Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 225/226: Meinungsfreiheit in Zeiten der Internetkommunikation

Hinter­grund­in­for­ma­ti­onen zur Klage gegen das Netzwerk­durch­set­zungs­ge­setz

in: vorgänge Nr. 225/226 (1-2/2019), S. 77-80

Seit dem 1. Januar 2018 müssen soziale Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzer*innen nach dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) offensichtlich rechtswidrige Inhalte wie Volksverhetzung, Bedrohung, Beleidigung oder üble Nachrede innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde entfernen. Die Digitalpolitiker und FDP-Bundesvorstandsmitglieder Jimmy Schulz und Manuel Höferlin haben am 12. Juni 2018 eine Feststellungsklage gegen das NetzDG beim Verwaltungsgericht Köln eingereicht. Das Gericht soll feststellen, dass das NetzDG formell und materiell verfassungswidrig ist, weil es die in Art. 5 Abs. 1 GG garantierte Meinungs- und Medienfreiheit verletzt.

Nach Ansicht der Kläger obliegt die Regulierung sozialer Netzwerke und damit auch die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Netzwerken nicht dem Bund, sondern den Ländern. Die Länder seien nicht nur für die traditionellen Medien zuständig, sondern auch für soziale Netzwerke wegen ihrer meinungsbildenden Funktion. Wegen der hohen Bußgeldandrohungen werden Anbieter sozialer Netzwerke Inhalte auch ohne eingehende Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit im Zweifel löschen. „Das birgt die Gefahr eines verfassungswidrigen Overblockings. Algorithmen etwa erkennen keine Satire, löschen sie aber im Zweifel„, so der Prozessbevollmächtigte Prof. Dr. Hubertus Gersdorf. Durch die fehlende Anhörungspflicht werde das Risiko eines unzureichend ermittelten Sachverhalts und damit das Risiko nicht gerechtfertigter Löschungen durch Anbieter sozialer Netzwerk erhöht.

I. Von einer Verfassungsbeschwerde gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) wurde abgesehen, weil dieser (wohl) der Grundsatz der Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde entgegenstünde; der Rechtsstreit ist in tatsächlicher und einfachgesetzlicher Hinsicht aufklärungsbedürftig, sodass eine fachgerichtliche Vorprüfung erforderlich ist. Gleichwohl ist das Klageziel ein Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Köln zum Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht soll im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG das NetzDG für verfassungswidrig erklären.

II. Obgleich die Kläger (bislang) keinen konkreten Löschungsfall vorweisen können, ist ihre Klage zulässig, da es ihnen nicht zuzumuten ist, rechtswidrige, d.h. strafbare Inhalte im Sinne des § 1 Abs. 3 NetzDG zu verbreiten und deren Löschung durch Facebook abzuwarten, um dann hiergegen zivil- oder verwaltungsgerichtlich vorzugehen. Nach der sog. „Damokles-Rechtsprechung“ ist es unzumutbar, das Risiko eines derart sanktionsbewehrten Pflichtenverstoßes einzugehen und den Rechtsstreit über dessen Vorliegen erst im Nachhinein „von der Anklagebank herab“ (Bundesverwaltungsgericht) führen zu müssen. Deshalb ist hier eine vorbeugende Feststellungsklage zulässig.

III. Das NetzDG ist nach (nahezu) einhelliger Literatur formell verfassungswidrig, weil dem Bund hierfür eine Gesetzgebungskompetenz fehlt: Regelungsgegenstand des NetzDG ist die Verhinderung der Verbreitung rechtswidriger Inhalte, die einen der in § 1 Abs. 3 NetzDG genannten Straftatbestände erfüllt. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet keinen eigenständigen Kompetenztitel. Vielmehr ist sie kompetenziell dem Sachgebiet zuzuordnen, zu dem sie in einem notwendigen Sachzusammenhang steht. Die Gewährleistung der Rechtsordnung (im Sinne des § 1 Abs. 3 NetzDG) obliegt kraft Sachzusammenhangs dem Kompetenzträger, dem die Regelung der Tätigkeit sozialer Netzwerke obliegt. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Grundrechten und Kompetenznormen kommt es für die Kompetenzabgrenzung maßgeblich auf die grundrechtliche Einordnung des zu regelnden Sachbereichs an.

