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Die aktuelle Debatte um Rassismus und Rechts­ex­tre­mismus in der Polizei

in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 167-177

Rechtsextremistische oder rassistische Verhaltensweisen bei der deutschen Polizei sind keineswegs ein neues Phänomen. Neu ist dagegen die anhaltende gesellschaftliche Debatte, die auch nach den Ursachen und möglichen Präventionsstrategien fragt. Ein Streitpunkt in dieser Debatte war die Frage, wann der Bundesinnenminister endlich den Weg für eine empirische Untersuchung zur Verbreitung entsprechender Einstellungen und Verhaltensweisen unter Polizist*innen frei macht. Eine solche Untersuchung steht jedoch vor immensen theoretischen wie methodischen Herausforderungen, da gerade die empirische Polizeiforschung die Ergebnisse der Rassismusforschung bisher weitgehend ignoriert, wie Alexander Bosch im folgenden Beitrag erläutert.

Nicht erst seit dem gewaltsamen Tod von Georg Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota wird in den USA unter dem Motto „Black Lives Matter“ (BLM) gegen Polizeigewalt und Rassismus demonstriert. Jedoch weiteten sich seit diesem Ereignis die Proteste global aus und befeuerten die Diskussion über Rassismus und Polizeigewalt. Auch in Deutschland wird die Debatte seitdem wesentlich breiter geführt als in den Jahren zuvor. Die Sicherheitsbehörden lieferten hierfür in den letzten Monaten, aber auch bereits in den Jahren zuvor regelmäßige Anlässe. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind der Tod Oury Jallohs 2005 in einer Dessauer Polizeizelle, die polizeilichen Ermittlungsfehler im Zusammenhang mit der Aufklärung der rechtsterroristischen Mordserie des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ oder das massive öffentliche Racial Profiling in der Silvesternacht 2016 in Köln, um nur einige Ereignisse zu nennen. Was die damalige aber von der aktuellen Debatte unterscheidet, ist, dass diese im März im Zusammenhang mit dem Tod von Georg Floyd startete, aktuell im Oktober 2020 immer noch anhält und auch noch kein Ende absehbar ist. Warum dies so ist soll in diesem Artikel erörtert werden. Darüber hinaus werden inhaltliche blinde Flecken der deutschen Polizeiforschung betrachtet und analysiert sowie Empfehlungen für eine bessere, rassismuskritische Polizeiforschung abgegeben.

Was unter­scheidet die aktuelle Debatte von früheren Debatten?

Die Problematik des Racial Profilings wird ebenso wie die Frage nach rassistischen Einstellungen und Handlungen in der Polizei bereits seit vielen Jahren regelmäßigen Abständen diskutiert. Inwieweit Polizist*innen für extrem rechte und deutschnationale Positionen ansprechbar sind, wurde auch schon in den 1980er bis in die 1990er Jahren zum Politikum, als einige Polizist*innen auf den Listen der extrem rechten Partei Die Republikaner (REP) kandidierten.[1] Auch der Umstand, dass Polizist*innen in rechtsterroristischen Gruppierungen mitwirkten ist nichts gänzlich Neues: So waren Anfang der 2000er Polizisten im rechtsterroristischen Ku-Klux-Klan aktiv (Obermaier/Schultz 2017:151ff.). Die aktuelle Debatte unterscheidet sich nicht so sehr von den Inhalten, als von der Dauer und der Intensität.

Neu ist allerdings, dass mit der extrem rechten Alternative für Deutschland (AfD) eine Partei im Bundestag und allen Landtagen der Bundesrepublik Deutschland sitzt, die offen rassistische und antidemokratische Positionen vertritt und für einen harten Law & Order-Kurs insbesondere gegenüber Migrant*innen eintritt. Deren Wahlerfolge sind Ausdruck eines erstarkenden rechtskonservativen bis -radikalen Hegemonieprojekts (in Anlehnung an Buckel et al. 2014: 61ff.), welches rassistische und antisemitische Ressentiments nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf der Straße artikuliert (bspw. auf Demonstrationen der sog. Coronaskeptiker*innen oder Querdenker*innen) oder in extremen Fällen auch terroristisch durchzusetzen versucht, wie in München, Halle oder Hanau.

