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'Die besondere Macht sozialer Netzwerke liegt in ihrer Dynami­sie­rung von Kommu­ni­ka­tion.'

Ein Gespräch zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz

in: vorgänge Nr. 225/226 (1/2/2019), S. 61- 75

'Die besondere Macht sozialer Netzwerke liegt in ihrer Dynamisierung von Kommunikation.'

'Die besondere Macht sozialer Netzwerke liegt in ihrer Dynamisierung von Kommunikation.'

DR. ULF BUERMEYER,   LL.M. (Columbia), ist Richter am Landgericht Berlin und derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Berliner Verfassungsgerichtshof abgeordnet. Daneben ist er ehrenamtlicher Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., die sich nach dem Vorbild der American Civil Liberties Union (ACLU) mit strategischen Klagen für Grund- und Menschenrechte einsetzt. Nach Studium und Referendariat wurde er   2007 in Berlin zum Richter ernannt und war vorwiegend im Strafrecht tätig. Im Zuge einer früheren Abordnung arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle.

PROF. DR. MARTIN EIFERT,   LL.M. (Berkeley), ist seit 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium in Hamburg, Genf und Berkeley folgten Promotion und Habilitation an der Universität Hamburg bei Prof. Dr. Hoffmann-Riem. Eifert war wissenschaftlicher Mitarbeiter Hoffmann-Riems, Referent am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung sowie an der Forschungsstelle Recht und Innovation der Universität Hamburg. Von 2005 bis 2012 hatte er eine Professur für Öffentliches Recht an der Universität Gießen inne.

RW: Was sind Internetplattformen beziehungsweise Intermediäre? Was unterscheidet sie von den in Artikel 5 Grundgesetz geschützten Medien?

ME: Internetplattformen – der Begriff des Intermediärs bringt das gut zum Ausdruck –sind Plattformen, die vermitteln. Es geht zentral um die Vermittlungsleistung zwischen Kommunikatoren und Rezipienten. Dadurch unterscheiden sie sich von den klassischen „Artikel 5-geschützten“ Medien, die ja als Kommunikatoren auftreten, also eigene Inhalte verbreiten. Die Vermittlung zwischen Kommunikatoren und Rezipienten ist die zentrale Grundeigenschaft von Intermediären.

UB: Ich finde richtig, was Herr Eifert gesagt hat. Vielleicht kann man noch ergänzen, dass es bereits eine Zwischenform gibt, die man zwischen denjenigen ansiedeln kann, die im Internet ihre eigenen Inhalte verbreiten – dazu würde ich zum Beispiel klassische Medien rechnen – und denjenigen, die im Internet nur Speicherplatz bereitstellen – das sind die klassischen Hostprovider. Da sind die Plattformen irgendwo in der Mitte anzusiedeln, weil sie auf der einen Seite zwar Inhalte von ihren Nutzerinnen und Nutzern ins Netz stellen, auf der anderen Seite aber diese Inhalte in einer gewissen Weise kuratieren. Denken wir an den „Klassiker“ Facebook: Der stellt zwar nur wenige eigene Inhalte ins Netz, aber er priorisiert natürlich bestimmte Inhalte der Nutzerinnen und Nutzer. Zudem werden die Erscheinungsformen immer bunter, was Internetplattformen angeht.

SL: Inwiefern spielt dabei eine Rolle, dass bei den Intermediären die Anzahl der Produzenten quasi ansteigt und dass wir es nicht mehr mit klassischen Journalisten zu tun haben?

ME: Der zentrale Unterschied scheint mir, dass die Produzenten eine andere Art von Produzenten sind. Während es klassischerweise bei den Produzenten um Journalisten ging, die an ein bestimmtes Berufsethos gebunden waren und bestimmte professionelle Standards verinnerlicht hatten, haben wir es hier mit Laien-Journalismus zu tun, mit einer breiten Menge an Inhalten, die ohne diese innere Bindung an die Gesetzmäßigkeiten des Mediums oder sogar in bewusster Abkehr davon vorgenommen werden. Das ist zunächst ein emanzipatorisches Potenzial. Es verschiebt aber natürlich auch vieles, weil etwa die Inhalte sehr viel stärker subjektiv geprägt, sehr viel stärker emotionalisiert sind und in vielfältiger Weise einen anderen Charakter gewinnen und andere Dynamiken auslösen können als die klassischen medialen Inhalte, die aus Redaktionen hervorgehen.

RW: Wie sind der Austausch oder die Informationen auf den Plattformen derzeit grundrechtlich geschützt? Braucht es einen besonderen grundrechtlichen Schutz der Plattform als Medium? Und wenn ja, welchen?

UB: Wir haben es da mit einem relativ bunten Geflecht von verschiedenen Schutzbereichen zu tun, die sich zum Teil auch überlappen. Zum einen können sich die Nutzerinnen und Nutzer der Internetplattformen in aller Regel auf die Meinungsfreiheit berufen, mitunter können sie aber auch die Pressefreiheit für sich reklamieren – denken wir zum Beispiel an Tweets von Rundfunkanstalten. Natürlich gehört der Bereich der Vermittlung eigener Inhalte auch zum klassischen Schutzbereich der Rundfunkfreiheit. Und dann haben wir es mit den Plattformbetreibern selber zu tun. Ob die sich tatsächlich auf die Meinungsfreiheit berufen können, ist sehr umstritten. In den Vereinigten Staaten gibt es eine vordringende Ansicht, die das vertritt. Für den deutschen Diskurs habe ich das bislang in dieser Deutlichkeit noch nicht gesehen. Ich denke, dass sich die Plattformen eher nicht auf eine eigene Meinungsfreiheit berufen können. Aber für sie ist natürlich die Berufsfreiheit, in diesem Fall der Aspekt der Berufsausübungsfreiheit, relevant, wenn man ihnen staatlicherseits Vorgaben macht, wie sie beispielsweise das Kuratieren von Inhalten auszuüben haben.

