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Über Literatur aus dem Osten, die Kartof­fel­kan­tante und Kafka*

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 75-87

Fels mit Feinsinn
Es gibt intelligenteste Formen der Rache. Da kommt einer, Ende der siebziger Jahre, ins Mahlwerk eines Parteiverfahrens an der Berliner-Humboldt-Universität und in den Ruch des „Konterrevolutionären“, weil er den Dichter Heiner Müller preist – und Jahrzehnte später ist just er der forschende, findende, fundierte, kurz: brillanter Herausgeber der Heiner-Müller-Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag: Germanist Frank Hörnigk (1944-2016).
Er schrieb ein Buch über den legendär proletarischen Schauspieler Erwin Geschonneck. „Eine deutsche Biografie“. Ein Buch über die schöne schwere Arbeit, mittels Kunst eine Hoffnung zu schüren: Die profitablen Pläne zur Steigerung des sozialen, gesellschaftlichen Unglücks auf der Welt könnten durch eine neue Gesellschaftsidee erfolgreich behindert werden. Kunst als „Provokation der wirklichen Verhältnisse“ – so schrieb er in einem Text, gemeinsam mit seiner Frau Therese Hörnigk, ebenfalls Germanistin, viele Jahre Leiterin des Literaturforums im Brecht-Haus. Rebellion also „gegen die alten Gewissheiten, die eigenen wie die fremden“. Also gegen „festschreibende Aufklärungsmodelle“. Aber auch gegen falsche neue Götter – Zuversicht bezog der Sozialist Hörnigk aus der Wahrscheinlichkeit, dass der Kapitalismus an seiner „aufs Käufliche reduzierten Utopie ersticken“ werde.
Jahrzehnte war Hörnigk Lehrer an der Humboldt-Universität, war Forschungsdirektor, Dekan, musste sich, als alles Westen geworden war, auf seine eigene Stelle neu bewerben, wurde für fünf Jahre eingestellt, „allerdings mit der unverschämten Begründung, man sei sich nicht sicher, ob ich tatsächlich auf dem Boden des Grundgesetzes stehe“. Erst neun Jahre nach dem Mauerfall wird Hörnigk – „entfristet“. Das Vokabular der Anmaßung.
Dieser Wissenschaftler, dieser Deutungsenthusiast, gelernter Stahlwerker, wirkte kraftvoll, ein Typ zwischen Seewolf und Bergsteiger, weißer Bart, weißes Haar, verwegen und vergeistigt zugleich. Fels mit Feinsinn.

PAUL WERNER WAGNER: Frank Hörnigk hat – was für seine und meine Generation nicht so selten ist – auch Erfahrungen in der Produktion gesammelt. Er hat nämlich neben seinem Abitur eine Berufsausbildung absolviert – und also die Arbeiterklasse hautnah kennengelernt, im Stahl- und Walzwerk Riesa. Und: Frank Hörnigk war mein Dozent, während meines Fernstudiums der Kultur- und Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat DDR-Literatur mit Schwerpunkt Gegenwartsdramatik gelehrt. Er war ein sehr inspirierender Dozent – in einer Lebendigkeit und vor allen Dingen mit einer Offenheit, dass es einem als Student eine Freude war.

Wenn wir über DDR-Literatur reden, sollten wir zunächst über das Jahr 1945 reden. Für die einen war diese Niederlage des faschistischen Deutschlands eine Kapitulation, für andere bedeutete es Befreiung. Auf jeden Fall leitet dieses Jahr eine Neuaufteilung des bisherigen Landes ein. Zunächst entstehen drei westliche und eine sowjetische Besatzungszone. Was war das Besondere am literarischen Aufschwung in der sowjetischen Zone? Welche Schriftsteller aus dem Exil gehen bewusst ins Gebiet der späteren DDR, aus klaren politischen Gründen? Welche Rolle spielen andere Motive?

Frank Hörnigk: Ich gestehe zunächst, ich bin einigermaßen berührt und sehr glücklich, dass so viele hier, in diesem schönen Raum, zusammengekommen sind. Es ist fast wie eine Vorlesung. Also, normalerweise stellt man sich als Dozent jetzt hin und rennt mit dem Mikrofon ein bisschen durch die Gänge – und erzählt was … Aber zu deiner Frage: Sie ist geradezu weichenstellend für eine ganze geschichtliche Epoche. 1945 kommt, so könnte man sagen, eine Literatur zurück nach Deutschland. Oder sie tritt wieder auf. Oder sie versteckt sich endgültig. Oder sie flieht aufs Neue. Alle diese Möglichkeiten werden real. Es ist eine ganz und gar ungenaue, verschwommene Situation damals, die freilich bald schon programmatisch beschrieben werden wird – aber so klar, wie sie es gar nicht war. Es kommt zu Beschreibungen, die sich im Osten sehr von den westlichen Interpretationen unterscheiden werden.

Immer im Nachhinein scheint alles eindeutig und schlüssig abgelaufen zu sein. Die Unlogik der Geschichte löst sich auf in der Logik der Geschichtsschreibung.

