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Das Volk, ja das Volk

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 5-13

30 Jahre sind eine lange Zeit. Über das, was damals geschah, haben sich Akteure in Biographien oder Beschreibung der damaligen Ereignisse geäußert, Wissenschaftler und Journalisten haben die Lage beschrieben und analysiert. Der folgende Beitrag hat keine wissenschaftliche Aufarbeitung zum Ziel, sondern will auf einige Ereignisse hinweisen, die für die Entwicklung bedeutsam waren.

1.Die Antwort auf die Frage, wer hat die Mauer geöffnet, wird überwiegend sein: das war doch der Sekretär des ZK für Medienpolitik, der zugleich Erster Bezirkssekretär von Berlin war. Ein gewisser Günter Schabowski, der schlecht vorbereitet davon redete, dass die Bürger der DDR demnächst ausreisen dürften und auf die Frage: Wann ist das? Wann tritt das in Kraft? stotterte: „Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich…“ Das war‘s und einige Stunden später standen die ersten Bürger der DDR an mehreren Grenzübergängen; die meisten an der Bornholmer Straße und gingen hinüber in den Westen – um einige Stunden später zurückzukommen.

Also war es Schabowski? Vielleicht. Denn was wäre gewesen, wenn die Fragen: Wann ist das? Wann tritt das in Kraft? nicht gestellt worden wären. Diese Frage kann keiner beantworten. Vermutlich hätte es die Maueröffnung auch gegeben – später. Wer aber stellte diese Fragen?

War es einer oder waren es zwei, die im Zusammenwirken Schabowski die Aussage entlockten? Es war bereits kurz vor 19.00 Uhr, als der italienische Journalist Ricardo Ehrmann die Frage nach dem Reisegesetz stellte und Schabowski in seinen Unterlagen blätterte und zu lesen begann, zum entscheidenden Satz kam und Peter Brinkmann, ein westdeutscher Journalist, nach eigener Aussage nachfragte. Hat also Ehrmann mit seiner Frage Brinkmann nur die Möglichkeit gegeben, seine Frage zu stellen? Wer hat dann die entscheidende Frage gestellt? Die Zeit ging weiter. Ehrmann bekam das Bundesverdienstkreuz, aber Brinkmann erhielt die Bestätigung von Schabowski: „Kein Zweifel, Brinkmann war es.“ Und er wählte später einen passenden Vergleich: „Es ist wie beim Fußball. Der eine – hier Ricardo Ehrmann – schießt den Ball von der Seite in den Strafraum, und der andere – Peter Brinkmann – schießt dann den Ball ins Tor.“

Der Ball war im Tor. Allerdings war die Grenze noch nicht offen. Aber die Zahl der Menschen an den Übergangsstellen nahm zu. Insbesondere an der Bornholmer Straße wurde der Druck auf die Absperrung immer größer. Die Grenzer schienen ratlos. Klare Weisungen erhielten sie nicht. Das Tor war nur noch mühsam dicht zu halten. Die Lage wurde immer brenzliger. Schließlich ging ein Offizier zu einem jungen Soldaten am Tor und gab ihm das Zeichen, das Tor zu öffnen. Sein Name: Oberstleutnant Harald Jäger. Egon Krenz behauptet allerdings, er habe die Weisung gegeben: Schlagbaum hoch.

Wer öffnete nun wirklich die Mauer? War es vielleicht noch ganz anders. Zunächst bleibt jedoch festzuhalten, dass die Maueröffnung keine einzelne Entscheidung war, sondern das Ergebnis eines Prozesses.