ME: Ich stimme grundsätzlich zu. Für die Intermediäre wird schon länger diskutiert, ob sie in den Schutzbereich von Artikel 5 Grundgesetz unter Gesichtspunkten der Ausgestaltung der Medienordnung einzubeziehen sind. Das müsste dann konsequenterweise mit einer Grundrechtsberechtigung verknüpft sein. Diese Einbeziehung wird typischerweise mit Blick darauf, was Herr Buermeyer zurecht als Kuratierungsleistung ansieht, vorgenommen. Hier entscheidet sich dann, ob und inwieweit sie sich neben Artikel 12 Grundgesetz auch auf Artikel 5 berufen können. Ich glaube, letztlich macht es aber keinen großen Unterschied, weil in den Abwägungen, die wir mit Blick auf eine staatliche Regulierung vornehmen müssen, ohnehin auch die Meinungsbildung und Informationsfreiheit Berücksichtigung finden und es dann auf den konkreten Ausgangspunkt nicht zentral ankommt.

RW: Das kann man so sehen. Aber trotzdem noch einmal die Frage: Das, was Sie als Kuratieren bezeichnen, ist ja eine Filter- und Steuerungsfunktion. Wenn man die nicht unter Artikel 5 Grundgesetz einordnet, wo gehört sie dann hin, in welchen Schutzbereich?

ME: Soweit Artikel 5 nicht greift, bleibt Artikel 12 Grundgesetz, wie Herr Buermeyer schon sagte.

RW: Das Kuratieren wäre dann Berufsausübungsfreiheit.

SL: Habe ich Sie beide richtig verstanden, dass Sie sagen, die vorhandenen grundrechtlichen Schutzbereiche reichen aus, um die Intermediäre ausreichend zu schützen in ihrer Tätigkeit. Es braucht also keine neue Ausprägung eines Grundrechts?

UB: Das würde ich genauso unterschreiben. Ich denke, die entstehenden Konflikte zwischen den verschiedenen Grundrechtspositionen lassen sich wunderbar auf der Ebene der Abwägung und der Verhältnismäßigkeit etwaiger Eingriffe abbilden. Dazu braucht es keine Diskussion über weitergehende Schutzbereiche.

RW: Jetzt zu der anderen Seite: Sind die Internetplattformen selber grundrechtsgebunden?

ME: Ganz bestimmt, klassisch seit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[1], mittelbar und zwar konkret über die AGB-Kontrolle. Diese wird ja auch von den Gerichten zunehmend offensiv wahrgenommen. Man kann dann darüber diskutieren, ob man andere Ansätze verfolgen sollte. Beispielsweise könnte man mit der aus dem angloamerikanischen Raum kommenden Public Forum Doctrine fragen, inwieweit man bei für die Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Infrastrukturleistungen, hier: Kommunikationsinfrastrukturleistungen, zu einer unmittelbaren Grundrechtsbindung gelangen möchte. Aber ich halte das für überhaupt nicht notwendig, weil ich glaube, dass wir mit dem Instrument der mittelbaren Grundrechtsbindung über die AGB-Kontrolle dogmatisch eine sehr gute Konstruktion haben, die leistungsfähig und differenziert ist.

SL: Können Sie noch einmal kurz erklären, was Sie mit AGB-Kontrolle meinen?

ME: Die Nutzer haben ja in der Regel einen Nutzungsvertrag mit Facebook usw. Dafür gibt es dann Allgemeine Geschäftsbedingungen – „Standard terms and conditions“ o.ä. Diese formulieren allgemeine Bedingungen der Nutzung und können als solche einer gerichtlichen Nachprüfung unterworfen werden. Hierbei wird überprüft, ob die AGBs angemessen die Grundwertungen der Rechtsordnung berücksichtigen. Bei der Frage, was gelöscht werden darf, muss deshalb auch die Meinungsfreiheit der Nutzer berücksichtigt werden.

RW: Worin besteht die besondere Macht, also das grundrechtliche Gefährdungspotenzial der Plattformen?

UB: Ich würde denken, dass ihre besondere Macht darin liegt, dass sie zu einer neuen Konzentration führen, was die Foren für den Austausch von Meinungen, insbesondere auch für den politischen Diskurs angeht. Als das Internet in Deutschland in den späten 1990er, frühen 2000er Jahren relevant wurde, gab es eine ziemliche Euphorie, was die Zukunft des Diskurses anging. Man dachte, wenn einfach nur jeder bloggen und irgendwas ins Netz stellen kann, dann wird alles gut werden in unseren demokratischen Systemen. Ich weiß nicht, ob das jemals wirklich funktioniert hat. Aber heute stellen wir zumindest fest, dass diese Kultur sich so nicht durchgesetzt hat. Natürlich kann heute weiterhin jeder ins Netz schreiben, was er gerne möchte. Nur ist das für den Diskurs erst dann relevant, wenn es auch tatsächlich gefunden wird. Und dieses Auffinden im Netz ist inzwischen sehr, sehr schwierig geworden, wenn man nicht in sozialen Netzwerken prominent vertreten ist. Ich denke, die relevantesten Dienste dafür sind wahrscheinlich Twitter und Facebook. Das heißt also, wenn man irgendetwas bloggt, dann muss man das auch über Facebook verbreiten, wenn man wirklich eine relevante Zahl von Leserinnen und Lesern finden will. Twitter ist eine zweite Möglichkeit, aber jedenfalls in Deutschland bedient Twitter eher ein spezielles Marktsegment.

Unter Politikern, Journalisten und Aktivisten ist es natürlich sehr verbreitet, aber in der allgemeinen Bevölkerung noch nicht. Das macht Twitter und Facebook im Grunde zu neuen Gatekeepern. Die spielen über ihre Algorithmen eine ganz zentrale Rolle bei der Frage, welche Inhalte im Netz eigentlich gefunden werden und welche Inhalte sich buchstäblich versenden.