Ja, so ist es oft. Ich will zuerst vom Osten sprechen. Im Osten gab es jedenfalls keine Stunde null im Selbstverständnis der hierher zurückkommenden Autoren. Die Literatur dieser Leute war zum Teil weit gereist. Die wesentlichen Stimmen kamen aus dem Exil, wohin die Autoren aus politischen oder sogenannten rassischen Gründen verbannt worden waren. Jedenfalls kamen in den ersten Jahren nach dem Krieg große deutsche Dichter, wenn sie denn überhaupt nach Deutschland zurückkehrten, vorrangig in die Ostzone. Und zwar nicht nur, weil sie Kommunisten oder Marxisten waren, sondern auch, weil sie wussten oder zumindest spürten, dass sie in der Noch-nicht-Bundesrepublik keinesfalls erwartet wurden. Ja, es gab in den Westzonen eine große Reserviertheit gegenüber diesem politischen und literarischen Exil. Das hatte zum Teil ganz vordergründige ökonomische Gründe. Arnold Zweig zum Beispiel. Er hatte in Berlin-Dahlem ein Haus, das er wiederhaben wollte. Aber er kriegte es nicht wieder. So ging er in den Osten, und so tat sich ein komplexes Feld auf von materiellen Interessen und politischen Erwartungen, oder umgekehrt gesagt: von politischen Interessen und materiellen Erwartungen.

Überzeugung ist niemals nur alles.

Zur Wahrheit gehört: Im Osten wurden Leute auch gekauft. Zum Beispiel Brecht oder der erwähnte Arnold Zweig. Bestimmte Autoren wären nicht ohne Weiteres in die Ostzone gegangen, wenn man ihnen nach so langer Leidenszeit des Verstummens nicht großzügige editorische Angebote gemacht hätte. Das war für viele doch eine gewaltige Chance: sich endlich wieder gedruckt zu sehen und, wenn man so will, in einer Atmosphäre großer Pädagogik wieder Sprache vermitteln zu können.

Pädagogik?

Ja, für ein einheitliches, gesamtdeutsches, demokratisches Land! Genau diese Chance aber eröffnete auch das Konfliktfeld für spätere Debatten: Wie etwa verbindet sich das Neue mit den Traditionsbegriffen deutscher Literatur vor dem Krieg?

Es ist die Frage: Wie vollziehen sich Übernahmen und Zäsuren?

Ja. Das war genau der Punkt, an dem die Gründungsmythen der beiden deutschen Literaturen nach 1945 ihre auseinanderstrebenden Anfänge nahmen. Wie dieses Erbe jeweils verwaltet und entworfen, wie es fruchtbar gemacht und auch verschenkt wurde, ist eine andere Frage. Aber wenn wir über die Ausgangssituation reden, dann ist das im Osten sehr vernehmlich ein Plädoyer für eine Literatur, die von Grund auf anders sein wollte, um Anna Seghers zu zitieren – eine Literatur, die sich befreien wollte vom Benutztwerden für falschen Patriotismus. Anfang der sechziger Jahre, kurz vor seinem Tod, hat Hanns Eisler in Gesprächen mit Hans Bunge, unter dem Titel „Fragen Sie mehr über Brecht“ veröffentlicht, daran erinnert, wie nach dem Krieg, unmittelbar nach der Rückkehr aus den USA, eine Vorstellung von engagierter Literatur und engagierter Musik aussah. Es sei Brecht und ihm um unmittelbare gesellschaftspolitische Wirkung gegangen, also: In einem Moment, da es ums Einbringen und die Sicherung der Kartoffelernte ginge, sei es logisch und sinnvoll, weil lehrreich gewesen, eine „Kartoffelkantate“ zu schreiben. Das war sie: die Ästhetik der Erziehung! Es ist dies, von heute aus gesehen, ein rührendes, aber ästhetisch nicht unproblematisches Konzept. Darüber hat Eisler – im Nachhinein – keineswegs nur selbstironisch gesprochen. Denn es war doch auch das durchaus ernstzunehmende, unerschrockene Engagement für eine Kunst, die verständlich sein wollte, die unmittelbar benutzbar sein sollte, auch für die Erhöhung der Leistungen in der Produktion. Dass Eisler damit – für gewissermaßen effiziente Wirksamkeit – einen hohen künstlerischen Preis zahlte, er, der schon in den zwanziger Jahren zur europäischen Avantgarde gehört hatte …

… und sich nun gewissermaßen selber reduzierte für Propaganda …

… traurig, ja. Und dennoch ist es nicht nur zum Lachen. Denn das Beispiel der „Kartoffelkantate“ ist ein fast naiv anmutendes Zeichen des ehrlichen Engagements.

Es ist Zuarbeit für ein weltneues Gründungsmodell.

Ja, es soll gesellschaftlich etwas verändert werden, und wir Künstler müssen dabei sein.

Für westliche Vorstellungen von moderner Kunst – einfach unvorstellbar?

Ja, aber es gab auch gute Gründe, das unvorstellbar zu finden. Es ist doch keineswegs ausgemacht, dass in der Preisgabe eines hohen ästhetischen Anspruchs zugunsten gesellschaftlicher Einflussnahme nicht auch etwas sehr Problematisches begründet wurde.