2.Eines Prozesses, der weit vor dem 9. November 1989 begann und auf zwei Ebenen ablief: auf einer supranationalen und auf einer nationalen. Auf der supranationalen Ebene wurde der Prozess von Michail Gorbatschow in Gang gesetzt. Der Nachfolger von Breschnew, Andropow und Tschernenko erkannte sehr schnell, dass der weltweite Kreislauf von Rüstung und Gegenrüstung jede Entspannungspolitik zunichte machte. Zugleich sah er, dass diese Entwicklung seinem Land die Möglichkeit für eine bessere ökonomische Situation raubte. Der niedrige zivile Entwicklungsstand konnte nur geändert werden, wenn das Ausufern der Militärausgaben gestoppt werden konnte. Und Gorbatschow leitete eine neue Politik ein: Glasnost und Perestroika. Indizien für die neue Politik waren die Rehabilitierung von Sacharow 1986 und Bucharin 1987. Die USA wollten diese Entwicklung offenbar nutzen. Am 12. Juni 1987 forderte Reagan bei seiner Rede vor dem Brandenburger Tor Gorbatschow auf, das Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen („Mr. Gorbatschow, open the gate and tear down this wall“).

Doch Gorbatschow setzte ein anderes Zeichen. Am 15. Mai 1988 begann die UdSSR mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, der am 15. Februar 1989 abgeschlossen wurde. Noch im Jahr 1988 (am 7. Dezember) kündigte Gorbatschow vor der UN-Generalversammlung eine umfassende Truppenreduzierung der UdSSR an (u.a. 500.000 Mann und 10.000 Panzer) und dass der Osteuropäische Staatssozialismus von seiner Seite nicht mit Gewalt stabilisiert werden würde (Abschied von der Breschnew-Doktrin). Die neue Politik erlaubte den Staaten des Ostblocks damit neue Spielräume.

3.Vor diesem Hintergrund begannen die Ungarn mit Wissen Gorbatschows am 2.5.1989 mit dem Abbau der Grenzanlagen zu Österreich. Am 27.6.1989 durchtrennen die Außenminister der beiden Staaten den der Grenze vorgelagerten Signalzaun und am 19.8.1989 ließen ungarische Grenzschützer zu, dass Bürger der DDR für einige Stunden einen improvisierten Grenzübergang nutzen konnten. Rund 700 DDR-Bürger nutzten diese Lücke. Am 11.9.1989 öffnete Ungarn die Westgrenze für DDR-Bürger. Damit war der „Eiserne Vorhang“ Geschichte.

Seit Mitte 1989 war die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Ziel von immer mehr Flüchtlingen aus der DDR, die visumfrei in die? SSR einreisen konnten. Ende September befanden sich ca. 4.000 Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände. Die hygienischen Zustände waren katastrophal. Außenminister Genscher verhandelte mit seinen Kollegen aus der UdSSR, der ĈSSR und der DDR über eine Lösung des Problems, und am 30. September konnte Genscher den Flüchtlingen kurz vor 19.00 Uhr mitteilen, dass eine Ausreise möglich sei. Noch am gleichen Abend begann die Ausreise mit Sonderzügen. Doch kurz danach war die Botschaft erneut das Ziel von DDR-Flüchtlingen. Und auch die durften einige Zeit später (am 3. November) ausreisen. Die ĈSSR war jedoch mit dieser Praxis nicht einverstanden und forderte von der DDR, den Ausreisestrom zu stoppen.

Auch in Polen gab es seit 1988 anwachsende Bestrebungen zur Änderung des politischen Systems. Die Führung reagierte allerdings anders als die der DDR. Am 6. Februar 1989 versammelten sich Vertreter der Kommunistischen Partei und der Opposition zu einem sog. Runden Tisch.