ME: Ich stimme völlig zu. Es gibt meines Erachtens drei zentrale Machttreiber: Der erste ist Monopolisierung, der zweite ist Aufmerksamkeitslenkung und der dritte ist die Dynamisierung der Verbreitung. Die Monopolisierung und Aufmerksamkeitslenkung hat Herr Buermeyer gerade schon erläutert. Ich würde gerne noch die starke Dynamisierung hinzufügen, die mit diesen Medien verbunden und in der negativen Form unter dem Begriff „Shitstorm“ bekannt ist. Es kann aufgrund des Teilens und der Vernetzung eine unglaubliche Dynamik in einer Kommunikation ausgelöst werden, die eine ganz spezifische Kampagnenfähigkeit mit sich bringt – etwas, das in den bisherigen Medien in der Form noch nicht zu beobachten war. Das verschafft nicht unmittelbar den Plattformbetreibern eine Macht, ist aber eine Macht, die gewissermaßen mit ihrer Struktur verbunden ist. Dies ist nichts, was die Plattformbetreiber selbst auslösen, aber etwas, wofür die Plattformbetreiber die zentralen „Ermöglicher“ sind.

RW: Sollte diese Art von Macht gesetzlich oder sogar verfassungsrechtlich reguliert werden?

ME: Verfassungsrechtlich sind wir wahrscheinlich beide dagegen. Jedes soziale Problem mit Verfassungsänderungen anzugehen, würde zu einer Entwertung der Verfassung führen, die ja aus guten Gründen abstrakter, allgemeiner, aber dafür auch funktional ausgerichtet ist und deshalb die meisten Dinge auch adressieren kann, ohne dass wir sie gleich ändern müssen. Gesetzlich wäre ich ganz unbedingt dafür, die Verantwortung, die mit diesen Gefährdungspotenzialen verbunden ist, genauer zu fassen. Ich halte etwa das NetzDG grundsätzlich für einen richtigen Ansatz und denke, dass wir auch die Dynamisierung der Kommunikation auf der gesetzgeberischen Ebene angehen sollten. Bisher gibt es noch keine Adressierung dieser sehr spezifischen Gefahren. Verantwortung sollte gesetzlich ausgestaltet werden, weil Macht mit Verantwortung korreliert. Diese Verantwortung sollte in unserem Rechtsstaat – wenn sie dann politisch erst mal erfasst ist – auch rechtlich umgesetzt werden.

UB: Da kann ich Herrn Eifert wiederum weitgehend zustimmen. Ich würde allerdings einen besonderen Schwerpunkt bei der Ausgestaltung auf die Prozeduralisierung legen. Was das materielle Recht angeht – also die Frage, was darf tatsächlich im Netz gesagt werden und was nicht – sind wir in Deutschland schon relativ gut aufgestellt. Ich sehe jedenfalls spontan keinen großen Reformbedarf, und sehe da auch nur ganz geringe gesetzgeberische Spielräume, einfach weil das Äußerungsrecht in Deutschland schon sehr weitgehend verfassungsrechtlich vorgeprägt ist. Das, was wir heute im Strafgesetzbuch finden, ist sehr weitgehend ausgestaltet und in Teilen auch überformt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Daher könnte derGesetzgeber bei der Frage, was gesagt werden darf, höchstens noch in Nuancen eingreifen.

Die wirklich spannende Frage ist deswegen aus meiner Sicht, wie man diese Entscheidungen, die die Plattformen aufgrund ihrer Verantwortung für den Diskurs treffen müssen, organisatorisch und prozedural ausgestaltet. Und da sehe ich auch die zentralen Defizite beim NetzDG, denn das Gesetz geht zentral davon aus, dass bestimmte Inhalte aus dem Netz verschwinden müssen. Es lässt dabei aber zwei wichtige Punkte außer Betracht: Es adressiert zum einen nicht, wie man möglicherweise verhindern kann, dass rechtswidrige Inhalte überhaupt erst ins Netz gestellt werden. Wir haben beim NetzDG so eine Art Hydra-Effekt: Selbst wenn alles effektiv gelöscht wird, dann können die Äußernden ihre Inhalte ja einfach weiter ins Netz stellen. Ganz plastisch formuliert: Was hindert eigentlich den rechtsradikalen Hassprediger aus Sachsen daran, seine fremdenfeindlichen Äußerungen im 5-Minuten-Takt bei Facebook einzustellen? Gar nichts! Selbst wenn diese Inhalte alle relativ bald gelöscht werden, werden sie trotzdem eine gewisse Verbreitung erreichen. Die zentrale Frage ist also: Wie kann man Menschen davon abhalten, überhaupt solche Inhalte ins Netz zu stellen? Und da denke ich, sollte die Antwort unserer Gesellschaft eher das Strafrecht sein als das Löschen von Inhalten – einfach weil das Strafrecht eine spezial-, aber auch eine generalpräventive Wirkung entfalten kann. Und diese Chancen nutzen wir bislang leider überhaupt nicht. Strafverfolgung im Internet ist nach wie vor extrem defizitär! Und das liegt wiederum – nochmal ganz deutlich – nicht an der Rechtslage, sondern das liegt im Wesentlichen daran, dass die Länder hier nicht die entsprechenden Ressourcen einsetzen, um tatsächlich effektiv vorzugehen gegen beispielsweise „Hassprediger“. Der zweite wichtige Aspekt ist: Wie gehen Netzwerke eigentlich mit Beschwerden um?

RW: Ich habe noch eine Nachfrage an Herrn Eifert. Wie wollen Sie denn diese Dynamisierung, die in den sozialen Medien stattfindet, regulieren? Das kann ich mir noch nicht vorstellen.