Zentrales Merkmal der aktuellen Diskussion ist, dass sich in den letzten Jahren die von Rassist*innen direkt bedrohten Menschen (bspw. People of Colour, Schwarze Menschen, türkeistämmige Menschen, Muslim*innen, Jüd*innen …) durch kontinuierliche politische Arbeit Sichtbarkeit verschaffen und ihre Stimmen im politischen wie gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr überhört werden konnten. Dies führte zu einer höheren Sensibilität für Rassismus und Rechtsextremismus in Medien und Politik – auch mit einem besonderen Fokus auf Problemstellungen innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden und insbesondere der Polizei. Es waren Betroffene und Journalist*innen, die beispielsweise auf die Drohschreiben des NSU2.0 hinwiesen und hinterfragten, woher die Absender*innen unveröffentlichte persönliche Daten der Betroffenen hatten. Nur dadurch wurden die illegalen polizeiliche Datenbankabfragen sowie Hinweise auf extrem rechte Netzwerke innerhalb der Polizei ermittelt. So sind Polizist*innen im Netzwerk Nordkreuz aktiv, wo sie im Verdacht stehen, gemeinsam mit Bundeswehrsoldat*innen rechtsterroristische Straftaten vorzubereiten. Des Weiteren sind Polizist*innen Mitglieder im Verein Uniter e. V., welcher vom Verfassungsschutz als Prüffall eingestuft wurde und mittlerweile seine Gemeinnützigkeit verloren hat.[2] Auch wurden in den letzten Wochen mehrere polizeiinterne WhatsApp-Chatgruppen in Nordrhein-Westfalen und Berlin öffentlich bekannt, in denen sich Polizist*innen rassistische und extrem rechte Inhalte schickten.[3]

Diese Kumulation von Fällen hat dazu beigetragen, dass mittlerweile breite Teile der Gesellschaft wissen möchten, inwieweit Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei ein Problem sind. Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet deshalb die Durchführung einer wissenschaftlichen Studie zu dieser Thematik. Obwohl ein Finanzierungsantrag der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) für ein dreijähriges Forschungsprojekt zu rechtsextremistischen Haltungen und Handlungen in der Polizei beim Bundesinnenministerium vorlag, Beamt*innen des Bundesinnenministeriums (BMI) auf Arbeitseben bereits Unterstützung signalisierten und der Pressesprecher des BMI auf einer Pressekonferenz am 12. Juni 2020 die Studie bereits ankündigte, erteilte Bundesinnenminister Horst Seehofer diesem Vorhaben eine Absage.[4] Dies führte sowohl in den Medien als auch innerhalb der Großen Koalition zu einer kontroversen Debatte um die Durchführung einer solchen Studie. Auch wurde eine Petition zur „Durchführung einer Studie zu Racial Profiling bei den Polizeibehörden des Bundes/der Bundesländer“ beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags eingereicht und bis Ende der Mitzeichnungsfrist von 76.393 Personen unterzeichnet.[5] Dies zeigt die gestiegene Sensibilität für das Themenfeld „Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei“, die dazu beitragen dürfte, dass rassistische sowie extrem rechte Vorfälle bei der Polizei in Zukunft verstärkt öffentlich werden.

Warum eine Unter­schei­dung von Rassismus und Rechts­ex­tre­mismus wichtig ist

Zwar ist eine intensive Debatte über Rassismus und Rechtsextremismus bei der deutschen Polizei längst überfällig, doch muss darauf geachtet werden, dass die einzelnen Problemfelder voneinander getrennt und analysiert werden. Rassismus und Rechtsextremismus haben zwar etwas miteinander zu tun, dennoch darf und sollte man beide Begriffe nicht synonym benutzen, sondern Unterschiede und Gemeinsamkeiten begrifflich herausarbeiten: Rassismus äußert sich nicht notwendig als Rechtsextremismus, und Rechtsextremismus zwar oft, aber nicht notwendig als offensichtlicher Rassismus. Nur so lassen sich die Besonderheiten der beiden Problemfelder identifizieren und können effektive Gegenstrategien entwickelt werden.

Rechtsextremismus gilt als ein Sammelbegriff für verschiedenartige gesellschaftliche Erscheinungsformen und findet daher in der medialen Berichterstattung sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Verwendung. Als zentrale Elemente extrem rechter Weltanschauung werden insbesondere ein (völkischer) Nationalismus, Rassismus beziehungsweise Ethnopluralismus, Antikommunismus, Antipluralismus, Autoritarismus/Law-and-order-Denken sowie Feindschaft gegen Demokratie genannt. Jenseits der verschiedenen Varianten extrem rechter Weltanschauungen besteht deren gemeinsame Grundlage in einem Streben nach ‚rassischer‘ bzw. ‚völkischer‘ Homogenität und der „Apologie sozialer Ungleichheit“, die als naturhaft ausgegeben und entweder biologistisch oder kulturalistisch begründet und häufig mit einem Sozialdarwinismus verbunden werden. Gemeinsam bilden sie die Grundlage der rassistischen, antisemitischen, antifeministischen, homophoben und elitären Programmatik der extremen Rechten (Virchow 2016: 10).

