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Engagement für Frieden und Sozial­staat­lich­keit

in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 164-166

Helmut Simon, Leben zwischen den Zeiten. Von der Weimarer Republik bis zur Europäischen Union – vom Bauernbub zum Verfassungsrichter und Kirchentagspräsidenten, Baden-Baden: Nomos Verlag 2020, 254 S., 58,- Euro

Helmut Simon (1922-2013) gehörte zu den herausragenden Richter_innenpersönlichkeiten am Bundesverfassungsgericht, dem er 1970 bis 1987 angehörte. Hervorgetan hat er sich weniger durch die Kreation neuer verfassungsrechtlicher Dogmatik, sondern vielmehr durch sein beharrliches Engagement für die stärkere Akzentuierung der Verfassungsgebote der Friedensstaatlichkeit und des Sozialstaats, ferner durch seinen Einfluss auf die Debatten in der Evangelischen Kirche Deutschlands. Nunmehr wurde posthum seine Autobiographie veröffentlicht, herausgegeben von seiner zweiten Ehefrau Heide Simon und dem Rechtsanwalt Peter Becker.

Sein Werdegang war sicher untypisch für einen langjährigen Verfassungsrichter: Geboren wurde er auf einem Bauernhof im oberbergischen Land; nach dem Besuch der einklassigen Zwergschule, später der Oberschule in Gummersbach, wo er 1941 das Abitur ablegte, diente er als Soldat der Bordflak auf einem Handelsschiff. Bereits im Winter 1945/46 begann er sein Jurastudium, verfolgte aber zugleich andere Interessen wie sein Engagement in der evangelischen Kirche. Prägend hierbei war insbesondere der Kontakt mit dem berühmten Schweizer Theologen Karl Barth. Als etwas indiskret erscheint die detaillierte Schilderung seiner Liebesbeziehung zu seiner ersten Frau Eka, die 1992 an Krebs verstarb. Immerhin verschweigt er nicht, dass während des wohl recht patriarchalisch geprägten Familienlebens beim Austragen von Konflikten er häufig seine Frau „mit Beredsamkeit erdrückte“ (S. 42).

Seine richterliche Karriere begann in der Kammer für gewerblichen Rechtsschutz beim Landgericht Düsseldorf und setzte sich fort beim Oberlandesgericht. Im Jahre 1965 wurde er zum Richter am Bundesgerichtshof gewählt und amtierte auch dort am Fachsenat für gewerblichen Rechtsschutz, einer Materie, die sich als Vorbereitung auf die Lösung diffiziler verfassungsrechtlicher Probleme eher weniger eignet. Immerhin wurde er für zwei Jahre als „Hiwi“ zum Bundesverfassungsgericht abgeordnet, bevor er 1970 „überraschend“ (S. 115) als Nachfolger von Wolfgang Zeidler zum Mitglied in den Ersten Senat des höchsten deutschen Gerichts gewählt wurde. Dort wirkte er an so wichtigen Entscheidungen wie z. B. dem Brokdorf-Beschluss von 1985 mit, dem bis heute wegweisenden „Lehrbuch der Versammlungsfreiheit“ (Christoph Gusy). Seine Opposition gegenüber seinen konservativen Senatskolleg_innen dokumentierte er in insgesamt sieben zumeist überzeugenden Minderheitsvoten, von denen er einige gemeinsam mit der Richterin Rupp-v. Brünneck verfasst hat, so zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs sowie zur Mitbestimmung an Hochschulen.
Mit Recht kritisierte Simon später auch den Umgang mit dem Gebot der Friedensstaatlichkeit: Es sei versäumt worden, es ähnlich konkret herauszuarbeiten und anzuwenden wie das Sozialstaats- und das Rechtsstaatsgebot. Im Hinblick auf die „out-of-area“-Einsätze der Bundeswehr schrieb er: „Statt klare verfassungsrechtliche Regelungen für Recht und Grenze von Krisenreaktionseinsätzen zu schaffen, sind entgegenstehende Verfassungsnormen bis zur Bedeutungslosigkeit verdünnt worden, insbesondere die ungewöhnlich klare Vorschrift des Art. 87 Abs. 2 GG: ‚Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.'“ (S. 101).