ME: Das ist nicht einfach. Und deshalb müssen wir darüber überhaupt erst einmal anfangen nachzudenken. Ich stimme Herrn Buermeyer grundsätzlich zu, dass wir im Äußerungsrecht gut aufgestellt sind. Ich denke allerdings, dass wir durchaus darüber nachdenken könnten, ob das nicht etwas stärker medienspezifisch differenziert werden kann und vielleicht im Internet doch an der einen oder anderen Stelle die Balance neu gefasst werden müsste. Aber darum geht es mir im Kern gar nicht. Mir geht es darum, dass man die Technik auch auf das anwenden kann, was die Gefährdung erst hervorgebracht hat. Wenn sich in Foren etwa Diskussionsverläufe entwickeln, die typischerweise zu Rechtsverletzungen führen, dann wäre es durchaus denkbar, dass beim Auftreten eines solchen Musters ein Moderator eingeschaltet werden muss, der dann darauf hinwirkt, dass die Diskussionskultur unterhalb dessen bleibt, was aus Erfahrung in massiven Rechtsverletzungen mündet. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man die abstrakte Beobachtung solcher Kommunikationsverläufe nutzt, um an den Gefahrenpunkten, an denen typischerweise die Rechtsverletzung erfolgt, solche prozeduralen Mechanismen zum Tragen zu bringen. Oder wenn man feststellt, dass in großem Maße automatisch generierte Inhalte für Attacken genutzt werden, die zu Rechtsverletzungen führen, man die automatisch generierten Inhalte nicht zulässt, sondern nur noch personalisierte Inhalte. Ich habe keine fertige Lösung, glaube aber, dass wir zu wenig auf dieses spezifische Dynamisierungsmoment geachtet haben. Herr Buermeyer weist zu Recht auf den Hydra-Effekt hin; es ist aber wahrscheinlich oft erkennbar, dass eine konzertierte, personalisierte Attacke stattfindet, die in einer großen Menge an Hassbotschaften mündet und frühzeitig gebremst werden kann.

RW: Gehen wir jetzt zur Regelungsstruktur des NetzDG. Wir haben mit dem Gesetz die Legaldefinition der Plattformen bekommen. Erfasst das die Realität von Plattformen ausreichend oder muss sie ergänzt werden?

UB: Das halte ich persönlich nicht für das zentrale Problem beim NetzDG. Natürlich sind Nutzerzahlen in Deutschland keine trennscharfe Definition, aber nach allem, was wir bislang sehen, scheint das die Verwaltung relativ pragmatisch zu handhaben, und es gibt auch keine nennenswerten Konflikte um diese Frage. Die Schwelle für das doch sehr anspruchsvolle Regelungsregime des NetzDG bei der hohen Zahl von Nutzern[2] anzusetzen, halte ich persönlich für einen sinnvollen Ansatz. Das Forum eines kleineren Vereins oder eines Berufsverbands ist einfach typischerweise nicht der Ort, wo wirklich gesellschaftlich relevante illegale Inhalte veröffentlicht werden.

RW: Die Legaldefinition fordert für eine Plattform, damit sie unter das Gesetz fällt, eine Gewinnerzielungsabsicht. Haben wir bei Non-profit-Plattformen nicht die gleichen Probleme?

UB: Ich muss gestehen, mir fällt jetzt spontan gar keine für den Meinungsaustausch wirklich relevante Non-profit-Plattform ein. Haben Sie ein Beispiel?

RW: Nein, das fällt mir auch nicht ein. Ich höre nur meinen Bekannten aus dem Chaos Computer Club öfter zu und da geht es immer um die Schaffung eines Gegenmodells zu den derzeit existierenden Plattformen und als erstes wird die Gewinnerzielung gestrichen. Es geht um Plattformen, die kein Geschäftsmodell sind, das Gewinn generiert. Hätten wir die Probleme damit erledigt?

UB: Na ganz ehrlich, wenn wir dieses Haftungsregime, oder sagen wir zunächst mal dieses Inhalte-Bearbeitungs-Regime, das das NetzDG vorsieht, auf nichtkommerzielle Plattformen erstrecken, kommt das de facto einem Verbot nichtkommerzieller Plattformen gleich. Denn solche Systeme, wie sie jetzt eben zum Beispiel Facebook mit dem Dienstleister Arvato ins Werk gesetzt hat, kosten mindestens sechsstellige Beträge, wenn nicht noch mehr. Das ist letztlich eine Einschränkung des Anwendungsbereichs.

ME: Der Gesetzgeber setzt ja auf einer konkreten sozialen Realität auf und will nicht universal gültige Definitionen liefern. Und für die gegenwärtige Kommunikationslandschaft ist das eine hinreichend passgerechte Definition. Wenn jetzt die Kommunikation auf einer nichtkommerziellen Plattform stattfände und dort die gleichen Phänomene, also Rechtsgutsverletzungen o.ä. zu beobachten wären, dann würde ich auch darüber nachdenken, ob man dort vielleicht in irgendeiner anderen Form nachregulieren muss. Das haben wir aber alles nicht. Deshalb glaube ich, sind das eher theoretische Fragen.

SL: Sie meinen in der Größenordnung, in der heute die Intermediäre auftreten, die unter das NetzDG fallen, lässt sich so etwas nur kommerziell betreiben?

ME: Das Problem aller alternativen Netzwerke sind ja die positiven Externalitäten, die Netzwerkeffekte, die immer die großen Anbieter begünstigen. Deshalb streben alle im Internet nach schnellen Monopolen und nach schnellen Reichweiten. Je mehr Leute teilnehmen, mit umso mehr Leuten sind sie dann auch über dieses Netzwerk verbunden. Deshalb haben es Neueinsteiger sehr, sehr schwer, überhaupt in diese Märkte hinein zu kommen. Man weiß aber auch: Solche Monopole haben letztlich begrenzte Haltbarkeiten. Aber gegenwärtig spricht alles dagegen, dass jemand, der nichtkommerziell ohne massivsten Ressourceneinsatz versuchte anzugreifen, Erfolg haben könnte.

UB: Ich würde immer vorschlagen, dass man mit solchen Regelungsregimes erst dann ansetzt, wenn sich tatsächlich irgendein Regelungsbedürfnis zeigt. Im Zweifel ist der Gesetzgeber ohnehin mit der Regulierung von Internetphänomenen ein bisschen überfordert. Und jetzt quasi proaktiv eine Regelung zu erstrecken auf einen Markt, bevor er überhaupt entstanden ist, das würde ich für extrem ungeschickt halten.

RW: Ist der Rechtsgüterschutz durch das NetzDG ausreichend? Vielleicht können Sie für Nichtjuristen erst einmal erläutern, welche Rechtsgüter durch das Gesetz geschützt werden?