Schließlich wird der Begriff „DDR-Literatur“ eingeführt – Chance und Verengung gleichermaßen?

Der Begriff gilt bis etwa Ende der sechziger Jahre, bis in die späte Ulbricht-Ära hinein. Es ist die programmatisch vorgegebenen Vorstellung von einer deutschen Nationalliteratur der DDR. Eine Repräsentationsvorstellung. Brecht sagte 1956, in seiner Rede auf dem 4. Schriftstellerkongress, dieser Kongress finde in dem Teil Deutschlands statt, in dem der Kampf um eine bessere zukünftige Gesellschaft im Interesse ganz Deutschlands geführt werde.

Ganz Deutschlands … Das klingt, als habe sich Brecht nicht im engen Sinne als DDR-Autor begriffen.

Stimmt. Als solcher hat er sich in einem engeren, in einem einengenden Sinne nie empfunden, Becher übrigens ebenso wenig. Bei diesen Großen gab es immer eine Option auf eine deutsche Nationalliteratur. Selbst der grotesk wirkende Propagandaspruch Ulbrichts – das, was die deutschen Imperialisten geteilt hätten, würde die deutsche Arbeiterklasse wieder einen – geht auf einen Nationenbegriff zurück, der im Osten den Anspruch erhob, für ganz Deutschland zu sprechen. Es ist in einer merkwürdigen Projektion, in den fünfziger Jahren, das Gegenmodell zum Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik.

Ab wann gab es DDR-Literatur institutionell?

Als Lehrstuhl?

Zum Beispiel.

Ab 1972. Also, alle Leute, die in den sechziger Jahren Germanistik studierten, hatten als Fach deutsche Gegenwartsliteratur nach 1945, das schloss Heinrich Böll genauso ein wie Erwin Strittmatter – natürlich mit einer deutlichen Option für eine sozialistische fortschrittliche Literatur, zu der aber zum Beispiel auch Böll gezählt wurde.

Wie war das denn unmittelbar vor Gründung der DDR?

Auf dem ersten gesamtdeutschen Schriftstellerkongress 1947 gab es eine ganz deutliche, programmatisch offene Orientierung der gerade gegründeten SED darauf, dass Literatur zur Stärkung des ersten Zwei-Jahr-Plans innerhalb der Ostzone beizutragen habe. Das hat ein bisschen mit Hanns Eisler und seiner schon erwähnten „Kartoffelkantate“ zu tun. Also mit der Vorstellung von Pädagogisierung und Erziehungsfunktion der Literatur. Wir kommen, so lautete die These, aus Verhältnissen und Biografien, durch die wir legitimiert sind, die durch den Faschismus verirrten Leute neu zu orientieren, neu zu justieren – also diese Erziehungsfunktion spielte eine große Rolle. Die Anknüpfungspunkte im Osten lagen interessanterweise ausdrücklich bei der klassischen deutschen bürgerlichen Literatur. Anders als in den Westzonen. Zum Beispiel die Reden zum Goethe-Jubiläum 1949, die Thomas Mann in Frankfurt am Main und in Weimar hielt: Sie spielten in Frankfurt kaum eine Rolle. Im Osten aber hatten sie eine geradezu kanonische Bedeutung. Natürlich hat die SED einiges getan, um dieser Rede einen großen Resonanzboden zu verschaffen – aber das, was Mann dort sagte, kam einer Orientierung auf klassische bürgerliche Vorstellungen entgegen. Es ist ja auch kein Zufall gewesen, dass am Deutschen Theater 1946 die Spielzeit mit „Nathan der Weise“ begonnen hatte. Die Ringparabel! Die haben alle älteren, in der DDR sozialisierten Leute nicht vergessen! Das wurde uns regelrecht eingebläut – und das war durchaus in Ordnung!

Aber das Anknüpfen an bürgerliche Literatur …

Ich ahne, was du sagen willst. In der Tat: Es war nicht so reibungslos, wie es klingt. Denn das Konzept der Öffnung schloss die Ausgrenzung all dessen ein, was nicht in den Kanon klassischer deutscher Literatur passte.

Zum Beispiel die Romantik?

Ja, die war vor dem Hintergrund dieser Entscheidung jahrzehntelang nicht nur verpönt, sondern sie wurde als eine dekadente, zutiefst bürgerlich problematische, auf Abseitigkeit gegründete Kunstperiode betrachtet. Und abgelehnt!

Gelehrt, aber verachtet.

Natürlich haben wir die Romantik an der Universität gelesen! Aber sie stand unter dem Diktum, eine Krankheit zu sein – wie Goethe das in die Welt gesetzt hat. Seine Auffassung ist auf fatale Weise politisch instrumentalisiert worden. Diese Polemik ging ja, bitte schön, bis zum eleganten Peter Hacks. Zu dessen Hinterlassenschaften der Eindruck gehört, die Romantik sei eine große Katastrophe gewesen.

Und außer der Romantik?