Ebenso wie seine Kollegin Rupp-v. Brünneck beklagte Simon, dass das Sozialstaatsgebot in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung „immer noch ein Schattendasein“ führe (S. 167). Als Fortschritt lassen sich insoweit allerdings die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2010 und 2012, also lange nach Simons Ausscheiden, zum Inhalt der Gewährleistung des Existenzminimums werten (vgl. im Einzelnen vorgänge 219, S. 7 f.). Nicht gebessert hat sich auf der anderen Seite indessen die sozialökonomische Grundsituation, wie sie Simon in einer Rede im Jahre 1997 (die im Manuskript für dieses Buch als „eine Art Vermächtnis“ charakterisiert wird) beschrieben hat: „In der Wirtschafts- und Sozialpolitik dreht sich alles um die Wettbewerbsfähigkeit, Globalisierung und Aktionärsinteresse nach dem shareholder-value-Prinzip; multinationale Unternehmen und ein durch die Welt vagabundierendes vaterlandsloses Kapital können auf der Suche nach höheren Profiten weitgehend im rechtsfreien Raum agieren und sehen sich sogar umworben durch Steueranreize und Sozialabbau. Von sozialer Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Gleichwertigkeit von Arbeit und Kapital, Sozialpartnerschaft und vom Primat der Politik ist kaum noch die Rede.“ (S. 253).

Trotz der zeitlichen Belastung durch seine Richterämter fand Simon immer noch Zeit für gesellschaftspolitisches Engagement, so 1978 als Gründungsmitglied der Gustav-Heinemann-Initiative und später dann als Präsident des Evangelischen Kirchentages. Vor diesem Hintergrund ist interessant, welche Position er zur Stellung der Amtskirchen unter dem Grundgesetz vertrat. Gegenüber einer strikten Trennung von Staat und Kirche äußerte er Skepsis, aber ebenso gegenüber dem derzeitigen für die Kirchen überaus vorteilhaften „System freundschaftlicher Partnerschaft mit dem Staat“ (S. 228). Er plädierte dafür, das Verhältnis von Staat und Kirche konsequent auf der Grundlage des Menschenrechts der Religionsfreiheit zu bestimmen, und kritisierte, dass insbesondere im Hinblick auf das „kirchliche Arbeitsrecht“ die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung das kirchliche Selbstbestimmungsrecht „außerordentlich großzügig anerkannt“ habe statt darauf zu drängen, dass sich die Kirchen in der Respektierung von Grundrechten vorbildlich verhalten (S. 239).

Pessimistische Töne klangen in seiner Schlussansprache vor dem Berliner Kirchentag 1989 an: „Es ist bisher nicht gelungen, die Ressourcen der Erde haushälterisch zu nutzen; es ist nicht gelungen, die Umwelt vor Zerstörungen zu bewahren; es ist nicht gelungen, eine einigermaßen gerechte Weltwirtschaftsordnung zu errichten; es ist nicht gelungen, wissenschaftliche und technische Entwicklungen auf das Verantwortbare zu begrenzen; es ist auch immer noch nicht gelungen, den wahnwitzigen Rüstungswettlauf zu beenden und die Drohung mit Massenvernichtungsmitteln durch eine Sicherheitspartnerschaft zu ersetzen… Besonders gefährlich ist die zunehmende Gewöhnung an dieses Versagen.“ (S. 189). Es besteht wenig Anlass zu der Annahme, dass sich die Verhältnisse inzwischen gebessert haben, trotz des Engagements von „Fridays for Future“ und anderen. Angesichts dieser Situation bleibt zu wünschen, dass sich auch unter der jetzigen Generation von Verfassungsrichter_innen Persönlichkeiten finden werden, die sich nicht im Karlsruher Elfenbeinturm verstecken, sondern ähnlich wie Helmut Simon kritisch Stellung zu den großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart beziehen.

Martin Kutscha

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