UB: Da muss man ketzerisch antworten: Das NetzDG schützt überhaupt keine Rechtsgüter, sondern das NetzDG knüpft an den bereits existierenden Rechtsgüterschutz im Strafgesetzbuch an, greift dann einige Straftatbestände heraus und versucht da tatbestandsmäßig anzuknüpfen. Aber es ist ganz wichtig festzuhalten: Das NetzDG selbst verbietet nichts, was nicht schon vorher verboten war. Es zwingt lediglich die Plattformen dazu, eine Entscheidung zu treffen, ob bestimmte Inhalte nach dem Maßstab dieses sehr speziellen Rechtswidrigkeitsbegriffs zulässig sind oder nicht. Es dient dem Rechtsgüterschutz quasi mittelbar, indem es die Anwendung des Strafrechts effektuieren will, dadurch, dass die Netzwerke selber dieses Strafrecht zugrunde legen sollen. Es dient dabei zentral dem Schutz der persönlichen Ehre. Das scheint mir das wesentliche Anliegen zu sein. Aber es gibt natürlich noch eine ganze Reihe anderer Straftaten, die teilweise sogar etwas unscharfe Rechtsgutsbegriffe haben, wo alsonicht ganz klar ist, was die eigentlich schützen sollen. Denken wir an den Straftatbestand der Volksverhetzung, der eine große Rolle spielte bei der Diskussion um das NetzDG. Was der eigentlich schützt, ist auch in der strafrechtlichen Diskussion gar nicht ganz klar.

ME: Genau so sehe ich es auch. Man könnte sagen: Zu diesem mittelbaren Schutz – mittelbar unterstrichen – gehören die persönliche Ehre (das würde ich weiter fassen, als Persönlichkeitsschutz, sonst hört sich das so antiquiert nach 19. Jahrhundert an); Kinderpornographie-Paragraphen und der Bereich Staat und allgemeine öffentliche Sicherheit – das wären vielleicht ganz grob die Blöcke. Aber in der Tat: das franst aus. Ob der Katalog jetzt sauber gefasst und konsequent durchdacht ist; ob die Rechtsgüter, die jeweils geschützt werden, hinreichend konturiert sind – da kann man sicherlich in Einzelfällen darüber sprechen.

SL: Mir scheint gerade in Bezug auf die von Ihnen angesprochenen Gefährdungen durch die Monopolisierung der Meinungsbildung und die Dynamisierungseffekte, dass der Straftatenkatalog des NetzDGi nicht ganz dazu passt. Da sind Delikte dabei, wo ich nicht sehe, dass es eine große Rolle spielt, die möglichst schnell aus dem Netz entfernt zu bekommen. Sollte der Katalog nicht beschränkt werden auf spezielle Straftaten, wo es eine dynamisierende Wirkung gibt bei den Betroffenen?

UB: Ich sehe da nicht den richtigen Ansatz für die Kritik am NetzDG, denn das hat letztlich auch etwas damit zu tun, ob sich der Rechtsstaat mit seiner eigenen Normierung ernst nimmt. Wenn wir schon bestimmtes Verhalten strafrechtlich sanktionieren, dann wäre es doch schizophren zu sagen, dass die Netze bei der Durchsetzung dieses Strafrechts – das sie ja als Intermediäre ohnehin umsetzen müssen – nur bestimmte Straftatbestände zugrunde legen müssen und andere nicht. Ich finde es eigentlich eher ein Problem, dass das NetzDG einen ganz speziellen Rechtswidrigkeitsbegriff verwendet; eigentlich wäre es viel plausibler, die Netzwerke zu verpflichten, generell zu prüfen, ob ein bestimmter Inhalt gegen Strafrechtsnormen verstößt. Insofern finde ich, wenn überhaupt die Diskussion um diesen Straftatenkatalog kreist, dann würde ich ihn eher abschaffen, anstatt darüber zu diskutieren, welche Tatbestände daraus möglicherweise gestrichen werden könnten. Das hätte auch den großen Vorteil, dass man dann wieder zu dem zurückkommt, was eigentlich als Einheit der Rechtsordnung heilig war: Dass nämlich der Rechtswidrigkeitsbegriff in der Rechtsordnung immer derselbe ist und nicht in bestimmten Rechtsgebieten andere Vorstellungen von Rechtswidrigkeit herrschen als in anderen.

ME: Das NetzDG ist ja nur ein regulatorischer Baustein, ein Ansatz, der gewählt wurde. Da hat der Gesetzgeber eben einen Teilbereich herausgeschnitten. Deshalb kann man jetzt nicht kurzschließen von dem, was wir zum Grundsätzlichen gesagt haben, auf die Regelungsstruktur des NetzDG.

RW: Nun noch zur Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des NetzDG. Es wird als erstes bestritten, dass der Bund eine Regelungskompetenz dazu hatte.

ME: Der Bund hat das Gesetz auf das Recht der Wirtschaft gestützt – und das, glaube ich, auch zurecht. Reguliert werden spezifische Gefahren, die mit einem Wirtschaftszweig verbunden sind. Der regulatorische Ansatz des NetzDG sind Organisationsvorgaben an die Unternehmen, um ein Compliance-System einzurichten, das die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben hinreichend sicherstellt. Insoweit geht es zwar im Ergebnis um kommunikative Inhalte, aber das ist relevant für den Grundrechtsschutz, nicht die Kompetenz.

UB: Kein Widerspruch, das sehe ich genauso, und das ist ja letztlich auch schon der Regelungsansatz des Telemediengesetzes. Sonst wäre der Bund auch nicht für die Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie zuständig gewesen. Da sehe ich überhaupt kein Problem.

RW: Die Gefahr des Overblocking ist einer der großen Einwände gegen das NetzDG.

