke die Ungleichheit. Sie untergrabe auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen eines jeden Wohlfahrtstaats (S. 25). Als Gegenposition verweist er auf Bemerkungen Katrin Göring-Eckardts, die sich 2015 über „ein ‚drastisch‘ verändertes, buntes Land“ freute, sowie von Patrick Kingsley, der im gleichen Jahr ein „geordnetes System der Masseneinwanderung für zwingend“ (The Guardian v. 31.7.2015) hielt. Keiner von beiden fordert jedoch eine unbegrenzte Einwanderung.

B. führt weiter aus (S. 27f.), massive (jetzt nicht mehr: unbegrenzte) Einwanderung in eine Solidargemeinschaft schwäche das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft. Unbegrenzte (!) Einwanderung sollte deshalb gerade von progressiven Befürwortern einer sozialstaatlichen Umverteilung kritisch gesehen werden, weil sie das sozialdemokratische Anliegen gesellschaftlicher Integration unterminiere (S. 28).  Er weist darauf hin, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung „Leitkultur“ als selbstverständlich empfinde (S. 30). Ihr gehe es darum, „die Herausforderungen der Migration auch durch ein Maß an gesellschaftlicher Anpassung der Neueinwanderer an ein gesellschaftliches „Wir“ zu gestalten, das eben nicht von den Grundrechtsparagraphen (gemeint: -artikel) des Grundgesetzes abgedeckt wird.“ (S. 31) Er erinnert an das sogenannte Böckenförde-Diktum aus dem Jahre 1967[1], wonach „der freiheitlich säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.“ Die entscheidende Frage, welche Voraussetzungen das denn seien, lässt B. indes offen. (Auch Böckenförde hat sich erst viel später dazu geäußert, s. Interview in der TAZ v. 23.9.2009). Abschließend verweist B. auf das kanadische Migrationsmodell bestehend aus dem Dreiklang Auswahl, Begrenzung und Großzügigkeit als einen positiven, pragmatischen Ansatz (S. 33ff.). Auf dieser Basis seien 2016 rd. 320.000 Neubürger und 46.000 Flüchtlinge ins Land gekommen. Die kanadische Politik setze nicht auf unbegrenzte Einwanderung, sondern die Offenheit gegenüber der Einwanderung beruhe auf dem klaren Bekenntnis zu staatlicher Kontrolle.

Das Kapitel „Europa und die Demokratie“ (S. 40ff.) beginnt mit der Feststellung, dass Europa in einer ganzen Serie von sich gegenseitig verstärkenden Krisen stecke: Wirtschafts- und Finanzkrise, Eurokrise, Brexit und anhaltende Flüchtlings- und Migrationskrise. Deshalb bedürfe die EU in ihrer jetzigen Form einer grundlegenden Reform. Dabei stelle sich – so B. – die Frage, ob wir tatsächlich überall mehr Europa brauchen und ob der Nationalstaat wirklich überall den Weg freimachen müsse für „europäische“ Lösungen (S. 40)? Nach B. ist dies in der deutschen politischen Klasse weitgehend Konsens. Allerdings fügt er dafür keine Belege an. Er verweist hingegen auf das Demokratiedefizit der EU und darauf, dass zwischen dem ideellen Europa und dem realexistierenden Europa unterschieden werden müsse. Letzteres sei von konservativen Kräften aus der Taufe gehoben worden, was das europäische Projekt bis heute präge (S. 46) – trotz Willy Brandt, Francois Mitterand oder Olof Palme. Europa habe sich zu einem Projekt der Rechtsetzung entwickelt. So spreche die Kommission in ihrem 2012 vorgelegten Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts von einem „Besitzstand der Europäischen Union“, zu dem sie etwa die 9.576 Verordnungen und 1.989 Richtlinien zähle, die von den Mitgliedsstaaten umzusetzen sind (S. 47). Diese seien jedoch von einer demokratischen Kontrolle weitgehend entkoppelt. Als weiteres Beispiel für die demokratischen Defizite der Union führt B. die Eurorettung an (S. 51ff). Seine These: Wenn die Demokratie scheitert, scheitert auch Europa (S. 56ff). Allerdings könne eine demokratische, europäische Identität nicht ex cathedra verordnet werden (S. 60). Den Vorschlag einer Parlamentarisierung der EU kontert B. mit der Kritik des ehemaligen Richters beim Bundesverfassungsgericht Prof. Dieter Grimm, wonach die europäischen Verträge „voll“ von einfachem Gesetzesrecht und damit viele Themen der politischen Entscheidung entzogen sind (S. 61f).[2] Was also tun, fragt B. und schlägt einen pragmatischen Mittelweg vor, der darin bestehen soll (S. 65ff.), dass bestimmte Politikfelder auf europäischer, andere auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden.