Aus meiner Perspektive, also einer Perspektive des großen, vorurteilsfreien Interesses an der Moderne, war die begleitende Tendenz im Osten, die gesamte klassische Moderne des 20. Jahrhunderts zu selektieren und herauszunehmen aus dem Kanon, von Kafka bis Joyce. Also alles, was auch das Leid und die Geworfenheit des Individuums im 20. Jahrhundert vor Augen führte. Das wurde editorisch nicht nur sehr nachlässig behandelt, sondern geradezu zum Feindbild stilisiert. In der Literatur, auf dem Theater, in der bildenden Kunst. Die Verweigerung der Moderne, der ideologische Kampf gegen sie – das ist eine der schlimmsten Verarmungsmomente sozialistischer Kulturpolitik. Dass es dennoch eine Rezeption dieser Moderne gab und sie die Kunst der DDR bereicherte, das sagt etwas aus über den Reichtum und über die Potenziale und die Widerstandskräfte dieser ostdeutschen Literatur. Dafür stehen Namen wie Heiner Müller oder Christa Wolf oder Sarah Kirsch und Rainer Kirsch. Oder der leise Gert Neumann, gewissermaßen ein Fortsetzer von Kafka. Also: immer diese Gleichzeitigkeit: Ideologische Vorgabe und zugleich subversive kritische Kunst.

In den fünfziger Jahren treten Autoren auf – Johannes Bobrowski, Erwin Strittmatter, Franz Fühmann -, die kommen aus der Erfahrung des Krieges. Sie versuchen, das schriftstellerisch zu verarbeiten. Sie empfinden, wie etwa Bobrowski, den Heimatverlust. Sind die Arbeiten dieser Autoren dennoch erste originäre Zeugnisse von spezifischer, also DDR-Literatur?

Ich weiß es nicht genau. Ich zögere. Die Schriftsteller, die du jetzt genannt hast – wenn sie noch befragbar wären, würden sie es dir nicht bestätigen. Davon bin ich überzeugt. Also: Ich maße mir kein Urteil an. Der späte Franz Fühmann hat die Jahre noch erlebt, die Bobrowski nicht mehr hatte, und er ist immer stärker in Konflikte gekommen mit der DDR. Ich glaube, ich darf das sagen: Es ist einer der größten Schriftsteller, die ich in diesem Raum der DDR-Literatur erlebt habe.

Du sagst: Raum der DDR-Literatur – das klingt wie eine bewusste Umgehung des Begriffs „DDR-Schriftsteller“.

Er war ein Mann, der einen so weiten Horizont poetischer Sensibilität und Reflektion besaß, dass die Begrenzung auf DDR geradezu absurd erscheint. Andererseits aber wird er – bis heute – im internationalen Kontext weit weniger wahrgenommen als andere. Also: Fühmann ist DDR-Autor – und nicht DDR-Autor. Spätestens Anfang der siebziger Jahre haben die klügsten Kollegen, Freunde und Leser in der Bundesrepublik und in Westeuropa begriffen, dass es hinter dem Eisernen Vorhang, im Osten Deutschlands, eine Literatur gab, die keinesfalls nur als Arbeit im Staatsdienst reflektiert werden durfte. Natürlich war das Interesse im Westen immer auch darauf gerichtet, Zeichen der Dissidenz zu entdecken. Aber das Interesse an Christa Wolf beispielsweise offenbarte mehr: Leserinnen und Leser in der Bundesrepublik, jene Studenten zum Beispiel, die zu Hunderten in ihre Frankfurter Vorlesung zur „Kassandra“ kamen, Anfang der achtziger Jahre – sie nahmen diese Schriftstellerin als eine Autorin wahr, in deren Werk sie das Eigene entdeckten.

Weltliteratur?

Klingt anmaßend. Aber warum eigentlich nicht. Ja, wir reden von einer international relevanten künstlerischen Dimension. Die Literatur der DDR ist 1990 nicht beigetreten, und sie ist auch nicht abgewickelt. Sie ist da, wo sie gelesen wird. Und sie wird gelesen.

Wenn wir uns Schriftsteller in der DDR anschauen, die eine hohe literarische Qualität besaßen, so bleibt doch der Eindruck, dass sich alle sehr gerieben haben. Angetreten mit Hoffnung, geendigt mit Enttäuschung.

Die DDR ging in eine Falle, die sie sich selber gelegt hat: Es ging um Anspruch. Sturm und Drang zum Beispiel, das waren Anspruchshelden. Das waren Leute, die sich durchsetzen wollten. Sie sind gescheitert. Es waren die jungen Typen, an denen man sich orientieren wollte, wie das Ulrich Plenzdorf dann mit den „Neuen Leiden des jungen W.“ vorgegeben hat. Die Anspruchshaltung wuchs, war gewollt – und wirkte zugleich als etwas Unerträgliches für die herrschende Politik. Denn: Jemand, der heraustrat aus dem vorgegebenen Raum erlaubter Diskurse, war für sie ein Störfall. So besaß kritische Literatur ein immanent subversives Moment – im Überschreiten von vorgegebenen Begrenzungen. Das war also Chance und Gefahr, und dort, wo das Ich nicht nur aufging in einem allgemeinen einstimmigen Chor irgendwelcher Kollektive, entstand Bedeutendes. Insofern geriet die Orientierung auf eine Utopie immer auch, wenn man so will, zu einer höchstgefährlichen Geschichte. Gute Autoren und ihre klugen Leser haben ernst genommen, was die Gesellschaft ideologisch proklamierte – und das hat die Gesellschaft nicht ausgehalten.

