Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 231/232: Zwei Jahre Datenschutz-Grundverordnung

Tief im System. Antizi­ga­nismus und polizei­liche Daten­samm­lungen

in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 179-186

Ob Trickbetrug, Diebstahl oder öffentliche Randale – immer wieder steht die (vermeintliche) Herkunft bzw. „ethnische“ Zugehörigkeit der mutmaßlichen Tatverdächtigen im Zentrum des medialen wie polizeilichen Interesse. Auf welcher langen und unheilvollen Vorgeschichte eine polizeiliche Erfassung von Minderheitenzugehörigkeit beruht, und in welcher Weise davon vor allem Sinti*ze und Rom*nja betroffen sind, schildert der folgende Beitrag von Anja Reuss anhand aktueller Beispiele.

Im vergangenen Sommer machte die Stuttgarter Polizei Schlagzeilen in ganz Deutschland als der Polizeipräsident Franz Lutz ankündigte, bundesweit Recherchen in den Standesämtern durchführen zu lassen, um die Abstammung von Tatverdächtigen[1] zu klären, die in der Nacht vom 20. zum 21. Juni 2020 Polizeibeamt*innen gewalttätig angriffen. Bis heute bildet die Abstammung von Tatverdächtigen einen zentralen Ermittlungsansatz bei der Polizei, weil Minderheiten und Migrant*innen eine erhöhte Neigung zu Kriminalität unterstellt wird. Auch Sinti*ze und Rom*nja[2] sind immer wieder davon betroffen. Entgegen dem verfassungsmäßig verbrieften Gleichheitsgrundsatz wird bei ihnen die Zugehörigkeit zur Minderheit zum handlungsleitenden Prinzip polizeilicher Ermittlungen. Das unterminiert nicht nur ihre Rechte als deutsche beziehungsweise EU-Bürger*innen auf Gleichbehandlung, sondern verletzt das Verbot, Menschen aufgrund von körperlichen Merkmalen, ihres Erscheinungsbilds oder ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Minderheit zu diskriminieren.

Die Polizei ist als Institution mit dem Gewaltmonopol des Staates ausgestattet. Sie ist deshalb explizit an die Grund- und Menschenrechte gebunden. Besondere Bedeutung für die Polizeiarbeit hat das völkerrechtliche Verbot der rassistischen Diskriminierung. Konkret für die Polizeiarbeit leitet sich daraus ab, dass sogenanntes Racial Profiling[3] verboten ist. Verboten ist es also, dass die Polizei Maßnahmen einleitet, die in Wirklichkeit allein auf einer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Minderheit beruhen. Insbesondere ist es verboten, dass die Polizei sich bei ihrer Arbeit von rassistischen Vorurteilen leiten lässt, dass sie also von der tatsächlichen oder vermeintlichen Minderheitenzugehörigkeit auf eine Wahrscheinlichkeit schließt, dass eine Person oder Gruppe eine Straftat begangen hat oder begehen wird. Das Verbot betrifft operative Maßnahmen, wie Identitätsfeststellungen oder Durchsuchungen an öffentlichen Orten, aber auch Ermittlungsansätze und die entsprechende Aktenführung.

Dabei ist vor allem die Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe ein besonders schützenswertes Merkmal von personenbezogenen Daten. Die Verarbeitung solcher Daten unterliegt wegen der hohen Missbrauchsgefahr strengen Vorgaben. Eine Kennzeichnung ist demnach nur dann erlaubt, wenn sie zur konkreten Aufgabenerfüllung „unbedingt erforderlich“ ist, beispielsweise zur Aufklärung eines Hassverbrechens. Zulässig ist es, das Aussehen oder die Kleidung einer Person zu beschreiben. Unzulässig ist im Rahmen einer Personenbeschreibung jedoch, rassistische Stereotype und Zuschreibungen zu verwenden. Verboten ist der Polizei damit nicht nur die Verwendung rassistischer Äußerungen, sondern auch die Erwähnung einer konkreten Minderheit.