4.Von dem, was Gorbatschow vorhatte und was sich in anderen Ostblockländern abspielte, wollte die DDR nichts wissen. Das Mitglied des Politbüros, Kurt Hager, fragte in einem Interview: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Und so blieb die DDR bei ihrer harten Linie. Dies hinderte aber nicht das Entstehen von oppositionellen Kräften. Mitte der 1980er Jahre kam es zu vermehrten Ausreiseersuchen und Ausreisen. 1984 etwa verließen ca. 45.000 Personen die DDR. Am 17. Januar 1988 zeigten Demonstranten am Rande der Feier zum 69. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Bilder/Plakate mit dem Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Die Staatssicherheit schlug brutal zu. Im November 1988 wurde die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ vom Postzeitungsvertrieb ausgeschlossen. Auch hiergegen gab es Proteste. Bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 gab es für die Kandidaten der „Nationalen Front“ 98,85%. Oppositionelle, die sich als Wahlbeobachter in den Wahllokalen postiert hatten, wiesen darauf hin, dass nach ihren Zählungen mehr Nein-Stimmen abgegeben worden waren, als offiziell bekannt gegeben wurden. Doch Politbüromitglied Krenz wies, ohne hierauf einzugehen, auf das eindrucksvolle Votum für die Kandidaten der Einheitsliste hin. Der nächste Schritt, mit dem die SED die Oppositionellen gegen sich aufbrachte, und ihre Zahl vergrößerte, war die Stellungnahme zu dem Einschreiten der chinesischen Machthaber gegenüber den Protestierenden auf dem Platz des himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989. Die DDR bekannte ihre Unterstützung für die Niederschlagung der konterrevolutionären Bewegung.

Ab dem 4.9.1989 versammelten sich in Leipzig in der Nikolaikirche um 17.00 Uhr Protestierende zu Friedensgebeten, die anschließend in den sog. Montagsdemonstrationen mündeten.

Die Führung der DDR hatte ab Mitte des Jahres 1989 offensichtlich nur noch ein Ziel: Die Feier des 40. Jahrestags der Staatsgründung musste ein großer Erfolg werden. Doch das Gegenteil war der Fall. Am Vorabend gab es zwar einen Aufmarsch der FDJ, doch am Abend des 7. Oktober kam es zu größeren Demonstrationen. Gegen die Demonstranten, die „Gorbi, Gorbi“ riefen, gingen Polizei und Stasi mit brutaler Gewalt vor. Gorbatschow hatte während seines Besuches in Berlin darauf hingewiesen, dass das Leben den bestraft, der zu spät kommt. Aber dieser Hinweis kam wohl auch zu spät. Nach dem Feiertag zur Staatsgründung kann es auch in anderen Städten zu sog. Montagsdemonstrationen. Diese nahmen insbesondere in Leipzig ein immer größeres Ausmaß an. Am 9. Oktober demonstrierten 70.000, am 16. Oktober ungefähr 150.000. Die DDR-Führung stand unter gewaltigem Druck. Sie reagierte zunächst mit der Ablösung von Erich Honecker durch Egon Krenz. Am 17.10. war Honecker vom Politbüro klargemacht worden, dass es mit ihm nicht weitergehen könne. Am folgenden Tag erklärte er seinen Rücktritt aus Gesundheitsgründen. Aber dies war keine Lösung. Es musste eine Reiseregelung geschaffen werden, um den illegalen Ausreisen und den Demonstrationen die Grundlage zu entziehen. Am 29. Oktober trafen sich der 1. Bezirkssekretär von Berlin Schabowski und der Regierende Bürgermeister Momper im Rosensalon des Palasthotels in Ost-Berlin. Schabowski gab sich als der starke Mann aus und erklärte, er sei gewillt, einen Reformkurs durchzuführen. Dazu gehöre ein Reisegesetz, das den Namen wirklich verdiene. Dieses könne vermutlich schon am 1. Dezember in Kraft treten. Konkreter wurde er aber nicht. Momper, der bei einem solchen Gesetz mit 300.000 bis 500.000 Besuchern pro Tag rechnete, ging zu den praktischen Fragen über; etwa die Anzahl der Grenzübergänge. Aber auch zu dieser und weiteren Fragen gab es noch keine konkreten Ergebnisse. Auf der Rückfahrt besprach Momper im abhörsicheren PKW mit dem Chef der Senatskanzlei, Dieter Schröder und dem Senatssprecher, Werner Kolhoff die Fragen, die sich für die Verwaltung, die Polizei, die Verkehrsbetriebe und die Versorgungseinrichtungen stellen würden. Am 31. Oktober wurde in West-Berlin eine Projektgruppe „Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR“ eingesetzt. Diese Projektgruppe sollte mit der Berliner Verwaltung Maßnahmen erarbeiten, um auf einen gewaltigen Ansturm von Besuchern vorbereitet zu sein. Währenddessen wurde der Druck auf die DDR-Regierung noch verschärft durch die Demonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz in Berlin. Mehr als 500.000 Menschen demonstrierten dort für eine Veränderung der politischen Situation. Am gleichen Tag gingen in Magdeburg 40.000, in Suhl 20.000 und in Arnstadt 5.000 Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Auch in Potsdam, Rostock, Plauen, Schwerin und Dresden demonstrierten Zehntausende.