Dementsprechend liegt die Gewährleistung der allgemeinen Gesetze in den Medien bei den für die Medien zuständigen Ländern. Im Hinblick auf die vom NetzDG erfassten sozialen Netzwerke gilt nichts anderes, und zwar unabhängig davon, ob man insoweit an die Tätigkeit der Nutzer sozialer Netzwerke oder an die Anbieter solcher Plattformen anknüpft. Die Tätigkeit der Nutzer sozialer Plattformen stellt sich als Ausübung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Kommunikationsgrundrechte dar. Im Sinnzentrum der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG stehen nicht wirtschaftliche Interessen, die eine Bundeskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG begründen könnten, sondern der freiheits- und demokratiefördernde Kommunikationsprozess. Der Schutz dieses Kommunikationsprozesses unterfällt nicht dem Sachgebiet des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, sondern der Länderkompetenz nach Art. 70 Abs. 1 GG. Die Gewährleistung der verfassungsmäßigen Ordnung bei sämtlichen durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Kommunikationsformen steht in einem engen Zusammenhang mit dieser Kompetenz und unterliegt deshalb ebenfalls der Länderkompetenz nach Art. 70 Abs. 1 GG.

Das Gleiche gilt, wenn man in Bezug auf die kompetenzielle Verortung des NetzDG auf die Anbieter sozialer Netzwerke abstellt. Die Tätigkeit sozialer Netzwerke unterfällt wegen ihrer (algorithmengesteuerten) meinungsbildenden Funktion („Filterblasen“, „Echokammer“) dem Schutz der Mediengrundrechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, deren Regulierung einschließlich der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Ländern obliegt. Das würde auch dann gelten, wenn Anbieter sozialer Netzwerke (allein) Träger der Wirtschaftsgrundrechte (Art. 12, 14 GG) wären. Auch (strikt inhaltsneutrale) Plattformbetreiber (Kabelnetzbetreiber etc.) sind kraft Landesrechts an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (§ 52a Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag – RstV) und können unter den Voraussetzungen der Nichtstörerhaftung (§ 52a Abs. 2 Satz 3 RStV) durch die zuständige Aufsichtsbehörde in Anspruch genommen werden. Für Anbieter sozialer Netzwerke, die wegen des Inhaltsbezugs ihrer Tätigkeit den rechtswidrigen Inhalten näherstehen, gilt nichts Anderes. Auch sie unterfallen der Länderkompetenz, selbst wenn man ihre Tätigkeit als eine rein wirtschaftlicher Art qualifizierte.

IV. Nicht zuletzt ist das NetzDG auch materiell verfassungswidrig. Das NetzDG enthält im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf zwar deutliche Verbesserungen. Gleichwohl verstößt das NetzDG in mehrfacher Hinsicht gegen die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG der Nutzer und der Anbieter sozialer Netzwerke:

1. Mit Blick auf die Bußgeldandrohung nach § 4 NetzDG werden Anbieter sozialer Netzwerke Inhalte auch ohne eingehende Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit im Zweifel löschen. Eine Löschung ohne eingehende Rechtmäßigkeitsprüfung ist mit dem besonderen Schutz der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG unvereinbar. Dieser Gefahr eines verfassungswidrigen Overblockings wirkt das NetzDG nicht entgegen. Im Gegenteil: Es begründet diese Gefahr nachgerade:

a) Der Gesetzgeber berücksichtigt zwar durch § 3 Abs. 2 Nr. 3 Halbsatz 2 Buchstabe a Halbsatz 1 NetzDG, dass die Entscheidung der Anbieter sozialer Netzwerke über die Rechtswidrigkeit des Inhalts wegen tatsächlicher Schwierigkeiten innerhalb von 7 Tagen nicht möglich ist. Eine entsprechende Regelung für den Fall, dass die Entscheidung wegen rechtlicher Schwierigkeiten länger als 7 Tage beansprucht, fehlt jedoch. Damit ist die vom Gesetzgeber erkannte Gefahr, dass Inhalte wegen des zu knappen Zeitfensters für eine eingehende Prüfung gelöscht werden, nicht gebannt. Um dieser Gefahr wirksam zu begegnen, hätte es einer Ausnahme von der 7 Tage-Regelung nicht nur bei tatsächlich rechtswidrigen, sondern auch bei rechtlich schwierigen Fällen bedurft.