Die Praxis der Polizeiarbeit sieht gleichwohl anderes aus. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen die Minderheitenzugehörigkeit gesondert erfasst wurde oder einen Aspekt der Ermittlungen darstellte. Die Art und Weise, in der Sinti*ze und Rom*nja von Racial Profiling betroffen sind, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig – insbesondere wie offen und unkritisch dies zum Teil kundgetan wird, aber auch wie systematisch und kontinuierlich dies geschieht. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Polizei weitgehend systematisch mit der unbewussten, aber auch bewussten Annahme arbeitet, dass Sinti*ze und Rom*nja mit erhöhter Wahrscheinlichkeit kriminell sind. Das hat zur Folge, dass (vermeintliche) Sinti*ze und Rom*nja mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Opfer polizeilicher Maßnahmen werden. Außerdem findet die (vermeintliche) Zugehörigkeit zur Minderheit häufig Eingang in Polizeiakten und Datenbanken, die zu Ermittlungen herangezogen werden. Das führt zu Ermittlungen, die auf rassistischen Annahmen beruhen.

Warum werden Daten über Sinti*ze und Rom*nja als allgemein polizeilich relevant angesehen?

Dass Sinti*ze und Rom*nja von der Polizei unter Generalverdacht gestellt werden und die Minderheit ausschließlich als ein Ordnungs- und Sicherheitsproblem angesehen wird, hat eine lange Tradition. Polizei- und Sicherheitsbehörden ging es von jeher darum, eine größtmögliche Kontrolle über Sinti*ze und Rom*nja zu erlangen; auch durch das rechtswidrige Sammeln von Daten über die Minderheit. Bis in die Gegenwart lassen sich Praktiken von Sondererfassung, Markierung und antiziganistischen Ermittlungen nachweisen.

Das polizeiliche Framing über Sinti*ze und Rom*nja basiert auf historisch gewachsenen antiziganistischen Wissensbeständen, dass: (a) Sinti*ze und Rom*nja allgemein zu Kriminalität neigen würden, (b) die Polizei über spezifisches „Expertenwissen“ verfüge, welche Deliktformen von der Minderheit begangen werden und (c) man Sinti*ze und Rom*nja als solche erkennen könne. Die gesellschaftliche Wirkung dieser polizeilichen Bilder über Sinti*ze und Rom*nja schlägt sich in Bevölkerungsumfragen anschaulich nieder. So stellt die Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig von 2018 fest, dass bis zu 60 Prozent der Befragten in Westdeutschland und fast 70 Prozent der Befragten in Ostdeutschland glauben, Sinti*ze und Rom*nja würden zu Kriminalität neigen.[4]

120 Jahre polizei­liche Daten­samm­lung über Sinti*ze und Rom*nja

Bereits für das frühe 18. Jahrhundert lässt sich das Konzept „Zigeuner“ als Polizeikategorie nachweisen. Damals noch überwiegend soziographisch gefasst, war „Zigeuner“ für die Polizei nicht nur gleichbedeutend mit Verbrecher, sondern auch ein Etikett für bestimmte Formen „unerwünschten Verhaltens“. 1899 begann die Erfassung der Minderheit durch den neu gegründete „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“ bei der Münchner Polizei. Ziel war es, eine Personenkartei über diesen Personenkreis aufzubauen.

1905 umfasste die Kartei bereits Einzelangaben zu 3.350 Personen. Daten jeglicher Art wurden zusammengetragen: Verzeichnisse zur Abstammung, Familienzugehörigkeit und Personenstandsdaten. Die Daten publizierte die Behörde in 7000-facher Auflage und versandte sie an Behörden in und außerhalb Bayerns.

Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gelangten, konnten sie problemlos an die bereits bestehende Praxis der Sondererfassung anknüpfen und diese entsprechend ihrer Ideologie radikalisieren. Bis 1938 wurden quasi eine Totalerfassung der im damaligen Deutschen Reich lebenden Sinti*ze und Rom*nja erreicht. Über 17.000 Akten zu mehr als 31.000 Personen wurden erstellt, mit Fingerabdrücken, Lichtbildern, Genealogien, Personendaten, Straf- und Zivilstandsregistervermerken. Diese Daten bildeten die Grundlage für die systematische Verfolgung, Deportation und Ermordung der Minderheit und dienten auch nach 1945 dazu, die polizeiliche Verfolgungspraxis von Sinti*ze und Rom*nja unter neuen Vorzeichen fortzusetzen und die Entschädigungsansprüche der Überlebenden sowie ihre Anerkennung als NS-Verfolgte zu verweigern.[5] Die polizeiliche Verfolgungs- und Erfassungspraxis wurde nahezu ungebrochen vom gleichen Personal mit den gleichen Akten fortgesetzt, lediglich eine semantische Verschiebung fand statt: Die ehemalige „Zigeunerzentrale“ hieß nach 1945 fortan „Landfahrerzentrale“. Erst 1970 wurde diese Spezialbehörde als grundgesetzwidrig eingestuft und aufgelöst. Die Praxis der Sondererfassung ging allerdings ungebrochen weiter. Denn grundsätzlich hielten führende Kriminalisten der Bundesrepublik es weiterhin für geboten, dass die Minderheit durch möglichst vollständige Erfassung und spezifische Repressionen polizeilich kontrolliert werden müsse.

Es war vor allem die Bürgerrechtsbewegung[6] Deutscher Sinti*ze und Rom*nja seit Anfang der 1980er Jahre, die durch organisierten Protest darauf hinwirkte, dass die rassistische Kennzeichnung und Sondererfassung der Minderheit abgeschafft werden muss. Insbesondere der Gebrauch rassistischer Begriffe in der Polizeiarbeit sollte beendet werden. 1982 beugte sich das Bundeskriminalamt dem politischen Druck und strich den Personenhinweis „Landfahrer“ aus seinen Vordrucken. Doch das sprachliche Verbot ändern nichts am Denken der Beamten über die Minderheit. 1985 wurde in einem amtsinternen Vermerk des BKA zur Sprachregelung festgehalten: „Zigeuner“ sei zwar nicht verboten, aber dennoch solle es nicht verwendet werden; auch vom Begriff „Landfahrer“ sei abzusehen und stattdessen „HWAO“ (Häufig wechselnder Aufenthaltsort) zu verwenden.[7]

Bei der Auswertung der BKA-Fahndungsblätter[8] seit den 1980er Jahren finden sich bis heute im Freitextfeld eine Fülle von zum Teil rassistischen Begriffen, mit denen Sinti*ze und Rom*nja markiert werden. Dass die Minderheit besonders im Visier des BKA war, zeigt auch die von 1988 bis 2001 betriebene Sachbearbeiterstelle zu „reisenden Tätern“, die Anfragen von Landeskriminalämter (LKA) bearbeitete. Besetzt war die Stelle mit einem ausgewiesenen „Experte[n] zur Kultur und Geschichte der Sinti und Roma“. Die Existenz dieser Stelle dokumentiert, dass die Polizei überzeugt davon war, dass Sinti*ze und Rom*nja aufgrund ihrer vermeintlich „kultureller Eigenschaften“ gesondert in der Strafverfolgung zu betrachten seien und von der gesamten ethnischen Minderheit eine Gefahr ausgehen würde. Doch auch nachdem die Stelle 2001 gestrichen und die Akten vernichtet wurden, blieb das Interesse der LKAs an spezifischen Daten und Informationen zu Sinti*ze und Rom*nja groß. Es ist zu vermuten, dass auf Länderebene weiterhin Daten durch Fachdienststellen zu Sinti*ze und Rom*nja gesammelt werden. Bis heute finden sich fragwürdige Kategorien zu personenbezogenen Hinweisen (PHW) etwa in Baden-Württemberg[9] und Sachsen.[10]

Kennzeich­nungen in Polizei­da­ten­banken

Im Sommer 2018 veröffentlichte die Berliner Polizei ihre Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2017. Darin fand sich im Bereich Diebstahl ein Absatz zu „Trickdiebstahl in Wohnungen“. Obwohl die darin benannten Tatverdächtigen deutsche beziehungsweise polnische Staatsangehörige sind, wurde rechtswidrig auf die vermeintliche oder tatsächliche Zugehörigkeit der Tatverdächtigen zur Minderheit der Sinti*ze und Rom*nja Bezug genommen:

„Zu dem Phänomen [sic] ‚Trickdiebstahl in Wohnung‘ konnten insgesamt 86 Tatverdächtige ermittelt werden, davon 33 weibliche. Unter den 45 Nichtdeutschen befanden sich 27 polnische Staatsangehörige, davon 16 weibliche. Bei den hierzu durch die Fachdienststelle ermittelten Tatverdächtigen handelt es sich überwiegend um Angehörige der Volksgruppe der Sinti und Roma. Diese Familienclans leben mittlerweile seit Jahren in Deutschland und besitzen größtenteils die deutsche Staatsangehörigkeit.“

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wandte sich daraufhin an den Berliner Senator für Inneres und Sport, Andreas Geisel, und verwies darauf, dass die Kennzeichnung von Tatverdächtigen auf Grundlage der Abstammung gegen die Grundwerte der Verfassung verstoße, insbesondere gegen Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetzes. Der Zentralrat forderte die Beendigung dieser Praxis sowie die Entfernung der Minderheitenkennzeichnung in der PKS 2017 online wie offline. Der Rechtsstaat verbietet es, das staatliche Institutionen die Abstammung von Staatsangehörigen zum Kriterium ihres Handelns machen.[11]

In Antwortschreiben vom Januar 2019 erklärte der Innensenator, dass eine strukturiert auswertbare Form der Erfassung von Sinti*ze und Rom*nja nicht stattfinden würde. Vielmehr beruhe die Veröffentlichung derartiger Informationen auf der fachlichen Einschätzung der zuständigen Dienststelle im Landeskriminalamt (LKA). In einem Schreiben an die Berliner Datenschutzbeauftragte erklärte die Berliner Polizei, dass eine Fachdienststelle über Jahre hinweg „polizeiliches Fachwissen zu den genannten Bevölkerungsgruppen“ sammeln würde. Aus Sicht des Innensenators sei die Nennung der Minderheitenzugehörigkeit „sachgerecht“, denn die PKS diene dazu, ein „verzerrungsfreies Bild“ der Betroffenheit der Bevölkerung von Kriminalität zu zeichnen. Doch genau das Gegenteil geschieht: eine bewusste Verzerrung von Kriminalität. Das Phänomen „Trickdiebstahl in Wohnungen“ macht mit 86 Tatverdächtigen gerade einmal 0,06 Promille der 138.000 wegen einfachem Diebstahl festgestellten Verdächtigen aus. Diese Zahlen zeigen klar, welches tatsächliche kriminalstatistische Gewicht der Tatbereich hat. Keinen!

Der Fall der Berliner PKS zeigt nicht nur die Kontinuitäten polizeilicher Praxis der Kriminalisierung von Sinti*ze und Rom*nja und ihrer spezifischen Erfassung, sondern auch die weitgehende Abwesenheit eines Problembewusstseins bei Polizei und politischen Entscheidungsträger*innen über die Implikationen von Racial Profiling. Bis heute sammeln augenscheinlich (selbst) ausgewiesene „Expert*innen“ in Polizeibehörden Daten und Informationen zu Minderheiten und werten diese aus. Dabei rücken in den letzten Jahren verstärkt einzelne Deliktarten, die mit Minderheiten wie den Sinti*ze und Rom*nja in Verbindung gebracht werden, in den Blick.[12] Eine an ethnisierenden Merkmalen orientierte Erfassung und Darstellung von Kriminalität vermittelt jedoch ein grundlegend falsches Bild von Kriminalitätsursachen, Präventionsmaßnahmen und Strafverfolgung. Die Markierung von Minderheiten, auch im öffentlichen Diskurs, ist Teil einer in den letzten Jahren verstärkt betriebenen Fokussierung auf Minderheitengruppen, die in Zuschreibungen wie „Clan“, „Großfamilien“ oder bestimmten ethnisierenden Merkmalen deutlich wird. Das führt nicht nur zu einer gefährlichen Verzerrung der Wahrnehmung von Kriminalität in der Bevölkerung, sondern ist vor allem die polizeilich intendierte künstliche Inszenierung einer Bedrohungslage.[13]

In der Gesamtbetrachtung der PKS fällt auf, dass an keiner anderen Stelle Merkmale von Gruppen innerhalb einzelner Staatsangehörigkeiten erfasst werden. Ausschließlich das Merkmal „Sinti und Roma“ wird in der PKS gesondert benannt. Den Zweck dieser Kennzeichnung beurteilte der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer sowohl aus kriminologischer als auch aus kriminalistischer Sicht für wertlos, da die Erfassung der Minderheitenzugehörigkeit weder bei der Aufklärung noch bei der Verhinderung von Straftaten hilfreich sei.