Am 6. November wurde in der Tagespresse der DDR der Entwurf für ein neues Reisegesetz veröffentlicht. Er stieß einhellig auf Ablehnung. Jede Reise musste beantragt, jeder Antrag konnte abgelehnt werden und die Bearbeitungszeit dauerte drei Wochen. Jeder Bürger durfte nur 30 Tage im Jahr verreisen. Das wollten die Bürger nicht. Am Abend kam es zur bis dahin größten Demonstrationswelle in der Republik. In über 70 Städten gingen Hunderttausende auf die Straße. Am 8. November trat das Politbüro geschlossen zurück. An diesem Tag beriet die Projektgruppe in West-Berlin erste Zwischenergebnisse. Behandelt wurden u.a. die Themen Begrüßungsgeld, Rettungsdienste und die Taktung der BVG-Fahrzeuge wie beim Smogalarm. Am 9. November appellierten Künstler und führende Oppositionelle der DDR an die Bevölkerung. Sie baten, die DDR nicht zu verlassen. Unterschrieben war die Erklärung u.a. von Christa Wolf, Kurt Masur, Bärbel Bohley und Stefan Heym. Währenddessen erarbeiteten je zwei Offiziere des MdI bzw. des MfS den Entwurf für das neue Reisegesetz. Der Auftrag bestand darin, das sog. ĈSSR -Problem zu lösen. Im Ergebnis sollte die ständige Ausreise nicht mehr über die ĈSSR erfolgen, sondern unmittelbar aus der DDR. Im Verlaufe ihrer Diskussion kamen die vier Offiziere jedoch zu der Erkenntnis, dass es nicht sinnvoll sein könne, die ständige Ausreise zu erleichtern, die Reise zum 90. Geburtstag der Großmutter aber nicht. Sie fügten deshalb eine Passage ein, die sich auf alle Reisen bezog. (Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: waren sie also diejenigen, die die Mauer öffneten?). Dieser Entwurf wurde Krenz zugeleitet, der die parallel laufende Sitzung des ZKs leitete. In der Raucherpause um 12.00 Uhr informierte Krenz in einem Nebenraum die anwesenden Mitglieder des Politbüros. Diese stimmten dem Entwurf im Kern zu. Dass eine Regelung für sämtliche Reisen und nicht nur für ständige Ausreisen geschaffen wurde, fiel keinem auf. (Krenz behauptete später, die umfassende Regelung sei von Anfang an von ihm gewollt gewesen. Die vier Obristen widersprachen dem.) Im Umlaufverfahren wurde sodann die Zustimmung des Ministerrats eingeholt. Um 15.30 Uhr informierte Krenz das ZK. Es gab einige Nachfragen. Dann stimmte das ZK zu. Auch hier fiel niemandem auf, dass die Regelung erweitert worden war.

Um 18.00 Uhr begann die schon angesprochene Pressekonferenz. Schabowski hatte von den gesamten Vorgängen um die Reisereglung nichts mitbekommen. Krenz hatte ihm ein Exemplar der Ministerratsvorlage in die Hand gedrückt, als Schabowski sich zur Pressekonferenz abmeldete. Einen ersten Blick warf er auf das Papier, als er sich im Presseraum befand und das Fernsehen bereits übertrug. Die Pressekonferenz verlief langweilig bis um 18:53 Uhr der italienische Journalist Ricardo Ehrmann nach dem Stand des Reisegesetzes fragte. Was dann folgte ist bekannt. Die Pressekonferenz war um 19:00 beendet.

