Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 224: Der Osten als Vorreiter? Rechtspopulismus im Gefolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche

Pflicht­lek­türe für Politi­ke­rInnen und solche, die es werden wollen

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 87-91

Ernst Hillebrand (Hg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie? Dietz-Verlag, 2. Aufl., 2017, 191 Seiten, 16.70 €

Das Anwachsen der rechtspopulistischen Bewegungen ist nicht neu. Ihr Aufstieg begann bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert. In den vergangenen Jahren hat diese Entwicklung jedoch eine neue Qualität erreicht. Die Dynamik dieser Entwicklung sowie die soziale Verankerung der rechtspopulistischen Parteien in Europa werden im 1. Teil des Buches beschrieben und bewertet. Der 2. Teil analysiert die Ursachen der Erfolge der Rechtspopulisten. Den 3. Teil schließlich bildet die Frage nach einem vernünftigen gesellschaftlichen und politischen Umgang mit den Wählern rechtspopulistischer Parteien. 

Der 1. Teil gibt einen kurzen und knappen Überblick über die rechtspopulistischen Parteien in Europa, spart allerdings die sogenannte Schwedenpartei und die AfD aus – was verwundert. Die Beiträge schildern das Programm der Parteien, ihre Entwicklung, die Gründe für ihren Aufstieg, den derzeitigen Stand sowie in Einzelfällen die Perspektiven. Zum Teil werden auch die Führungsfiguren beschrieben, etwa Umberto Bossi von der Lega Nord (S. 45) oder Geert Wilders von der Partei für die Freiheit (PVV, S. 55ff.). Dabei ist der Redaktionsschluss des Buches (2017) ein kleines Problem, denn die Entwicklung verläuft manchmal anders als von den Autoren prognostiziert. So hält etwa Michael Braun die Lega Nord und die 5 Sterne Bewegung in Italien für nicht koalitionsfähig (S. 48). Nach der Wahl 2018 bildeten sie jedoch gemeinsam die Regierung.

Im Einzelnen: Die Dänische Volkspartei (S. 15ff.) entwickelte sich aus der Spaltung der Fortschrittspartei in den frühen 1990er Jahren. Als ihre zentrale Aufgabe sieht sie die Bewahrung der nordischen freiheitlichen Demokratie (S. 22). Muslime sind für die Partei das zentrale Problem: sie seien auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentiert, nähmen aber überproportional Sozialleistungen in Anspruch (S. 21). Die Partei hatte die Möglichkeit der Regierungsbeteiligung, lehnte dies aber ab.

Der Front National (FN, S. 24ff.) wurde 1972 gegründet und zog seitdem immer mehr Wähler an. So erhielt die Vorsitzende Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2017 im zweiten Wahlgang 33,9% der Stimmen. Die Partei konnte ihre Position jedoch nicht in politische Macht umsetzen. Die politischen Positionen reichen von der Ablehnung des politischen Systems, dem Kampf gegen Terrorismus sowie der Ablehnung des Islam. Nach der Wahl kündigte Le Pen eine Umbenennung an. 2018 wurde die Partei mit großer Mehrheit in Rassemblement National umbenannt.

Der Beitrag über die UK Independence Party (UKIP) schildert zunächst die Gründe, warum diese Partei in England bei der Europawahl 2014 fast 27% der Stimmen gewinnen konnte (S. 31ff.). Es handelt sich einmal um die Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur, die eine ganze Bevölkerungsschicht an den Rand drängten und zum zweiten um den sich seit Generationen vollziehenden Wertewandel in sozialen und kulturellen Fragen (Einwanderung, Gender, Europa und wachsende ethnische Vielfalt), der verschiedenen Wählergruppen das Gefühl vermittelt, noch einmal abgehängt zu werden. Allerdings stürzte die Partei bei vorgezogenen Unterhauswahl 2017 auf weniger als 2% ab – nach fast 13% bei Wahl 2015. Ob die Partei sich davon erholen oder ob eine neue Bewegung kommen wird, hält der Autor für fraglich (S. 38f.).