Das genau war diese Falle, die sich das System selber stellte und die du beschrieben hast: Die Gesellschaft schreibt sich etwas auf die Fahnen – will und kann es aber gar nicht realisieren mit den Leuten, die dafür ihren Eigensinn entwickeln.

Ja, das ist der Grunddissens gewesen, immer stärker werdend, bis junge Leute in den achtziger Jahren die propagierten Utopien gänzlich abgeschrieben hatten. Bei Brecht heißt es nach dem 17. Juni 1953, die Berührung zwischen den Arbeitern und dem Staat sei die Berührung eines Faustschlags gewesen. Aber immerhin, sagt er: Es ist eine Berührung. Die Gesellschaft könnte daraus lernen. Das war seine Hoffnung. Sie hat nicht daraus gelernt. Für die Jungen, Jahrzehnte später, war solche Berührung mit der Gesellschaft nicht mehr relevant. Sie haben sich nicht mehr interessiert. Das war die Abschiednahme von einem ursprünglichen Credo des Engagements.

Nach den Utopien zu fragen, das war für die Generation der Alten, die aus dem Exil kamen, och eine völlig andere Frage.

Also Anna Seghers und Christa Wolf sind unter diesem Aspekt nicht zusammenzudenken. Die eine ist zurückgekommen und glaubte lange, jetzt endlich dort zu sein, wo ihre Träume des Exils hätten gedeihen  können. Es war dann im Lebens- und Energieraum dieser Generation keine Kraft mehr da, das noch mal infrage zu stellen. Das änderte sich in den folgenden Generationen – erst mählich, dann immer abrupter und konsequenter.

Wenn wir über Literatur sprechen, müssen wir natürlich auch die Rahmenbedingungen bedenken: die Enthüllungen der Verbrechen Stalins, mit der die DDR-Führung nur sehr, sehr schwer umgehen konnte; in Ungarn der Volksaufstand und dessen Niederschlagung. In der DDR die Verhaftung von Leuten, die Reformen angemahnt hatten – Walter Janka, Wolfgang Harich; später das Vorgehen gegen Ernst Bloch in Leipzig. Das nahm viel von Freiheit und Hoffnung.

Zweifellos. Ich bin allerdings skeptisch bei der zum Klischee gewordenen Hin-und-Her- Kommentierung all dieser Vorgänge: mal Tauwetter, mal Vereisung, dann wieder Tauwetter, dann wieder Vereisung. Ich halte davon wirklich nicht viel. Der Machtanspruch der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion und der Parteien in den anderen sozialistischen Ländern war und blieb immer ein absoluter. Er diktierte die Taktik, nichts sonst. Auch jedes sogenannte Tauwetter blieb eine Methode zum Erhalt des absoluten Machtanspruchs. Darauf hat sich jede Kunst  einlassen müssen und hat sich eingelassen. Also jedenfalls viele Jahre. Ich behaupte nachdrücklich: Literatur und Kunst in der DDR hatten zu keinem Zeitpunkt einen wirklich autonomen Stellenwert in der Gesellschaft. „Tauwetter“ war immer dann möglich, wenn es kompensatorisch günstig war, die Leine mal lang laufen zu lassen. Heute wird in der Bewertung gern Grobheit praktiziert: Es gab entweder Opposition oder Anpassung. Punkt. Die meisten wollen natürlich Oppositionelle gewesen sein. Das kann man verstehen – aber die Wenigsten waren es wirklich. Diese Wenigen aber sind wichtig. Denn große Kunst entstand nicht als Betriebsunfall, weil mal irgendein Lektor nicht hingeguckt hat oder am Theater gepennt wurde. Es gab kritisches Denken, Mut, Anstand, zähes Bemühen, den Raum zu öffnen. Warum? Um die Gesellschaft zu reformieren, zu erweitern, sie zu emanzipieren. Vielleicht kann man sagen. Unsere – jedenfalls meine – Illusion bestand darin, an diese Reformierbarkeit zu glauben, und zwar innerhalb der gesellschaftlichen Struktur. Diese Illusion wurde 1989 Hoffnung – und schnell historisch.

Kommen wir vielleicht noch auf einen anderen Aspekt. Er wird von manchen so ein bisschen belächelt. Es geht um die erste Bitterfelder Konferenz 1959, nicht weit von hier fand sie im Kulturpalast statt. Der Mitteldeutsche Verlag war der Organisator, und Walter Ulbricht hat das instrumentalisiert oder instrumentalisieren lassen. Es gab auf dieser Konferenz die Verkündung des sogenannten Bitterfelder Weges: Einerseits sollten die Schriftsteller die Produktion kennenlernen, sollten möglichst mitarbeiten, um die realen Probleme für ihre Literatur nutzbar machen zu können. Und andererseits ging es um den gebildeten Arbeiter, er sollte mit Kultur konfrontiert werden, daran wachsen und selber gestaltend aktiv werden: „Greif zur Feder, Kumpel!“ hieß das Programm – die Losung stammte von Schriftsteller Werner Bräunig. Wie ist das heute zu betrachten?