Anschließend fuhr Schabowski in seine Wohnung nach Wandlitz. Die Stellung in Berlin hielt sein Stellvertreter, der 2. Bezirkssekretär Helmut Müller. Als die Informationen, die ihm vom Grenzübergang Bornholmer Straße übermittelt wurden, immer dringlicher wurden, informierte er Schabowski. Der sagte ihm, er werde in einer halben Stunde bei ihm sein. Er benötige einen Fahrer, einen Wartburg und ein Megaphon. Schabowski wollte zum Grenzübergang und die dort Wartenden bitten, nach Hause zu gehen. Müller tat wie aufgetragen. Schabowski kam, ließ sich zum Grenzübergang fahren und war kurze Zeit später wieder bei Müller. Sein Kommentar: „Keine Chance. Aussichtslos.“ Und fuhr nach Wandlitz zurück.[1]

5.Am nächsten Tag bildeten sich lange Schlangen an den Grenzübergängen. Die Grenzpolizisten stellten angesichts des Ansturms vielfach die Kontrolle ein. Die Grenze war jetzt faktisch offen. Am Abend fand in West-Berlin eine Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg statt. Bundeskanzler Kohl hatte für die Teilnahme seinen Staatsbesuch in Polen unterbrochen. Er wurde von den 20.000 bis 40.000 Menschen ausgepfiffen, während der Regierende Bürgermeister Momper Ovationen erhielt. Im Osten ging die 10. Tagung des SED-ZKs zu Ende. Das ZK hatte einen neuen Namen beschlossen: SED-PDS. Außerdem waren Parteiordnungsverfahren gegen 15 Personen (13 Männer, zwei Frauen), die Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros waren, eingeleitet worden. Im Lustgarten fand eine Großkundgebung mit 80.000 (oder 150.000) Teilnehmern statt, auf der von der SED-Basis ein außerordentlicher Parteitag gefordert wurde.

Die Demonstrationen gingen weiter: am 11. November kam es in über 20 Städten zu Kundgebungen, u.a. in Plauen (20.000) und in Annaberg (10.000); am folgenden Tag in über 50 Städten, u.a. in Dresden (100.000), in Karl-Marx-Stadt (50.000) und in Wismar (20.000). Durch Leipzig zogen fast 200.000 Menschen. Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Robert Havemann und Ernst Bloch wurden rehabilitiert. Am 14. November demonstrierten Bürgerinnen und Bürger in 30 vor allem kleineren Städten; auch am folgenden Tag wurde in 30 Städten demonstriert. Am 20. November traf sich Kanzleramtsminister Seiters mit Hans Modrow. Am Abend gab die Band „Crosby, Stills & Nash“ ein Konzert vor dem Brandenburger Tor in Ost-Berlin. Am 28. November stellte Bundeskanzler Kohl sein 10-Punkte-Programm vor.

Am 1. Dezember wurde durch die Volkskammer der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. Zwei Tage später traten das Politbüro und das Zentralkomitee zurück. Am 7. Dezember einigte sich der Runde Tisch auf den 6. Mai als Tag für die ersten freien Parlamentswahlen in der DDR. Am nächsten Tag  begann in Berlin ein Sonderparteitag der SED. Gregor Gysi wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt. Am 18. Dezember befürwortete der Runde Tisch eine Vertragsgemeinschaft mit der BRD. In Leipzig demonstrierten 100.000 und in Karl-Marx-Stadt 30.000 Menschen zum Abschluss der 89er Demonstrationen; in Dresden 50.000 für die Wiedervereinigung.