Unklar bleibt zudem, woran Bürger*innen Sinti*ze und Rom*nja eigentlich zuverlässig erkennen sollen. Vielmehr führen solche Äußerungen zur Reproduktion und Verfestigung antiziganistischer Stereotype in der Gesellschaft, die gravierende rechts- und sozialpolitische Risiken und Nachteile für die Minderheit mit sich bringen, denn die Kennzeichnung stellt einen gefährlichen Kausalzusammenhang zwischen Minderheitenzugehörigkeit und Kriminalität her.
Die öffentlichen Debatten über „Clankriminalität“ nehmen seit Jahren merklich zu. Augenscheinlich dient dies der Aufwertung eines polizeilichen Ermittlungsbereichs. Dabei ist der Clan-Begriff[14] kriminologisch völlig unklar und die Gleichsetzung von Minderheitenzugehörigkeit und Clanzugehörigkeit absolut unzulässig. Der Diskurs über Clankriminalität – von Polizei und Politik mitgetragen – schürt jedoch irrationale Ängste gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen. Die Tragweite dessen lässt sich an den oben zitierten Umfrage-Ergebnissen zu Bevölkerungseinstellungen über Sinti*ze und Rom*nja ablesen.

Fazit

Auch wenn wir noch weit entfernt davon sind, dass es ein tatsächliches Umdenken in der polizeilichen Praxis und einen Bruch mit antiziganistischen Stereotypen gibt, bestehen zumindest Ansätze für Dialog und Sensibilisierung zwischen Polizeibehörden, Ausbildungsstätten der Polizei und Selbstorganisationen. Ein Beispiel ist die seit 2017 bestehende Kooperation zwischen dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und den Bildungseinrichtungen der Thüringer Polizei. Das ist ein erster wichtiger Schritt, jedoch muss dieser von weitere Maßnahmen begleitet sein, um (strukturellen) Rassismus in Polizei- und Justizbehörden zu überwinden. Dies setzt die Bereitschaft seitens des Staates und der Behörden voraus, tiefgehende unabhängige Forschung zu den inneren Abläufen in Polizei- und Sicherheitsbehörden (etwa auf Ermittlungsebene) zuzulassen, um zu klären, wo rassistische Diskriminierung und Stereotypisierung stattfindet und Veränderungen notwendig sind. Die Innenministerien von Bund und Ländern müssen von ihrem Weisungsrecht Gebrauch machen und klare, konkrete Anweisungen zum Verbot der Kennzeichnung von Sinti* ze und Rom*nja, Racial Profiling und antiziganistischen Ansätzen in polizeilichen Ermittlungen erteilen. Begleitet werden sollte die polizeiliche Praxis durch regelmäßige Kontrollen durch die Datenschutzbeauftragten, die Rechtsverstöße entsprechend ahnden und öffentlich machen müssen. Aber auch eine umfassende und unabhängige Studie zu Rassismus in der Polizei, wie sie von der breiten Zivilgesellschaft aber auch aus der Politik gefordert wird, ist überfällig.
Bislang lastet die Verantwortung dafür, antiziganistische Vorfällen nachzugehen und diese zu problematisieren, hauptsächlich auf den Schultern von Selbstorganisationen der Sinti*ze und Rom*nja. Eine öffentliche und breite zivilgesellschaftliche Empörung wie im oben genannten Stuttgarter Fall bleibt bei antiziganistischen Vorfällen bisher aus. Gesellschaftliche Allianzen, ein kritisches Bewusstsein und öffentlicher Druck durch eine breite Zivilgesellschaft sind aber notwendig, um eine Veränderung voranzubringen.