Lacht. Na, jedenfalls differenziert. Werner Bräunig ist ein tragisches Opfer der Kulturpolitik der DDR. Ich würde nicht sagen, er sei vom Stalinismus in den Tod getrieben worden – für solch einen ideologischen Kurzschluss sind die Dinge des Lebens zu kompliziert, es gibt keine einfachen Wahrheiten. Aber die Art und Weise, wie Bräunig mit seinem großen Romanprojekt „Rummelplatz“ zum Gegenstand schlimmster demagogischer Übergriffe wurde, das ist schon entsetzlich. Es gibt einen Mitschnitt des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED Ende 1965, das später „Kahlschlag-Plenum“ genannt wurde, und dort wurde Bräunig – in dessen Abwesenheit! – zum Objekt einer aufgeladenen Hetzkampagne, lauthals angeführt von Ulbricht und dem Politbüro. Die Vorwürfe: Verleumdung der Arbeiterklasse, Verleumdung der Sowjetunion, Verleumdung der Partei und so weiter und so weiter. Also alles, was man auf literarischem Felde nur verbrechen konnte, hatte Werner Bräunig angeblich verbrochen. Man kann in diesem Tondokument die damals noch sehr junge Christa Wolf mit zitternder Stimme hören, wie sie sich einsetzt für den Freund Bräunig. Das ist ein Dokument höchsten Respekts, und zwar in einem Spagat: einerseits noch immer diese Gesellschaft zu verteidigen, ihr immer noch verpflichtet zu sein, aber zugleich entschieden für diesen Freund und für diese Literatur einer sich befreienden Ästhetik einzutreten. Ein grandioses Beispiel für quälend widersprüchliche Erfahrung.

Bitterfeld ist Teil eines DDR-Aburteils geworden.

Ja, bis zur Witznummer. Keiner wollte später mehr erinnert werden an – jetzt sag ich ein großes Wort – die Programmatik einer Kulturrevolution. Es war eine große Illusion, aber sie war doch schön: diese Vorstellung, dass die Leute an den Maschinen Literaturkundige werden und selber schreiben, malen, filmen. Es war eine rührende Vorstellung, die Marx’sche Vorstellung von Kommunismus. Das ist niemals eingelöst worden und konnte nicht eingelöst werden. Und ich weiß auch nicht, ob es unbedingt notwendig ist, dass alle Leute gleichermaßen malen und schreiben können. Aber diese Malzirkel und Keramikzirkel und diese Zirkel lesender und schreibender Arbeiter bis Ende der achtziger Jahre – ist das so verdammenswert. Wer das niederspottet, ist herzlos.

Nach dem Mauerbau wurde in der DDR auch ein neues ökonomisches System versucht. Das ist wahrscheinlich die kreativste Phase Ulbrichts gewesen. Dieses System scheiterte – wohl auch, weil nach Chruschtschows Ablösung Breschnew nichts von diesen Dingen förderte. Aber in dieser Zeit beginnt die Ära von Christa Wolf, Heiner Müller, Brigitte Reimann: Plötzlich entsteht eine Literatur, bei der Leser mehr denn je das Gefühl haben: Das geht mich an, das ist mir nah. Der Schriftsteller als Seelsorger und Lebensratgeber. Damit waren Autoren doch wohl auch sehr überfordert.

Das ist eine schöne, komplexe Fragestellung. Ja, es entstanden Bücher als Beleg einer explodierenden Subjektivität. Das ist mein Begriff. Es sind große Texte der Selbstbehauptung, häufig noch in der Hoffnung, Utopie sei einlösbar im herrschenden gesellschaftlichen Raum. Wir besaßen Texte, an denen wir uns reiben konnten und auch reiben mussten. Aber so entstand die Möglichkeit, mit literarischen Texten Debatten zu führen, die so nirgendwo anderes stattfinden konnten.

Vielleicht kommen wir noch mal auf die Arbeitsbedingungen von Schriftstellern: Stichwort Zensur.