Rechtsextremismus besteht nicht nur aus Einstellungen, sondern auch aus Verhaltensweisen und Aktionen, die das Ziel haben, die extrem rechten Vorstellungen auch in der Realität umzusetzen, dies vielfach auch gewaltförmig (Heitmeyer 1990). Es scheint zwar Einigkeit darüber zu bestehen, dass Rechtsextremismus prinzipiell eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat darstellt. Dabei bleibt allerdings umstritten, ob mit dem Rechtsstaat primär seine Institutionen gemeint sind oder aber ein demokratischer Werteverbund (Schellenberg 2013: 30). So wird im Zusammenhang mit den in Berlin und NRW aufgeflogenen WhatsApp-Chatgruppen von rassistischen und extrem rechten Inhalten gesprochen, ohne dass näher präzisiert wird, was genau die rassistischen von den extrem rechten Inhalte unterscheidet. Während man die Aktivitäten von Nordkreuz und Uniter als rechtsextrem einstufen kann, weil sie auf die Destabilisierung des demokratischen Verfassungsstaats zielen (Borstel 2017: 659), verfolgten die Chat-Inhalte in NRW und Berlin wohl nicht dieses Ziel. Zumindest ist in dieser Richtung bisher nichts bekannt geworden. Dennoch wurden dort Inhalte verbreitet, welche Geflüchteten die Menschenwürde absprachen, vor einer vermeintlichen Überfremdung Deutschlands warnten und Menschen nach Auschwitz schicken wollten – alles Inhalte, die Bezüge zur Ideologie der Ungleichheit und der NS-Zeit haben und eine Gewaltakzeptanz zeigen. Somit können die Inhalte der Chatnachrichten als rechtsextrem eingestuft werden.

Diese eindeutige Klassifizierung ist aus juristischer Sicht eine notwendige Voraussetzung, um gegen die jeweiligen Polizist*innen ein Strafverfahren einleiten zu können. An dessen erfolgreichen Ende könnte eine Verurteilung und eine Entfernung aus dem Polizeidienst stehen. Der Rechtsextremismusbegriff wird nämlich neben dem medialen und wissenschaftlichen Diskurs auch als „strafrechtlich kodifizierter Begriff“ genutzt (Jaschke/Dudek 1984: 23), da er ursprünglich aus der politischen und verfassungsrechtlichen Praxis stammt und durch das Grundgesetz, einschlägige Gerichtsurteile und die Staatsrechtslehre geprägt ist (Kiess 2011: 241ff.).

Ein zu stark an der juristischen Praxis orientierter Begriff von Rechtsextremismus verzerrt jedoch den Blick und führt zu einer Engführung bei der Problemanalyse: So spricht die Berliner Polizeipräsidentin im Zusammenhang mit 40 Verdachtsfällen von Rechtsextremismus in der Polizei davon, dass daraus folge, dass „99,9 Prozent [der Berliner Polizist*innen] fest auf dem Boden des Grundgesetzes“ stünden.[6] Die Fixierung auf ein juristisches Verständnis von Rechtsextremismus, und damit auf die eingeleiteten Ermittlungs- und Disziplinarverfahren, blendet erstens das Dunkelfeld sowie zweitens strukturellen sowie institutionellen Rassismus aus. Die alltäglichen rassistischen polizeilichen Praxen werden dadurch übersehen, fallen damit nicht ins Blickfeld der Problemanalyse und bleiben bestehen. Rassistische Praxen können aber immer als ein Angriff auf das in Artikel 3 Grundgesetz verbrieft Diskriminierungsverbot interpretiert werden. Deshalb ist es zentral, dass neben dem Rechtsextremismus auch Rassismus als Problem erkannt und analysiert wird.

Der Rassismusbegriff grenzt sich vom Rechtsextremismus insofern ab, als es sich bei ihm gerade nicht um ein politisches Einstellungsmuster handelt, das auf die politische Verfasstheit der Gesellschaft abzielt. Der Rechtsextremismus ist eine politische Ideologie, die ihre gesellschaftlichen Vorstellungen auch umsetzen möchte, während der Rassismus ein mehrdimensionales soziales Phänomen ist, das Werte, (formalisierte und informelle) Normen und Praxen in der Gesellschaft prägt und historisch entwickelte sowie aktuelle Machtverhältnisse legitimiert und reproduziert (Rommelspacher 2011: 29f.).