ME: Ich glaube, dass diese Vorstellung des Overblocking mit der Gesetzesgenese zu tun hat. Ein verbreitetes Missverständnis ist, dass die Bußgeldbewehrung, die ja als das drohende Schwert den maßgeblichen Auslöser für ein mögliches Overblocking bildet, weil die Unternehmen zur Vermeidung der Bußgelder im Zweifel lieber gleich löschen könnten, dass diese Bußgeldbewehrung eben nicht an dem einzelnen Löschvorgang ansetzt, sondern ein systemisches Versagen voraussetzt. Sie betrifft nur den Fall, dass der vorgeschriebene Umgang mit den Beschwerden über rechtswidrige Inhalte systematisch verfehlt wird. Das heißt, dass es zunächst zu einer Kommunikation kommen dürfte darüber, ob jetzt diese Verfahren grundlegend verfehlt sind oder nicht. Deshalb glaube ich nicht, dass die Unternehmen eine große Angst davor haben, aus dem Nichts mit einem hohen Bußgeld überzogen zu werden. Zweitens wird bei der Kritik an der Anreizstruktur zu sehr einseitig  auf das Nicht-Löschen rechtswidriger Inhalte geblickt. Wenn man den § 3 Abs. 1 NetzDG aber genau nimmt, dann sagt er nur: Es muss ein wirksames und transparentes Verfahren für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte vorgehalten werden. Wenn man das verfassungskonform auslegt, heißt das letztlich, dass dieser angemessene Umgang bedeutet, dass die Unternehmen sowohl das Overblocking als auch das Underblocking vermeiden müssen und dass eine systematische Verletzung in beide Richtungen bußgeldbewehrt ist; was bedeutet, dass sich die Bußgeldbewehrung gewissermaßen in einem Gleichgewicht des Schreckens zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen befindet und deshalb kein systematischer Anreiz zum Overblocking ist.

UB: Da, glaube ich, haben wir tatsächlich den ersten Dissens. Ich sehe durchaus – jedenfalls abstrakt – ein großes Problem darin, dass das NetzDG grundsätzlich nur am systemischen Versagen ansetzt. Man könnte sicherlich auch ein System, das systematisch legale Inhalte löschen lässt, als in diesem Sinne defizitär ansehen. Ich würde aber Herrn Eifert nicht zustimmen, wenn er sagt, dass man deswegen die starken Anreize des NetzDG völlig ausgleichen kann. Sicher könnte man das Gesetz verfassungskonform so auslegen, aber es ist gerade bei einer Bußgeldbewehrung schwer, den Anwendungsbereich zu erstrecken auf ein Verhalten, das nach der Norm nicht eindeutig bußgeldbewehrt sein soll. Und wir kommen doch nicht um den Befund herum, dass die vorgesehenen Löschfristen ausschließlich den Fall regeln, dass Inhalte nicht innerhalb dieser Löschfristen gelöscht werden. Und das ist mittelbar ein Problem, wenn Inhalte gelöscht werden, die legal sind. Was Herr Eifert aufzeigt, ist quasi eine Hintertür, um diesen Befund abzuschwächen. Aber diesen Weg würde ich so ohne Weiteres nicht mitgehen.

Andererseits stimmt es natürlich, dass die Anreizwirkung dieses doch sehr mittelbar wirkenden Bußgeldtatbestands ausgesprochen schwach ist. Und in der Praxis – auch das muss man sagen – können wir bislang nicht feststellen, dass es aufgrund des NetzDG zu einem erheblichen Overblocking gekommen ist.[4] Wenn überhaupt, scheinen wir doch momentan Overblocking in dem Sinne zu sehen, dass Netzwerke ganze Accounts sperren – teilweise aufgrund algorithmischer Fehlentscheidungen, teilweise aufgrund menschlicher Missverständnisse. Aber Accountsperren sind überhaupt keine Sanktionen, die das NetzDG vorsieht. Das heißt also, dieses Overblocking, soweit wir es tatsächlich erleben, beruht heute nicht auf dem NetzDG, sondern auf allzu weit gehenden Vorstellungen der Netzwerke selber, also auf ihren eigenen Netzwerkregeln.

ME: Für das Stichwort bin ich sehr dankbar, denn die Transparenzberichte der Netzwerkbetreiber haben ja gezeigt, dass der allergrößte Teil aufgrund von Community Standards gelöscht wurde und dass die Community Standards die entscheidenden Regeln sind, nach denen zulässige Aussagen von den Plattformen gelöscht werden.[5] Deshalb glaube ich, liegt der Kern des Overblockings, wenn man es definiert als eine Differenz zwischen dem, was man nach der allgemeinen Rechtsordnung sagen darf und dem, was auf einer Plattform veröffentlicht wird, eher bei der Kontrolle der Community Standards als im NetzDG.

RW: Deswegen jetzt nochmal zurück zu der Frage, wie sich überhaupt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu den AGBs verhält. Ich finde eigentlich: gar nicht! Und hätte es sich nicht verhalten müssen?

ME: Ich glaube, es muss sich nicht dazu verhalten, weil die AGBs eine Frage des Vertragsrechts sind und es hier im Bereich der Störerhaftung um eine deliktsrechtliche Frage geht. Deshalb sind wir in unterschiedlichen Rechtsbereichen. Das Compliance-System des NetzDG nimmt auf die Störerhaftung Bezug, möchte aber in keiner Weise in die Vertragsnetzwerke eingreifen, dafür sind einfach andere rechtliche Regeln vorgesehen. Und die treten auch nicht in Widerspruch zueinander. Was man sich allerdings fragen kann: Der BGH hat ja mit der Blog-Entscheidung[6] begonnen, prozedurale Komponenten in die Störerhaftung einzubauen. Er hat insoweit  ein Verfahren der jeweiligen Kenntnisgabe an die Kommunikatoren etabliert, bevor man löscht. Es fragt sich, wie diese prozeduralen Komponenten, die der BGH entwickelt hat, sich zu den gesetzlichen Komponenten des NetzDG verhalten. Aber das sind sozusagen Fragen der dogmatischen Feinheiten. Auch da würde ich nicht sagen, es sei furchtbar, dass der Gesetzgeber sich nicht zu den richterrechtlichen Entwicklungen geäußert hat.