Wie steht der Nationalstaat zur globalen Politik und zu den supranationalen Organisationen (S. 71ff.)? Nach B. gibt es nur noch selten ernsthafte Plädoyers für eine Weltregierung, meist werde das Konzept der Global Governance vertreten, dessen Umsetzung jedoch höchst unwahrscheinlich sei (S. 74). Im Übrigen bestünde das eigentliche Problem nicht in einem Zuviel, sondern in zu wenig Staatlichkeit. Die Hauptbedrohung sei nicht mehr die Eroberung von Staaten, sondern deren Zusammenbruch (S. 80) – siehe etwa Libyen und Jemen. Es müsse darum gehen, „den Multilateralismus zu stärken, absolute Souveränität zu überwinden und dabei doch die tragende Säule der internationalen Ordnung – funktionierende Nationalstaaten – zu erhalten und zu stärken.“ (ebd.) Globalisierungsgewinne gebe es nur dort, wo die Globalisierung in staatliche Entwicklungsstrategien und einen aktiven Nationalstaat eingebettet wurde. Im anderen Fall war die Bilanz durchwachsen bis desaströs (S. 85). Unter kritischen Ökonomen sei man sich einig, dass der Versuch, die Finanzmärkte im Rahmen der G20 auf globaler Ebene einheitlich zu regulieren, weitgehend gescheitert ist (S. 89). Daraus folgt für B., dass globale Gerechtigkeit, Entwicklung, Sicherheit und Frieden zumindest auf absehbare Zeit nicht gegen, sondern nur mit dem Nationalstaat erreicht werden können (S. 90f.).

Als Fazit hält B. fest (S. 95f.), dass sich der Wohlfahrtsstaat nur aufrechterhalten lässt, wenn Migration gesteuert und begrenzt wird. Auch auf europäischer Ebene müsse der Nationalstaat nicht als zu überwindendes Hindernis, sondern als Basis einer nachhaltigen europäischen Einigung begriffen werden. Auf globaler Ebene habe sich der Nationalstaat als einziger demokratisch legitimierter und handlungsfähiger Akteur erwiesen. Ein starker Staat sei weder eine Absage an ein handlungsfähiges Europa noch an multinationale Lösungen, sondern deren Voraussetzung. Er zitiert Willy Brandt (S. 97), für den „Patriotismus als zugleich europäische und weltpolitische Aufgabe“ in einer Welt selbstverständlich war, in der „die Nation eine primäre Schicksalsgemeinschaft“ bleibe. Für B. ist daher klar, dass eine linke Mitte nur dann eine Mehrheit erringen kann, wenn sie Gerechtigkeit und Internationalismus mit einem offenen Bekenntnis zu einem starken Staat verknüpft (S. 98). Ihre derzeitige Schwäche hänge damit zusammen, dass sie sich nicht nur von ihrer Stammwählerschaft, sondern auch vom Leitbild eines politisch starken und sozial aktiven Staates entfernt habe (S. 100). Viele klassische Wählergruppen der Sozialdemokraten hätten sich deshalb neuen politischen Kräften zugewandt (S. 103). Eine Kurskorrektur sei erforderlich: in ökonomischen Fragen eine Rückbesinnung auf linke Kernkompetenzen; auf der kulturellen Achse müssten die Herausforderungen der Migration überzeugend beantwortet werden. Als Vorbild dafür, wie so etwas gelingen kann, verweist er auf die Scottish National Party (SNP). Anknüpfend an Tony Judts Appell, den „Staat neu zu denken“, sieht er die Chance in einem weltoffenen „Ja“ zu einem gemeinschaftlichen „Wir“ auf nationalstaatlicher Ebene.

Der Text hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Den Ausführungen zu Europa und den globalen Organisationen kann man weitgehend zustimmen, obwohl er die Vorzüge eines geöffneten Europas nicht erwähnt. Anders ist dies bei den Ausführungen zur Migration. Der Autor baut einen Popanz auf, indem er von unbegrenzter (oder abgemildert: von massiver) Migration spricht, ohne dass er darlegt, wer diese Forderung vertritt. Hinzu kommt: B. fordert einen starken Nationalstaat, um die Migration steuern und begrenzen zu können. Er erwähnt aber nicht, welche Konsequenzen damit noch verbunden sein können.

Herbert Mandelartz

Anmerkungen:

1 Erstveröffentlichung in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1967 (Kohlhammer), S. 75 – 94 (nicht 1976, wie B. meint).

2 Vgl. dazu Grimm in vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 5 – 20.

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