Am 19./20. Dezember trafen sich Kohl und Modrow in Dresden. Anschließend äußerte sich Kohl „sehr zufrieden.“ Am 21. Dezember trafen sich Modrow und der französische Staatspräsident Mitterand zu einem Arbeitsfrühstück im Palasthotel in Ost-Berlin. Am folgenden Tag wurde das Brandenburger Tor geöffnet. Dies wurde von 100.000 Menschen auf beiden Seiten des Tores begrüßt. Vor seinem Rückflug nach Paris äußerte Mitterand, Frankreich habe nichts gegen die Einheit. Über Weihnachten kamen 380.000 Westdeutsche und 720.000 West-Berliner in den Osten. 2 Mio. DDR-Bürger besuchten Freunde und Bekannte im Westen. In Schwerin demonstrierten am 2. Weihnachtstag 1.500 Einwohner für eine souveräne DDR.

Die Vorsitzenden von Staatsrat, Ministerrat und Volkskammer erklärten in einer gemeinsamen Neujahrsbotschaft u.a.: „Eine Währungsunion ist nicht vorgesehen.“ Am Brandenburger Tor feierten 100.000 Menschen auf beiden Seiten der Mauer abends den Jahreswechsel. Am 3. Januar folgten 250.000 Menschen dem Aufruf der SED-PDS zum Protest gegen die Schändung des sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow.

Die Situation spitzte sich jedoch weiter zu. Es kam immer wieder zu Demonstrationen aus unterschiedlichen Gründen. Vertreter von 16 Parteien, politischen Gruppierungen und Organisationen trafen sich in Ost-Berlin zum 5. Runden Tisch. Sie forderten von der Regierung, innerhalb von wenigen Tagen die Arbeitsplanung für das 1. Halbjahr 1990 vorzulegen. Am 6. Januar hatte die SED (PDS) noch 1,4 Mio. Mitglieder. Ein Jahr zuvor waren es noch 2,3 Mio. Der FDGB teilte mit, dass er rund 800.000 Mitglieder verloren habe. Am 8. Januar nahmen nach dreiwöchiger Pause 100.000 Menschen in Leipzig die Montagsdemonstrationen wieder auf. In Karl-Marx-Stadt sprachen sich 50.000 Menschen für freie Gewerkschaften, Mitbestimmung in den Betrieben und das Streikrecht aus. Auf der Gedenkveranstaltung für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 14. Januar demonstrierten 10.000 gegen die Vereinigung. Auf dem Alexanderplatz verkündetet die SPD jedoch: „Ziel unserer Politik ist ein geeintes Deutschland.“ Am 15. Januar wurde die Zentrale des MfS in Berlin gestürmt. Am 18. Januar kam es in Erfurt (40.000), Gera (30.000) und Rostock (15.000) zu Demonstrationen, bei denen die Entmachtung der SED und die baldige deutsche Einheit gefordert wurden. Am 25. Januar zog die CDU ihre Mitglieder aus der Regierung zurück. Am 28. Januar wurde der ursprünglich auf den 6. Mai festgelegte Wahltermin auf den 18. März vorgezogen. Am folgenden Tag demonstrierten in Karl-Marx-Stadt (85.000), in Dresden (50.000) und in Halle (20.000) für die soziale Marktwirtschaft und die deutsche Vereinigung. Einen Tag später wurde Honecker aus dem Krankenhaus entlassen und in U-Haft genommen. Die Regierung berichtete gegenüber der Volkskammer, dass die ökonomische Lage sich besorgniserregend verschlechtere. In verschiedenen Städten (u.a. Karl-Marx-Stadt, 85.000; Dresden, 50.000; Halle, 20.000) demonstrierten Zehntausende für eine soziale Marktwirtschaft und die deutsche Vereinigung. Anlässlich des Besuchs von Ministerpräsident Modrow in Moskau am 30. Januar erklärte Staats- und Parteichef Gorbatschow, die Vereinigung der Deutschen werde von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen. Im Ergebnis der Gespräche gab die SED-PDS Spitze ihr bisheriges Festhalten an der Eigenständigkeit der DDR auf.