Darf ich noch einen Nachtrag zum Overblocking machen; da haben Herr Buermeyer und ich vielleicht auch noch einen kleinen Dissens. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass natürlich die Verfahrenskomponente vor der Löschung, die zum Beispiel auch in der BGH-Blog-Entscheidung angesprochen wird, auch wichtig ist für die Frage, wie hoch die Gefahr eines Overblockings ist. Sinnvollerweise hört man diejenigen an, deren Beiträge gelöscht werden sollen. Hier ist das unmittelbare Wording des NetzDG sehr eng gefasst. Auch da kommen wir dann – parallel zu den Anreizstrukturen beim Bußgeld – zu der Frage, ob man über eine verfassungskonforme Auslegung nicht die Verfahrensbeteiligung weiter fassen muss, sodass sie jetzt schon gegeben ist. Die gegenwärtigen Bestrebungen zur Verbesserung des NetzDG zielen auch genau darauf ab, über eine stärkere Verfahrensbeteiligung die Interessenberücksichtigung gleichmäßig vorzunehmen.

RW: Dann zur letzten Frage der Verfassungswidrigkeit des NetzDG: Führt die private Durchsetzung des NetzDG zur Verfassungswidrigkeit, Herr Eifert?

ME: Ich tue mich sehr schwer mit dem Begriff. Das ist nicht private Rechtsdurchsetzung, sondern das ist rechtliche Pflichterfüllung, weil es ja darum geht, dass die Netzwerkbetreiber ihre eigene rechtliche Pflicht aus der Störerhaftung einhalten. Dieses Compliance-Regime ist zunächst einmal die organisatorische und prozedurale Überformung der eigenen materiellen Pflicht. Was sie erfüllen, ist eine eigene bestehende Rechtspflicht. Das hat nichts zu tun mit einer Durchsetzung von Rechten, die sonst von anderen durchgesetzt werden müssen.

RW: Herr Buermeyer, sehen Sie das auch so?

UB: Ich sage es mal so: Das NetzDG verpflichtet im Grunde die privaten Betreiber nur dazu, die rechtlichen Pflichten zu erfüllen, die sie eigentlich längst hätten erfüllen müssen. Insofern kann ich darin auch nicht das ganz große Problem sehen. Ich denke, das Problem bei der Prozeduralisierung ist tatsächlich eher, dass das NetzDG an dieser Stelle weitgehend Leerstellen enthält. Es gibt zwar Reaktionsfristen, bis wann bestimmte Inhalte gelöscht werden müssen, aber es gibt insbesondere keine Verpflichtung, den Urheber einer möglicherweise problematischen Äußerung überhaupt damit zu konfrontieren. Und es gibt auch keine Verpflichtung, quasi die andere Seite zu hören. Das macht die Sache so problematisch, weil das Netzwerk verpflichtet wird, einerseits schnell zu entscheiden, aber nicht dazu verpflichtet wird, gut zu entscheiden. Ich denke, dass der Gesetzgeber wesentliche Potenziale ungenutzt lässt, darauf hinzuwirken, dass die Entscheidung der Netzwerke sich tatsächlich am geltenden Recht orientiert.

SL: Noch eine Rückfrage des Nichtjuristen: Ist nicht ein Problem in der Anwendung des NetzDG, dass die Zuordnung zu den Rechtsgütern nicht so einfach vorzunehmen ist, dass es etwa Unsicherheiten gibt, was zum Beispiel unter das Verbot der Volksverhetzung fällt und was nicht? In den Transparenzberichten wird ja unterschieden, von woher die Aufforderungen zum Löschen kommen, ob von einzelnen BenutzerInnen oder von Beschwerdestellen. Ich würde denken, die Beschwerdestellen haben eine größere Professionalisierung und eine höhere Erfolgsquote mit ihren Löschanträgen. Das ist aber nicht so. Bei YouTube beispielsweise ist die Löschquote der Nutzermeldungen deutlich höher als die der Beschwerdestellen. Ist das nicht ein Problem der Rechtsdurchsetzung, dass da Private entscheiden sollen, welche Inhalte die Tatbestände verwirklichen und welche nicht?

UB: Ich sehe hier nicht notwendigerweise ein Problem, denn es gäbe ja parallel dazu die Möglichkeit, staatliche Instanzen einzuschalten. Als Betroffener könnte man auch zivilrechtlich eine Unterlassungsverfügung gegen ein soziales Netzwerk erwirken. Man ist ja nicht gezwungen, sich ausschließlich darauf zu verlassen, was ein Netzwerk quasi freiwillig tut. Nur die Rechtswirklichkeit zeigt, dass kaum jemand zum Beispiel versucht, Facebook dazu zu zwingen, bestimmte Inhalte aus dem Netz zu entfernen – jedenfalls gerichtlich nicht, sondern man beschwert sich eben bei Facebook. Aber das ist eine autonome Entscheidung der Betroffenen. Das kann man dem Gesetzgeber nicht vorhalten. Das Einzige, was man dem Gesetzgeber an dieser Stelle vorhalten könnte, ist, dass er kein Verfahren vorgesehen hat, in dem die Netzwerke entscheiden müssen. Insbesondere hat er es versäumt, einen sogenannten put-back-Anspruch zu etablieren, das heißt ein Recht darauf, von einem Netzwerk die Wiedereinstellung eines einmal gelöschten Inhalts zu verlangen. Zwar lässt sich so ein put-back-Anspruch in vielen Situationen auch schon nach allgemeinem Zivilrecht konstruieren – Herr Eifert hat schon das Stichwort AGB-Kontrolle angesprochen. Da gibt es inzwischen erste Gerichtsentscheidungen, die Netzwerke verpflichten, bestimmte Dinge wieder einzustellen. Aber das hätte der Gesetzgeber im Bereich des materiellen Rechts klarstellen müssen, und zwar mit einem minimalinvasiven Eingriff. Ich hätte große Bedenken, ein allgemeines Recht auf Publikation festzulegen, denn das würde doch sehr stark eingreifen in unser geltendes Äußerungsrecht. Aber das Fehlen eines spiegelbildlichen Anspruchs auf Wiedereinstellen eines einmal gelöschten Inhalts, wenn dieser Inhalt in Wirklichkeit nicht rechtswidrig ist – das ist eine Leerstelle im NetzDG.

