Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 161-164

„Ein Streiter für Bürgerrechte, ein unbeugsamer Kämpfer, für den politischer Liberalismus und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammen gehörten, hat uns verlassen. Seine klare Haltung gegen Rechts und gegen Antisemitismus, für den Erhalt des Asylrechts, gegen den Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo und seine erfolgreichen Klagen gegen den Großen Lauschangriff (gemeinsam mit Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger), die Vorratsdatenspeicherung und den Staatstrojaner sind uns bleibendes Vorbild für unbeirrbare Zivilcourage im Interesse der Grund- und Freiheitsrechte.“

So lautete die Anzeige in der „Tageszeitung“, unter der sich im März 2020 die Namen von über hundertzwanzig Personen, zumeist ehemalige JungdemokratInnen finden, die heute in vier Parteien, bei der SPD, den Grünen, der Linken und noch in der FDP aktiv sind. Für viele war Burkhard Hirsch zur bürgerrechtlichen Institution geworden, zusammen mit Gerhart R. Baum ein unbequemer Mahner und einer der letzten aufrechten Liberalen für Rechtsstaatlichkeit, Liberalität im Recht und Mahner gegen die Vertreter von „Law and Order“, die immer mehr Zuspruch finden – inzwischen sogar bei FDP und Grünen. Aber auch für einen konsequenten sozialen Liberalismus.

Burkhard Hirsch war nicht immer so. Ich erinnere mich an harte Auseinandersetzungen mit ihm als NRW-Innenminister von 1975 bis 1980. Als Polizeiminister war er gefürchtet und lag im Streit mit uns Jungdemokraten der 1970er und 80er Jahre, deren Landesratspräsident in NRW er immerhin von 1959-64 gewesen ist. Noch 1978 wollte er an der damaligen Praxis der Regelanfrage beim Verfassungsschutz und der Berufsverbote festhalten – bis er sich einer von seinem ehemaligen Jugendverband organisierten Mehrheit auf dem Bundesparteitag in Mainz geschlagen geben musste. Ob es der Verlust des Ministeramtes aufgrund der verlorenen NRW-Wahl 1980 war oder das Dämmern der „Wende“ der rechten FDP-Protagonisten Genscher, Lambsdorff, Scheel und Co. schon am Abend der Bundestagswahl 1980 – von da an zählte Burkhard Hirsch zu den profiliertesten Verteidigern der sozialliberalen Koalition und linksliberaler Politik.

Worin er niemals zurückwich, das war seine tiefe Überzeugung, dass von deutschem Boden niemals mehr Krieg ausgehen und der Faschismus niemals mehr eine Chance haben dürfe. Und er hasste Verlogenheit. Zum 100 Jahre-Jubiläum der Jungdemokraten schrieb er 2019 [1], dass er als „Pimpf“ in Uniform auf der Straße mit einer alten Frau zusammenstieß, die sich ängstlich vor ihm an die Seite drückte und niemand später ihm erklären wollte, was es mit dem großen gelben Stern auf sich hatte, den sie am Mantel trug.
Dann kamen die Amerikaner, dann die russischen Besatzer nach Halle – und die Lehrer, die vor Wochen noch „Heil Hitler“ brüllten, sprachen von der roten Armee als ihren „Freunden“. Noch in der DDR trat er in die LDPD ein und als die Russen ihn „sprechen wollten“ machte er „eine lange Fußwanderung“ durch den Harz und kam in Marburg an, wo er sich als Kreiskassierer der FDP und mit dem Verkauf von Rasierklingen über Wasser hielt.[2] Dort musste er mit Abscheu feststellen, dass die FDP damals von ehemaligen Nazis und Waffen-SS Leuten wie August-Martin Euler[3] und Albert Dederichsweiler geführt wurde und sich schon 1950 für ein Ende der Entnazifizierung einsetzte. Die damals ausgestellten sogenannten Persilscheine[4] waren für ihn die „größte Lügensammlung der deutschen Geschichte“. 