Man lese „Werktage“, die Tagebücher von Volker Braun. Was für eine trostlose Provinz. Was für eine Verschwendung von Energien. Was für eine Trauerarbeit. Was für eine Lächerlichkeit. Es gibt ein Gedicht von Braun. Das assoziiert einen Besuch bei Kurt Hager. Es ist ein sehr autobiografisches Gedicht. Also, Braun geht wegen eines Lyrikbandes wieder mal zu Hager, dem Politbüromitglied. Das Gedicht offenbart ein zunächst sehr freundschaftliches Gespräch mit Schulterklopfen und „Wie geht’s denn, Volker?“, und das lyrische Subjekt, Volker Braun, wird erkennbar immer kleiner. Er geht aus dem Zimmer und fühlt sich wie eine Laus. Das ist das letzte Wort in dem Gedicht. Und die offizielle Reaktion: Wegen des Begriffs „Laus“ könne das Gedicht nicht erscheinen. Braun wendet einen trostlosen Trick an, er ändert in „Maus“. Das geht durch. Welch eine Trostlosigkeit! Das muss in aller Schärfe und notwendigen Klarheit gesagt werden. Ich habe die Werke Arnold Zweigs herausgegeben, ich weiß also: Es ist kaum nachvollziehbar, auf welche Weise dieser große Schriftsteller bereit war, in seine eigenen Texte einzugreifen, etwa um nicht genehme Namen wie Trotzki herauszureißen. Das wurde ihm abverlangt, er willigte ein. Der arme Zweig. In der nächsten Generation war das dann schon anders. Heiner Müller kam als Weltautor zurück aus dem Westen und ist dann in der DDR veröffentlicht worden, weil der Staat nunmehr fürchtete, sich durch Verbote lächerlich zu machen. Aber jahrelang war er verboten – welch ein Trauerspiel. Ein trostloses Kapitel einer reglementierenden, autoritären Politik. Deshalb: Was für ein Tag, da die Leute in der DDR endlich „Die Ästhetik des Widerstandes“ von Peter Weiss lesen konnten! In einer DDR-Ausgabe! Plötzlich ist da zu lesen, dass Kafka ein proletarischer Autor sei. Was für eine wunderbare Idee, dieses Buch herauszubringen. Welch ein schöner hoher Anspruch an ein proletarisches Lesepublikum! Große Kunst muss man auch als Überforderung annehmen und zu ergründen suchen. Es war ein Ereignis, nunmehr zu wissen: Ich kann jetzt anders über Kafka reden als vorher. Die Reglementierung des Denkens war ein Beitrag zum Untergang dieser Gesellschaft im Osten. Das war reaktionär. Die Emanzipation der Menschen ist auch ein Prozess ihrer Befreiung von solchem Diktat.

1976 erfolgt die Biermann-Ausbürgerung. Künstler schreiben eine Petition: Das Politbüro möge sich das noch mal überlegen. Nach jenem verhängnisvollen 11. Plenum 1965 zogen sich Künstler vorwiegend zurück – jetzt aber reagieren sie anders, sie gehen weg!

Wichtige Autoren hatten den Schritt in eine Öffentlichkeit gewagt war, die nicht mehr einseitig kontrollierbar war durch östliche Medien. Das war ein Tabubruch. Das war, um in der Sprache der Politik zu reden; die Bildung einer konterrevolutionären Plattform. Das wurde in den dreißiger Jahren in Moskau mit Erschießen geahndet. Ob der Künstler Wolf Biermann als Person diesen Tabubruch rechtfertigte, ist eine andere Frage. Das will ich jetzt nicht diskutieren. Aber es war doch ein Problem der Würde und der politischen Kultur – sowas durfte doch kein deutscher Staat machen, nach den Erfahrungen der jüngsten Geschichte Deutschlands. Ja, die DDR hätte das nicht machen dürfen. Aber welche naive Vorstellung, zu glauben, dass das Politbüro eine einmal getroffene Entscheidung, überdenken könnte. Hinter dieser Hoffnung steckt – wenn man ganz kühl draufblickt – die Mythisierung der eigenen Rolle als Schriftsteller. Man glaubte, ein politisches Subjekt zu sein. Die Politik jedoch zuckte nicht mal. Das ist ein vernichtendes Urteil über die Politik, aber das Ganze zeigt auch die Machtlosigkeit der Künstler. Fazit: Es gibt irgendwann keine Eingriffsmöglichkeiten innerhalb eines so rigide von oben nach unten organisierten Systems. Solche Erkenntnis tut weh.

Du hast mit Freunden an Sarah Kirsch einen Brief geschrieben: „Bleib doch hier.“

Ja, ganz naiv.

Sarah Kirsch ging. Christa und Gerhard Wolf blieben.

Christa Wolf hat mal vom Bund der Glücklichen gesprochen – als einer imaginären Beziehung von Schreibenden und Lesenden. Ein geheimes Bündnis, eine Gemeinde. Dieses Moment ist verloren gegangen, natürlich. Und es sind Freundschaften zerbrochen, nicht zuletzt die zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf, schlimmerweise. Das ist damals eine Zerreißprobe gewesen, die sehr fatale und weit über den Fall Biermann hinausreichende Folgen hatte. Es wuchs sich zu einer geistige Krise größten Ausmaßes aus, die mit zum Ende der DDR geführt hat.

Du hast gesagt, dass in den achtziger Jahren eine Schriftstellergeneration auf den Plan tritt, die im Grunde utopie- und illusionslos lebte und schrieb. Diese Autorengeneration wurde dann aber nach der Wende von der bundesrepublikanischen – offiziellen! – Literaturwissenschaft als die eigentliche DDR-Literatur bezeichnet.