Die Entwicklung der Lega Nord wird ausführlich dargestellt, von der Gründung in den 1980er Jahren, über einzelne Regierungsbeteiligungen (S. 42f.) und das Schwanken zwischen offenem Sezessionismus und föderalistischen Lösungen (S. 44) bis zur schweren Krise, die ein Untreue-Skandal um den Vorsitzenden Umberto Bossi 2012 auslöste und die fast das Ende der Partei herbeiführte. Bei der Wahl 2013 überwand die Lega nur knapp die 4%-Hürde für den Einzug in das Parlament (S. 45). Der Nachfolger Salvini fokussierte die Partei auf die „Invasion“ der Ausländer, was ihr 2018 einen großen Wahlerfolg und die Regierungsverantwortung bescherte; Salvani ist seitdem Innenminister.

Die niederländische Partei für die Freiheit (PVV) wurde 2006 gegründet. Ihre Ideologie steht auf vier Säulen: „Islam-Alarmismus, Populismus, Nationalismus, Recht und Ordnung“ (S. 52). Der erbitterte Kampf gegen den Islam geht einher mit einer starken Abneigung der Elite. Die PVV ist ganz auf Geert Wilders ausgerichtet, der das einzige offizielle Mitglied der Partei ist (S. 55ff). In seiner Hand liegen die Vergabe von Parteiposten sowie die Nominierung aller Kandidaturen für Wahlen, aufgrund ihrer personalisierten Struktur unterliegt die PVV auch nicht den üblichen Anforderungen an die Transparenz ihrer Einnahmen, die für andere Parteien in den Niederlanden gelten.

Am 11. Oktober 2008 starb Jörg Haider mit 1,8 Promille im Blut bei einem Verkehrsunfall (S. 60ff). Haider hatte als Vorsitzender der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) seit 1986 die autoritäre Grundstimmung der Bevölkerung aufgegriffen und eine scharfe Ausländer- und Migrationspolitik eingeleitet, verknüpft mit einer Law and Order-Politik und einem Euroskeptizismus. Damit gelangte die FPÖ von 1983-1986 in eine Regierung mit der SPÖ und von 2000 bis 2005 mit der ÖVP. Kritiker der FPÖ hatten gehofft, dass nach dem Tod Haiders auch das Ende des Rechtspopulismus in Österreich gekommen sei. Aber es kam anders. Unter Heinz-Christian Strache, der die Partei seit 2005 führt, erreichte die FPÖ im Jahr 2013 bei der Nationalratswahl 20% der Stimmen, seit Dezember 2017 stellt sie in einer Regierung mit der ÖVP den Vizekanzler.