b) Dieser Fehler des Gesetzgebers setzt sich bezogen auf die Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung fort und wird noch verstärkt. Für die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Inhalts durch eine solche Einrichtung fehlt eine § 3 Abs. 2 Nr. 3 Halbsatz 2 Buchstabe a Halbsatz 1 NetzDG entsprechende Regelung. Die Möglichkeit einer Überschreitung der 7 Tage-Regelung ist nicht einmal – wie für Anbieter sozialer Netzwerke – für den Fall vorgesehen, dass die Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht Schwierigkeiten aufwirft. Erst recht fehlt eine Dispensmöglichkeit für den Fall, dass die Entscheidung rechtlich schwierig ist. Der Gesetzgeber ist daher der von ihm erkannten Gefahr, dass Inhalte wegen des zu knappen Zeitkorridors für eine eingehende Prüfung gelöscht werden, doppelt nicht entgegengetreten.

c) Die Gefahr des Overblockings besteht umso mehr, als Anbieter sozialer Netzwerke nach dem NetzDG keine Möglichkeit haben, eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Inhalts herbeizuführen. Eine solche Möglichkeit der gerichtlichen Vorabentscheidung räumt das NetzDG nur dem Bundesamt für Justiz als Bußgeldbehörde (§ 4 Abs. 4 Satz 1 NetzDG) ein (§ 4 Abs. 5 NetzDG).

d) Schließlich wird die Gefahr des Overblockings dadurch verstärkt, dass Anbieter sozialer Netzwerke nicht verpflichtet sind, den betroffenen Nutzer vor der Entscheidung über die Löschung seines Inhalts anzuhören. Damit weicht der Gesetzgeber von der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Störerhaftung ab. Danach „ist“ dem Urheber einer Äußerung nach einer Beschwerde Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor der Plattformbetreiber die Äußerung löscht. Durch die fehlende Anhörungspflicht wird das Risiko eines unzureichend ermittelten Sachverhalts und damit das Risiko nicht gerechtfertigter Löschungen durch Anbieter sozialer Netzwerke erhöht.

2. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll „nicht schon die fehlerhafte Nichtlöschung eines einzelnen Inhaltes“, sondern nur „ein systemisches Versagen“ eines Anbieters die Grundlage für die Verwirklichung eines Bußgeldtatbestandes nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 NetzDG sein. Dies kommt im Bußgeldtatbestand des § 4 Abs. 1 Nr. 2 NetzDG jedoch nicht zum Ausdruck. Diese Bußgeldvorschrift ist daher wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig.

3. Das NetzDG räumt dem nicht staatsfrei organisierten Bundesamt für Justiz eine Reihe von inhaltsbezogenen Handlungs- und Beurteilungsspielräumen ein, die es ermöglichen, dass sachfremde Erwägungen Einfluss auf die Entscheidung des Bundesamtes für Justiz über die Verhängung von Bußgeldern und deshalb mittelbar auf die Entscheidung der Anbieter sozialer Netzwerke über die Löschung von Inhalten gewinnen können. Das verstößt gegen den Grundsatz der Staatsfreiheit des Kommunikationsprozesses und der Medien (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG).

HUBERTUS GERSDORF Jahrgang 1962, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg, wo er 1988 sein erstes Staatsexamen ablegte. 1991 promovierte er in Hamburg und war anschließend wissenschaftlicher Assistent bei Peter Selmer. Nach seiner Habilitation (1998) wurde ihm die venia legendi für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Recht der Europäischen Gemeinschaften verliehen. Ab 1999 hatte Gersdorf die Gerd-Bucerius-Stiftungsprofessur für Kommunikationsrecht an der Universität Rostock inne, daneben war er zeitweise Dozent in Saarbrücken, an der Hamburg Media School, der Universität Bonn und der Bucerius Law School. 2016 wurde er als Nachfolger von Christoph Degenhart auf den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medien- und Informationsrecht an der Universität Leipzig berufen.

Dateien

nach oben