Die Haltung eines Menschen, der aus der Geschichte gelernt hat, zeichnete Hirsch zeitlebens aus. Er teilte sie mit Fritz Bauer, der sich gegen das Vergessen stemmte und dafür kämpfte, aus der Geschichte zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Als er 2006 den Fritz-Bauer Preis der Humanistischen Union entgegen nahm, machte er das in seiner Rede deutlich. Er, der 1950 als Jurastudent im Amerikahaus die Berichte der Nürnberger Prozesse gelesen und sich geschämt hatte, schämte sich wieder 1998 für die Rede Martin Walsers anlässlich des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels; welcher nicht nur die Stirn besaß, von der „Moralkeule Auschwitz“ zu bramarbasieren, „von der er sich befreien“ wolle, sondern für diese Unsäglichkeit auch noch von der Mehrheit der in der Paulskirche Versammelten stürmischen Beifall erntete; unter den Augen von Ignaz Bubis, dem langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden und seiner Frau.

Burkhard Hirsch setzte sich dafür ein, dass die von Rechten angefeindete „Wehrmachtsausstellung“ in Bonn im Haus der Geschichte gezeigt werden solle – zunächst wurden technische Gründe vorgeschoben; dann betont, man habe ja schon eine Ausstellung über russische und deutsche Kriegsgefangene dort gehabt. Für Hirsch ein Grund, dieses Haus nie mehr zu betreten. Er gehörte konsequenterweise als einziger Liberaler zu den Abgeordneten, die 1998 im Deutschen Bundestag gegen den Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo stimmten.

Burkhard Hirsch war auch in NRW, wohin er Mitte der 1950er Jahre übersiedelte, mit Gerhart Baum und anderen Jungdemokraten der Überzeugung, dass die neue Ostpolitik mit der Anerkennung der Oder-Neiße Linie, der Überwindung der Hallstein-Doktrin und Anerkennung der DDR notwendig war, auch wenn er bei den damaligen harten innerparteilichen Machtkämpfen nicht profiliert in Erscheinung trat. Das tat er um so deutlicher in der „Perspektivkommission“ unter Leitung von Gerhart Baum, die ein neues, bürgerrechtliches und ökologisches Profil der sozialliberalen FDP entwickelt hatte, jedoch 1977 gegen den Wirtschaftsflügel eine bittere Niederlage einstecken musste. Für Hirsch war dies ein Schlüsselerlebnis, das schließlich in den von Genscher betriebenen Koalitionsbruch mit der SPD (1982) und das Ende des organisierten sozialen Liberalismus in Deutschland mündete. Diese Wendung trieb ihn bis zuletzt um; er kämpfte weiter, verlor gegen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger den Kampf ums Justizressort und fand schließlich im kongenialen Gerhart Baum den Partner für zahlreiche erfolgreiche Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht.

Als überzeugter Parlamentarier war er 1998 als „Sonderermittler“ eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Bundeskanzleramt tätig, um Licht in die Umstände der Aktenvernichtungsaktion zu bringen, die es nach Kohls Wahlniederlage im Kanzleramt gegeben hatte. Hirsch fand umfangreiche Aktenlücken um den Verkauf der Leuna-Minol[5], bei der es Schmiergeldzahlungen an Helmut Kohl gegeben haben soll; bei Rüstungsgeschäften um den Fuchs-Spürpanzer; einer Panzerfabrik in Kanada und Treuhand-Privatisierungen. Sein trockener Humor prägte die Bezeichnung der Affäre als „Bundeslöschtage“[6]. Gegen den „Großen Lauschangriff“, die Vorratsdatenspeicherung, den NRW-Staatstrojaner und gegen das „Luftsicherheitsgesetz“ klagte er zusammen mit Gerhart Baum erfolgreich. Seine besondere Besorgnis gegenüber schwindender Rechtsstaatlichkeit kam im Engagement gegen das sogenannte „Luftsicherheitsgesetz“ zum Ausdruck, das den Abschuss von Passagiermaschinen bei putativ bevorstehenden Terrorakten legalisieren sollte:

„Wir beginnen, die Maßstäbe zu verlieren. Es war für mich erschreckend, daß Offiziere eines Jagdgeschwaders erklärt haben, sie würden auf Befehl auch ein vollbesetztes entführtes Passagierflugzeug abschießen, Befehl sei Befehl. Man müsse dem System vertrauen und schulde ihm Gehorsam. Würden sie das auch dann sagen, wenn sie die vielleicht hundert, vielleicht zweihundert Männer, Frauen und Kinder nicht mit einem Knopfdruck in ihrem Cockpit, sondern einzeln, einen nach dem anderen, erschießen müssten Was für ein Kontrast zu dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das die Degradierung eines Offiziers der Bundeswehr aufhob, der sich aus Gewissensgründen geweigert hatte, indirekt an dem Irak-Krieg mitzuwirken, für den er keine völkerrechtliche Grundlage erkennen konnte!
Soll man sich darüber aufregen, wenn der Verteidigungsminister erklärt, er würde ungeachtet des Urteils des Bundesverfassungsgerichts notfalls ein Flugzeug eben abschießen lassen, wenn er also erklärt, einen Mord anordnen zu wollen, nämlich die vorsorgliche Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln, – und der Rest des Kabinetts schweigt dazu? Ja, man muss sich darüber empören, auch darüber, daß er hoffen kann, für seine markige Erklärung Beifall zu erhalten. Der Minister sagt, er würde nach einem solchen Befehl zurücktreten. Ist das alles? Er müsste nicht nur entlassen, sondern vor Gericht gestellt werden, solange die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist.“

So Hirsch in seiner Rede anlässlich der Preisverleihung durch die Humanistische Union. Das Bundesverfassungsgericht hob 2006 das Luftsicherheitsgesetz als unvereinbar mit dem Recht auf Leben (Artikel 2 Abs. 2 GG) und der Menschenwürde (Artikel 1 Abs. 1 GG) auf.

Selbst ehemaliger Innenminister, stellte Hirsch die Spirale der Gesetzesverschärfungen grundsätzlich in Frage: „…es ist unverkennbar, daß unter Berufung auf immer neue Feinde des Rechtsstaats, die RAF, die Organisierte Kriminalität, die Drogenmafia, die von Schleusern herbeigeführte Ausländerschwemme, der massenhafte Missbrauch des Asylrechts, die Terroristen, die Islamisten, die Hassprediger, immer neue staatliche Eingriffs- und Kontrollrechte eingeführt worden sind, die unsere Freiheiten und Bürgerrechte wesentlich eingeschränkt haben, insbesondere, wenn sie sich nicht nur gegen den Täter, sondern gegen Personen richten, die sich rechtmäßig verhalten, aber vorsorglich oder vorbeugend Objekt polizeilicher Maßnahmen werden, weil die Polizei argwöhnt, sie könnten in Zukunft eine Straftat begehen wollen. Da fangen wir an, nicht böse Taten, sondern vermutete böse Gedanken zu verfolgen.“

Hirsch beschrieb damit schon 2006 genau die Probleme, die heute etwa „Predictive Policing“ mit sich bringt und für das sich erst kürzlich im Zuge der „Black Lives Matter“ Bewegung US-amerikanische Mathematiker*innen weigerten, weiter Algorithmen zu schreiben. Burkhard Hirsch war Mitglied der Humanistischen Union und blieb in der FDP – aber er hat weit darüber hinaus gewirkt und sich um die Freiheitsrechte, den sozialen Liberalismus und die Demokratie verdient gemacht. Mit Gerhart Baum hat er sich bis ans Ende immer respektvoll gesiezt – obwohl die beiden sich über 60 Jahre kannten und nahe standen. Er wird uns fehlen.

Anmerkungen:

1 Grundrechte verwirklichen – Freiheit erkämpfen. 100 Jahre Jungdemokrat*innen, Academia 2019, S. 73 ff.

2 A.a.O., S. 75.

3 Der Vater jener Maja Stadler-Euler, in den 1970er Jahren Fraktionsvorsitzende der FDP Hamburg, die mit Gisela Will 1983 das legendäre Volkszählungsurteil vor dem Bundesverfassungsgericht erstritt.

4 Allgemein übliche Bezeichnung für bei der Entnazifizierung nicht als Täter eingestufte Personen.

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Leuna-Affäre

6 https://de.wikipedia.org/wiki/Bundeslöschtage

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