ANJA REUSS   ist politische Referentin des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der sich national und international für eine gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft sowie für die Bekämpfung von Antiziganismus einsetzt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Antiziganismus, Polizei, Hasskriminalität und Datenerfassung. Sie ist Mitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung und veröffentlichte 2015 eine Studie zum Antiziganismus in Deutschland nach 1945.

Anmerkungen:

1 Tina Groll, Christian Vooren und Sophie Garbe: „Ist das übliche Polizeiarbeit?“, ZEIT-Online v. 13.7.2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/stuttgart-ausschreitungenpolizei-tatverdaechtige-stammbaumforschung-rassismus-faq (zuletzt 29.10.2020).

2 Sinti*ze und Rom*nja leben seit Jahrhunderten in Europa. In ihren jeweiligen Heimatländern bilden sie historisch gewachsene Minderheiten, die sich selbst ‚Sinti‘ oder ‚Roma‘ nennen. Deutsche Sinti*ze und Rom*nja sind die Angehörigen der Minderheit, die seit über 600 Jahren in Deutschland leben. Rom*nja leben zumeist in ost- und südosteuropäischen Ländern. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird ‚Roma‘ als Name für die gesamte Minderheit verwendet.

3 Unter Racial Profiling sind polizeiliche Maßnahmen wie Kontrollen, Überwachungen oder Ermittlungen zu verstehen, bei denen die Polizei den Fokus in unzulässiger Weise auf physische Merkmale wie Hautfarbe, die Sprache, tatsächliche oder vermeintliche Herkunft oder Religionszugehörigkeit der Betroffenen richtet; s. dazu: Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2007), Allgemeine politische Empfehlung Nr. 11, S. 4.

4 Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 104.

5 Vgl. Anja Reuss: Kontinuitäten der Stigmatisierung, Berlin 2015, S. 111 ff.

6 Romani Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma – Das Buch zum Rassismus in Deutschland, Hrsg. vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 1987.

7 Andrej Stephan, Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, S. 247-284.

8 Bei der Ausschreibung einer gesuchten Person besteht die Möglichkeit, im Freitextfeld verschiedene Hinweise zu geben wie: „Landfahrer“, „Zigeuner“, „Zigeunertypen“, die KZ-Tätowierungen und Nummern einer gesuchten Person, „Sinti“, „Roma“, „Zigeunersprache“, „nach Zigeunerart“ verheiratet, kryptisch „Sippe“, „Zigeunerpaar“, Roma-Familie, in „Zigeunerkreisen“, Sippen-Angehörige, Sinti-Angehörige, „Angehörige einer mobilen ethnischen Minderheit“, „Landfahrer Parkplätze“ usw.

9 Kleine Anfrage des Abg. Dr. Ulrich Goll (FDP/DVP) und Antwort des Innenministeriums, Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 15/5841 v. 7.10.2014. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/5000/15_5841_D.pdf (zuletzt 29.10.2020).

10 Kleine Anfrage des Abg. Valentin Lippmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Antwort des sächsischen Staatsministeriums des Inneren, Sächsischer Landtag, Drucksache 6/4861 v. 29.4.2016, https://kleineanfragen.de/sachsen/6/4861-personengebundene-hinweise-phw-in-polizeilichendatenbanken
(zuletzt 29.10.2020).

11 S. auch: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (1995), Art. 3.

12 Einen Überblick bietet die Kurzstudie von Markus End, Antiziganismus und Polizei (Schriftenreihe 12), hrsg. v. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2019, https://zentralrat.sintiundroma.de/antiziganismus-und-polizei/ (zuletzt 29.10.2020).

13 Vgl. Thomas Fischer, Ein Senator, seine Polizisten und 86 Trickdiebe, Spiegel Online v. 7.11.2019. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/wie-sinti-und-roma-von-der-berliner-polizeidiskriminiert-werden-kolumne-a-1295311.html (zuletzt. 29.10.2020).

14 Doris Liebscher: Clan statt Rasse – Modernisierung des Rassismus als Herausforderung für das Recht, in Kritische Justiz 4/2020, S. 529-542.

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