Die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS, S. 70ff.) ist die Partei für die Ausgestoßenen der Gesellschaft und für die Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung. Die PiS versprach ihnen Schutz vor der egoistischen gierigen Elite (S. 71). Nach der Parlamentswahl 2007 wurde die PiS stärkste Oppositionspartei und schwenkte vom autoritären Sozialpopulismus zunehmend zu einer national-katholischen Ideologie um. Eine weitere Radikalisierung setzte nach dem Flugzeugabsturz in der Nähe von Smolensk am 10. April 2010 ein, bei dem u. a. Präsident Lech Kaczynski ums Leben kam (S. 74f.). Bei der Parlamentswahl 2015 erreichte die PiS die absolute Mehrheit im Sejm und im Senat (S. 76). Die Partei setzte ihre sozialen Versprechungen um und verfolgte eine xenophobe Politik, die von der Mehrheit der Polen befürwortet wird (S. 77). Entgegen ihren Versprechungen übernahm die Regierung die Kontrolle über die Justiz (einschließlich des Verfassungsgerichts) und schaltete die Medien gleich. Dagegen gab es breiten Protest vieler Polen, der Konflikt prägt seitdem das öffentliche Leben im Land (S. 78). Wegen des Redaktionsschlusses geht der Beitrag leider nicht auf das mittlerweile von der EU  eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren ein, an dessen Ende die Aussetzung von Stimmrechten Polens im Rat der EU stehen könnte.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP, S. 79ff.) ist seit Beginn der 2000er Jahre die wählerstärkste Partei in der Schweiz. Ihren Namen erhielt sie 1971, nachdem zwei wichtige Kantonalparteien zu ihr stießen. Zugleich öffnete sie sich zur Mitte hin. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer Zäsur: Die SVP rückte an den rechten Rand, lehnte den Beitritt zum EWR ab (1992), verolgte eine restriktive Migrationspolitik, einen wirtschaftspolitischen Liberalismus und eine gegen die politische Klasse gerichtete Rhetorik. Bei den Nationalratswahlen 2011 erhielt sie 26,6%, vier Jahre später 29,4% der Stimmen. Es ist ihr gelungen, das Unbehagen gegenüber der Zuwanderung, die Angst vor Kriminalität, das Gefühl der Bedrohung schweizerischer Grundwerte und das Misstrauen gegenüber einem umfassenden Wohlfahrtsstaat in Wählerstimmen umzusetzen (S. 82). Treibende Kraft war dabei Christoph Blocher (S. 84). Allerdings könne die Partei nicht ohne Wenn und Aber dem Lager der rechtspopulistischen Parteien zugeschlagen werden, so der Autor (S. 87).

In Tschechien (S. 90ff) war die politische Lage nach dem Fall des Kommunismus geradezu stabil. Doch mit der Zeit wurde die Korruption das zentrale Problem der tschechischen Politik, große Teile der Wählerschaft verloren das Vertrauten in die traditionellen Parteien. Im November 2011 gründete der Unternehmer Andrej Babis die Partei ANO gründete, die sich durch ihren Unternehmerpopulismus auszeichnet. Ziel von Babis Politik ist es nicht, die Fehler seiner Vorgänger zu korrigieren, sondern die Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung so zu kontrollieren, dass sie seinen unternehmerischen Interessen entsprechen (S. 94f). Babis war von 2014 bis 2017 Finanzminister. Der Autor sah ihn als Favoriten für die Parlamentswahlen im Oktober 2017 – und in der Tat wurde er am 13. Dezember 2017 zum Ministerpräsidenten ernannt.

Der Ungarische Bürgerbund (Fidesz, S. 97ff.) entstand in der Zeit des politischen Wandels als radikalliberale alternative Jugendbewegung. Doch bereits 1992 setzte ein Rechtsschwenk ein, der sich nach dem schlechten Abschneiden bei der Parlamentswahl 1994 verschärfte. Im Jahre 1998 trat Fidesz jedoch als führende Kraft in eine rechtsgerichtete Koalitionsregierung ein. Dieses 1. Kabinett Orban offenbarte bereits autoritäre Züge. Die Parlamentswahl 2002 endete mit einer knappen Niederlage. In den folgenden Oppositionsjahren wurde die Partei immer radikaler und populistischer. Seit 1993 steht sie unter der Kontrolle von Viktor Orban, der auch nach den Wahlniederlagen 2002 und 2006 nicht in Frage gestellt wurde. Nach der Wahl 2006 konnte Orban mit einer 2/3 Mehrheit an die Umsetzung seines Programms gehen: der Rechtsstaat wurde systematisch ausgehöhlt, das System der Gewaltenteilung ausgehebelt. 2014 plädierte er in einer Rede für den Aufbau eines „illiberalen Staates“ (S. 101). Mit seiner autoritären Wende und der Transformation des institutionellen Systems wurde Orban zum „Vorbild“ einer illiberalen, populistischen Politik. Wegen des Redaktionsschlusses kann der Autor auch hier leider nicht mehr auf die Reaktionen der EU eingehen (siehe oben).