Am 1. Februar legte Modrow ein eigenes Konzept für den Weg zur Einheit vor. Die Bundesregierung erklärte jedoch, sie werde erst nach den Wahlen am 18. März mit der frei gewählten Regierung verhandeln. Ab dem 4. Februar nannte sich die SED-PDS nur noch PDS. Die Partei hatte noch 700.000 Mitglieder. Am 5. Februar stimmte die Volkskammer der „Regierung der nationalen Verantwortung“ zu, in der acht Vertreter vom Runden Tisch Ministerposten ohne Geschäftsbereich erhielten. Ebenso stimmte sie dem vorgezogenen Wahltermin (18.3.) zu. In Leipzig demonstrierten 100.000 Menschen für die deutsche Einheit, in Karl-Marx-Stadt 50.000 und in Dresden 40.000. Am 7. Februar billigte die Bundesregierung den Plan zu einer Wirtschafts- und Währungsunion. Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl stellte seine Bedenken aus politischen Gründen zurück. Am 9. Februar sprach sich die stellvertretende Ministerpräsidentin Christa Luft für einen Stufenplan zur Währungsunion aus. Die CDU (BRD) kündigte eine massive Unterstützung für die Allianz für Deutschland (CDU/DSU/DA) an. Eine Wählerumfrage ergab, dass 51% der Wählerinnen und Wähler sich bereits entschieden hatten. 38% wollten die SPD wählen. Am 11. Februar kehrte Kohl von Gesprächen mit der sowjetischen Führung aus Moskau zurück und erklärte: „Wir haben grünes Licht“.

Am 13. Februar flog Modrow mit seinem gesamten Kabinett nach Bonn. Dort wurde die Bildung einer gemeinsamen Expertenkommission zur Vorbereitung einer Währungsunion vereinbart. Seit Jahresbeginn waren am 17. Februar schon rund 90.000 Bürgerinnen und Bürger der DDR in den Westen gegangen. Am 19. Februar sprach der Runde Tisch sich gegen einen Anschluss nach Art. 23 Grundgesetz aus. Ministerpräsident Modrow zog eine insgesamt positive Bilanz seines Besuchs in Bonn. Es seien „Weichen der Vernunft“ gestellt worden. In Leipzig wurde von 50.000 Demonstranten die Einheit gefordert. Am 21. Februar forderte Gorbatschow – vom Tempo auf dem Weg zur Einheit überrascht – die baldige Aufnahme der 2+4 Gespräche. Am 22. Februar wurden Schätzungen über die Reparationsleistungen der DDR einerseits und der BRD andererseits veröffentlicht: Die BRD hatte bis 1953  rund zwei Milliarden Mark an Reparationsleistungen gezahlt.[2] Die Reparationsleistungen der DDR an die UdSSR lagen zwischen 65 und 100 Milliarden Mark. Am gleichen Tag begann der erste landesweite Parteitag der DDR-SPD. Dabei wurde deutlich, dass die SPD für die Einheit den Weg gemäß Art. 146 GG bevorzugte. Am 24. Februar wählten die Sozialdemokraten Ibrahim Böhme zum Parteivorsitzenden. Am folgenden Tag demonstrierten im Ostberliner Lustgarten mehr als 50.000 Menschen für eine souveräne DDR. Bei einer Wahlkundgebung der SPD in Leipzig mit Willy Brandt versammelten sich über 50.000 Menschen. Am 1. März wurde eine Treuhandgesellschaft gegründet, die dem DDR-Ministerrat unterstand. Auf einer Wahlkundgebung der Allianz für Deutschland unter dem Motto „Freiheit und Wohlstand – nie wieder Sozialismus“ sprach Bundeskanzler Kohl vor 200.000 Menschen in Karl-Marx-Stadt. Zwei Tage später sprach Willy Brandt vor 70.000 Teilnehmern in Erfurt. Am 6. März traf eine DDR-Regierungsdelegation in Moskau mit der sowjetischen Staatsführung zusammen, um sich über den weiteren Vereinigungsprozess abzustimmen. Ein schneller Anschluss nach Art. 23 GG wurde abgelehnt. In Magdeburg sprach Bundeskanzler Kohl vor über 50.000 Menschen. In Ostberlin begannen am 9. März die deutsch-deutschen Gespräche zur Vorbereitung einer Konferenz mit den vier Siegermächten. CDU und FDP vertraten die Auffassung, dass Art. 23 GG der richtige Weg zur Einheit sei. Eine Lösung über Art. 146 GG sei nicht annehmbar. An der letzten Montagsdemonstration in Leipzig nahmen 50.000 Bürgerinnen und Bürger teil. Am 16. März endete offiziell der Wahlkampf in der DDR. Genscher sprach in Leipzig vor 20.000 Menschen, Willy Brandt in Wismar vor 30.000. Über parteinahe westdeutsche Stiftungen waren 7,5 Mio. DM in den Osten geflossen. Davon 4,5 Mio. an die CDU.