Na ja, bis zur Wende, danach nicht mehr. So lange es die DDR gab, waren diese Jungen plötzlich die Eigentlichen. Und es ist ja tatsächlich eine bedeutende, mutige junge Generation gewesen. Man darf das überhaupt nicht in Abrede stellen. Das, was in den Friedensbewegungen, in Vereinigungen innerhalb der Kirchen der DDR und in vielen anderen oppositionellen, inoffiziellen Räumen der Öffentlichkeit stattfand, ist wesentlich eine Jugendkultur gewesen. Und ihren literarischen Ausdruck, den gab es im Prenzlauer Berg, in Leipzig, den gab es in Halle. Dass eine westliche literarische Öffentlichkeit das wahrnahm und versuchte, die ästhetische Bedeutung dieser Jugendkultur prononciert zu stilisieren, ist natürlich auch ein Moment des Geschäfts gewesen. Das ist ganz klar. Aber es war auch die Entdeckung einer anderen Stimme, ich gebe das gerne zu. Ich selber war damals schon in den sogenannten mittleren, also auch schon etwas abgeklärten Jahren. Wichtige Autoren waren meine Studenten in jener Zeit – und ich gestehe stolz, dass sie überhaupt noch zu mir kamen und mit mir redeten. Wie redeten und stritten hauptsächlich über die Dimension von Öffentlichkeit oder Gegenöffentlichkeit.

Was hast du favorisiert?

Gemeinsam mit anderen habe ich immer versucht, einen Begriff von Öffentlichkeit zu erhalten und auszuweiten, der in der DDR selbst lag. Also: Wir wollten Räume erweitern und haben zu lange geglaubt, es könne funktionieren. Ich wehrte mich gegen die Faszination eines solchen Begriffs wie Gegenöffentlichkeit. Die Akzeptanz hätte bedeutet, den Begriff Öffentlichkeit aufzugeben und die Definition dessen der herrschenden Macht zu überlassen.

Ein schöner Traum, da etwas beeinflussen, etwas korrigieren zu können. Mir fällt ein, dass du dich vorhin selber als naiv bezeichnet hast.

Ja, ja … Du sprichst den Konfliktpunkt an. Als Christa Wolfs „Kassandra“ erschien, sagten einflussreiche Wissenschaftler der DDR: Gut, die Autorin habe zwar Positionen des Marxismus verlassen, aber im Friedenskampf sei sie unsere Bündnispartnerin, und deshalb könne der Text erscheinen, sozusagen im Zuge einer großen Friedensbewegung im europäischen Haus … na ja, wie die Phrasen so lauteten. Das fanden Leute, die ich schätzte, völlig inakzeptabel: diese taktisch begründete Schein-Generosität, diese Anmaßung, dass irgendjemand definiert, was Marxismus zu sein habe und das dann anzuwenden auf Christa Wolf, der im Zuge dieser Deutungshoheit abgesprochen wurde, eine marxistische Position zu haben. Dies nahmen die Jüngeren wahr, und die mehrheitliche Position an der Universität lautete: Abkehr von solcher Ideologie! Eine Gegenöffentlichkeit bilden!

Auch ein Beispiel fürs existenzielle Grundgesetz: Jede neue Generation relativiert die vorangegangene.

Ja, und das ist jetzt eine gute Gelegenheit, auf die Generationenfolge zu blicken, auf die unterschiedlichen Perspektiven von Menschen, die jeweils unterschiedliche Herkünfte hatten, die aus unterschiedlichen Milieus kamen, jeweils andere Erfahrungen einbrachten, andere Träume, andere Ängste, andere Hoffnungen. Also: Niemand soll sich hinstellen und glauben, er dürfe aus eigener Perspektive absolute Urteile formulieren. Es geht darum, einander zuzuhören und voneinander zu lernen.

Zum Schluss vielleicht noch der Blick von außen auf die DDR-Literatur. Wie wurde sie in der Bundesrepublik wahrgenommen? Oder in den USA?

Im besten Falle als eine Literatur, die aus den Kommunikationsräumen der DDR heraus wuchs. Christa Wolf hat die Ehrendoktorwürde der Complutense-Universität in Madrid erhalten. Das ist die größte spanische Universität. Auf dem Festakt beim Botschafter Spaniens in Berlin betonte eine wichtige spanische Literaturwissenschaftlerin in ihrer Laudatio, wie wichtig die DDR-Literatur für das Spanien nach Franco gewesen sei. Ein Roman wie „Kindheitsmuster“ sei in Spanien noch nicht geschrieben worden. Das sagt doch einiges aus über eine Literatur, die weiterdachte als von Kap Arkona bis zum Fichtelberg. In dieser Literatur war und blieb nicht alles gleich wichtig, und es ist letztlich vielleicht auch nur wenig wichtig – aber das Wenige reicht schon. Es reicht schon, um einen Beitrag geleistet zu haben zur Emanzipation kultureller Öffentlichkeit in dieser brodelnden Welt, in der wir leben.

* Das Gespräch zwischen Frank Hörnigk und Paul Werner Wagner fand am 8. November 2010 statt. Der Text ist dem Band Paul Werner Wagner / Hans-Dieter Schütt: Lebens Traum und Lebens Lauf. Zeitgenossen aus Ost und West im Gespräch (hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ringo Wagner, Quintus-Verlag 2020) entnommen. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.

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