Im 2. Teil des Buches – bei der politischen Bewertung (S. 107ff.) – kommen die meisten AutorInnen zu dem Ergebnis, dass die populistischen Parteien besonders Erwerbstätige, junge Menschen und Angehörige der Unterschicht anziehen. Der Gegensatz zwischen den Unterschichten, die den Anschluss an die demokratische Entwicklung verlieren, und den Führungsschichten ist der Treibsatz für die Rechten (S. 132f). Gründe hierfür sind die Ängste vor der Globalisierung und der Migration. Die Unterschicht sieht sich als Verlierer der Globalisierung und lehnt die europäische Integration ab (S. 118ff.). Wie sollen die Parteien darauf reagieren? Moralische Empörung reicht nicht (S. 120, 125), die Parteien müssen stattdessen Antworten auf die neuen Herausforderungen finden und eine wirklichkeitsnahe, umfassende Regierungsagenda entwickeln (S. 128). Dabei gehöre die soziale Frage wieder in das Zentrum der öffentlichen Debatte (S. 121). Die Parteien müssen beweisen, dass sie mehr Vertrauen verdienen als die Populisten (S. 129) – was in besonderem Maße von den Personen abhänge, die in den Parteien das Sagen haben (S. 134, 142).

Im 3. Teil („Die Linke und der Rechtspopulismus“) kommt es zu Überschneidungen und Wiederholungen von Gedanken, die bereits im 2. Kapitel thematisiert wurden. Hier geht es um die „Herausforderer der etablierten Parteien“ (S. 151); um unterschiedliche Werte in verschiedenen Bildungsschichten (etwa die Haltungen zu offenen Grenzen, Einwanderung und europäische Integration bei Akademikern und weniger Gebildeten, s.S. 153); um die mangelnde Qualität der Politiker (S. 157f.) und um die fehlende gesellschaftliche Bindekraft der Volksparteien (S. 158). Es helfe nichts, dass man den Wählern rechtspopulistischer Parteien die eigene moralische Überlegenheit entgegenhält (S. 161), denn in Fragen der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes oder der Bildungspolitik beispielsweise werden viel zu sehr die Interessen und Vorurteile der Funktionseliten bedient (S. 167). Eine Folge dieser Entwicklung: Etablierte Politik werde nur noch als lächerliches Gezänk von Berufspolitikern wahrgenommen, denen die realen Probleme der BürgerInnen egal sind (S. 171). Jene fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert, trauen den Politikern nichts mehr zu und werden durch die Art, wie gesprochen wird, nicht mehr erreicht (S. 172f). Das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien ist in erster Linie der politische Ausdruck von Verunsicherung vor einem relativen sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Abstieg (S. 176f). Hinzukomme das Gefühl des politischen Kontrollverlustes gegenüber dem globalisierten Kapitalismus (S. 177) sowie die Angst vor dem Verlust identitätsstiftender Lebensverhältnisse (S. 178). Was tun? Der Herausgeber Hillebrand fordert unter Bezugnahme auf Axel Honneth eine Politik der Anerkennung (S. 180f.). Die Menschen würden sich dann wieder respektiert fühlen. Erst wenn die Politik deutlich macht, dass ihr Verhältnis gegenüber den Menschen von Wertschätzung und Respekt getragen ist, wird sie dem Rechtspopulismus dauerhaft das Wasser abgraben können.

Insgesamt gibt das Buch einen knappen Überblick über die Situation des Rechtspopulismus in zahlreichen europäischen Staaten, wobei die Entwicklung inzwischen über den Redaktionsschluss hinweggegangen ist. Dies ist jedoch kein Makel. Im 2. und 3. Teil zeigen die AutorInnen die Gründe für das Aufkommen und Erstarken des Rechtspopulismus auf und tragen einige Ideen vor, wie dem entgegen getreten werden kann.

Herbert Mandelartz war bis 2006 im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung tätig und war anschließend u.a. Lehrbeauftragter an der Humboldt Universität zu Berlin.

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