RW: Gut, also Sie sprechen jetzt von einer Leerstelle. Ich hatte Sie ursprünglich so verstanden, dass Sie durchaus auch eine Verfassungswidrigkeit im NetzDG sehen. Ich versuche jetzt zu begreifen, wo die eigentlich geblieben ist.

UB: Ich glaube nicht, dass ich das NetzDG jemals für materiell verfassungswidrig erklärt habe. Ich halte es nur für ein rechtspolitisch in Teilen ausgesprochen ungeschickten Ansatz. Und da würde ich nochmal auf dieses Schlagwort Hydra verweisen. Ich glaube, dass dieses Löschregime nicht besonders effizient ist. Das zeigen ja auch die ersten Transparenzberichte. Anders herum hätte man durch eine effektive Strafrechtsdurchsetzung eine ganze Menge mehr erreichen können. Diese Chance hat der Gesetzgeber weitgehend verstreichen lassen. Zunächst einmal enthielt das NetzDG keine Regelung, die irgendwie die Strafrechtsdurchsetzung effektiviert hätte. Dann ist im Gesetzgebungsverfahren immerhin noch § 5 Absatz 2 ergänzt worden, also die Verpflichtung binnen 48 Stunden auf berechtigte Anfragen von Strafverfolgungsbehörden zu reagieren. Aber generell zeichnet sich das NetzDG durch eine extreme Geringschätzung der strafrechtlichen Verfolgung illegaler Äußerungen aus. Ich halte das rechtspolitisch für ein großes Problem, weil man niemals alle rechtswidrigen Inhalte wird rechtzeitig löschen können. Und – wie gesagt – bis heute hindert nichts bestimmte Nutzerinnen und Nutzer daran, illegale Inhalte immer wieder erneut einzustellen. Ich glaube, da wird man gesetzgeberisch nachsteuern müssen.

ME: Ich stimme auch mit Herrn Buermeyer darin überein, dass man strafrechtlich durchaus deutlich vorgehen muss. Allerdings wäre das jetzt auch im NetzDG nicht der regelungssystematisch richtige Ort gewesen. Das müssen die Strafverfolgungsbehörden entscheiden und dafür müssen sie hinreichend ausgestattet werden. Das sind alles Probleme, die aber ja auch bekannt sind und die im Justizapparat zu verorten sind.

RW: Wenn man Herrn Buermeyer folgt, dann ist es so: Man hätte sich auf das Strafrecht verlassen können und die Durchsetzungsbedingungen des Strafrechts im Internet einfach stärken müssen. Man braucht das NetzDG dazu im Zweifel nicht. Wir wissen aber, dass es Grundrechtsgefährdung durch die Intermediäre gibt. Das ist dann zwar rechtssystematisch ein anderes Gesetz, aber wie sollte das aussehen?

ME: Ich würde sagen, das sind verschiedene Ansätze, die parallel liegen. Ich sehe nicht, dass es zu einem Kumulationseffekt kommt, der zu einer Grundrechtswidrigkeit führt. Man muss die zivilrechtliche Haftung der Plattformbetreiber selber effektivieren. Und der Punkt von Herrn Buermeyer, wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist ja im Prinzip nur derjenige, dass natürlich davor erst mal der Kommunikator oder die Kommunikatorin steht! Und dass man deshalb nicht nur an verbreiteten Inhalten ansetzen muss, sondern auch darauf zielen muss, dass dieses gedankenlose Rechtsüberschreitungsposting in dieser Form nicht stattfindet. Die Leute müssen aufgrund strafrechtlicher Verfolgung merken, dass auch Posten im Netz eine hohe Relevanz hat und entsprechend die normalen Strafbarkeitsgrenzen gelten.

UB: Zum Thema Strafrecht habe ich ja schon Stichworte geliefert. Da ist natürlich das große Problem, dass das in der Länderkompetenz liegt und die Länder sich bislang – soweit ich das sehe – kollektiv nicht so engagieren, wie das im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege sinnvoll wäre. Wenn wir jetzt auf das NetzDG isoliert schauen, denke ich, dann wäre es sinnvoll, gesetzgeberische Vorgaben zu machen für eine Prozeduralisierung, sodass insbesondere die Äußernden, aber auch die möglicherweise von einer Äußerung Betroffenen wenigstens Gelegenheit bekommen, etwas zu einer Beschwerde zu sagen. Ich denke, für die Äußernden ist das insbesondere dann relevant, wenn es sich zum Beispiel um einen sarkastischen oder ironischen Kommentar handelt und dies möglicherweise von einem Entscheider bei einem Netzwerk nicht ohne weiteres erkannt werden kann. Da sollte es so etwas wie eine Konfrontationspflicht geben. Und zugleich könnte man sich die Frage stellen, ob nicht das NetzDG ganz explizit in dem Sinne verfeinert werden sollte, wie Herr Eifert es im Wege der verfassungskonformen Auslegung schon in das Gesetz hineinlesen wollte; dass also tatsächlich eine Art Optimierungspflicht festgelegt wird, also die Entscheidungen möglichst richtig sein sollen, und nicht nur die Löschfristen für rechtswidrige Inhalte eingehalten werden müssen.

RW: Wir bedanken uns bei Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Das Gespräch führten Rosemarie Will und Sven Lüders.

Anmerkungen:

1 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15.1.1958, Az. 1 BvR 400/51 (BVerfGE 7,198).

2 Nach § 1 Abs. 2 NetzDG gelten dessen Regelungen nur für Firmen, die mindestens 2 Millionen Nutzer*innen im Inland haben.

3 S. Dokumentation auf S. 58 dieser Ausgabe.

4 S. Dokumentation auf S. 60 dieser Ausgabe.

5 Ebd.

6 BGH: Prüfpflichten für Hostprovider – Blogspot. Urteil v. 25.10.2011, Az. VI ZR 93/10.

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