Bei der Wahl am 18. März 1990 erreichte die CDU fast 41% der Stimmen, die SPD nur 21,8%, die PDS 16,3%. Damit war der erste Teil der friedlichen Revolution abgeschlossen. Die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen, die nicht vollständig sind, zeigen, dass in der Zeitspanne vor der Maueröffnung bis zur Wahl am 18.3.1990 die Bürgerinnen und Bürger der DDR „gewaltig“ engagiert waren. Zunächst zur Änderung der Verhältnisse, dann in der Frage: Vereinigung oder Eigenständigkeit der DDR. Insofern war es das Volk war, das diese Revolution durchzog. In der Folgezeit bis zum 3. Oktober 1990 wurde die DDR von der BRD übernommen.

Dr. Herbert Mandelartz Jahrgang 1948, war nach Studium und Promotion u.a. im Ministerium des Innern des Saarlandes (1985 bis 1999, von 1996 bis 1999 als Staatssekretär), bei einer Beratungsgesellschaft und von 2001 bis 2006 im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zunächst als Abteilungsleiter und ab 2002 als Stellvertretender Chef tätig. Danach war er u.a. Lehrbeauftragter an der Humboldt Universität zu Berlin..

Quellen:

Bahrmann, Hannes/Links, Christoph: Chronik der Wende, Berlin 1999

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Reisefreiheit (erzählt aus den Erinnerungen von Peter Brinkmann), Berlin 2018

Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls, 5. Auflage, Berlin, 1997

Krenz, Egon: Herbst 89, Berlin 2014

Mittag, Günther: Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 2015

Modrow, Hans: Ich wollte ein neues Deutschland, Berlin 1998

Momper, Walter: Grenzfall, München 1991

Momper, Walter: Berlin, nun freue dich, Berlin 2014

Schabowski, Günter: Das Politbüro, Berlin 1990

Schabowski, Günter: Der Absturz, Berlin 1991

Schalk-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte, Berlin 2012

Stephan, Gerd-Rüdiger/Nakath, Detlef (Hrsg.): Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht. Die Verfahren 1989/1990 in Protokollen und Dokumenten, Berlin 2020

Anmerkungen:

[1] Persönliche Information von Helmut Müller (HM).

[2] Im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 hatten die Westmächte und weitere 30 Staaten (ohne Ostblock) die Reparationsleistungen bis zu einem Friedensvertrag zurückgestellt.

 

DR. HERBERT MANDELARTZ   Jahrgang 1948, war nach Studium und Promotion u.a. im Ministerium des Innern des Saarlandes (1985 bis 1999, von 1996 bis 1999 als Staatssekretär), bei einer Beratungsgesellschaft und von 2001 bis 2006 im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zunächst als Abteilungsleiter und ab 2002 als Stellvertretender Chef tätig. Danach war er u.a. Lehrbeauftragter an der Humboldt Universität zu Berlin..

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