Und genau hier setzt die Kritik an Racial Profiling als Ausdruck des institutionellen Rassismus bei der Polizei an. In der Diskussion über Racial Profiling geht es eben nicht darum, ob sich bei einigen Polizist*innen Vorurteilsstrukturen gebildet haben und diese handlungsleitend geworden sind (Individueller Rassismus). An der Frage des Racial Profiling wird vielmehr ausgehandelt, wer als zugehörig gilt und wer nicht. Indem immer wieder als nicht weiß gelesene Personen nach § 22 Abs. 1a des Bundespolizeigesetz (BPolG)[7] oder anderen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen kontrolliert werden, wird ihnen immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie zwar deutsche Staatsangehörige sein mögen, aber nicht „deutsch“ aussehen. Racial Profiling stellt aber nicht nur die Zugehörigkeit der Kontrollierten zur deutschen Gesellschaft in Frage, sondern reproduziert und legitimiert auch gesellschaftliche Hierarchien zwischen ‚echten‘ Deutschen qua Abstammung und Deutschen qua Staatsangehörigkeit. Als ‚echte‘ Deutsche gelesene Menschen erleiden keine Nachteile aufgrund von Fremdheitszuschreibungen und damit verbundene Kriminalitätserwartungen (struktureller Rassismus). In diesem Sinne als ‚echte‘ Deutsche gelesene Personen werden nämlich nicht aufgrund § 22 Abs. 1a des BPolG an Bahnhöfen oder an als gefährlich markierten Orten kontrolliert.

Durch die Praxis des Racial Profiling wird das Verhalten Einzelner von Polizist*innen auf unveränderliche kollektive Merkmale zurückgeführt. Dadurch werden Menschen in jeweils homogene Gruppen zusammengefasst, vereinheitlicht, den anderen als grundsätzlich verschieden gegenübergestellt und dadurch in eine Rangordnung gebracht. Da sich institutioneller Rassismus auf Strukturen von Organisationen, eingeschliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen und bewährte Handlungsmaximen bezieht (ebd.: 30), kann man Racial Profiling nicht dadurch bestreiten, dass man auf die formale Neutralität der gesetzlichen Regelungen oder das Diskriminierungsverbot oder verfehlte Handlungen einzelner Polizist*innen verweist. Der rechtliche Spielraum, welcher Polizist*innen bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen offensteht, verlangt von ihnen, dass sie bei ihrer Auswahlentscheidung auf eine spezielle Berufs- und Lebenserfahrung zurückgreifen, die man mit Janet Chan als polizeiliches dictionary knowledge bezeichnen kann. Dieses Wissen teilt das polizeiliche Gegenüber in Kategorien ein und lässt Polizist*innen entsprechend handeln (Janet Chan 1996: 119f.). Wenn die Polizei nun den Auftrag hat, illegal Eingereiste zu identifizieren, dann sucht sie nach Personen welcher ihrer Erfahrung nach nicht-deutsch sein könnten. An der Problematik des Racial Profiling sieht man sehr schön, dass es nicht damit getan ist, Rassismus als individuelle rechtsextreme Einstellung zu begreifen, sondern dass Probleme auch im Ineinandergreifen von individuellem, institutionellem und strukturellem Rassismus bestehen.

Struk­tu­reller und Insti­tu­ti­o­neller Rassismus und Polizei – Der blinde Fleck der deutschen Polizei­for­schung

Vernünftige Rassismusanalysen sind folglich primär macht- und herrschaftssoziologisch sowie ungleichheitstheoretisch zu fundieren, auch wenn sozial- und gruppenpsychologische Momente von großer Relevanz sind (Scherr 2011: 85). Dennoch zeigen Hunold/Wegner, dass sich die Forschung zu Rassismus und Rechtsextremismus und Polizei in Deutschland überwiegend mit Fragen innerpolizeilicher Einstellungsmuster beschäftigen (Hunold/Wegner 2020). Wenn Rassismus aber an Herrschaft und subtile Formen von Macht gekoppelt ist, dann wird Rassismus nicht nur von einzelnen Personen praktiziert und verbreitet, sondern reproduziert sich in den Alltagspraxen der Einzelnen und auch der (sicherheitsbehördlichen) Institutionen. Dieser Aspekt wurde aber bisher kaum rassismuskritisch untersucht.

Es reicht deshalb eben nicht aus zu fragen, wo die Grenzen zwischen einer in diesem Berufsfeld mutmaßlich überproportional verbreiteten wertkonservativen Haltung und einer latent rassistischen liegt, und welche Rolle dabei kritische Situationen des Berufsalltags spielen (Feltes/Plank 2020: 4). Die Polizeiforschung muss sich bspw. auch die Frage stellen, wie es möglich ist, dass polizeiintern eine rassistische Broschüre zum Umgang mit „Arabischen Familienclans“ ausgegeben wird und niemand in der Polizei daran Anstoß nimmt.[8] Deshalb ist es richtig, wenn Rafael Behr davon spricht, dass eine Kultur der Aufmerksamkeit innerhalb der Polizei geschaffen werden muss und Wissenschaft wie Politik analysieren müssen, wie solche Grenzüberschreitungen möglich werden (Behr 2020). Dieser Anspruch wird aber zugleich wieder unterlaufen, wenn sowohl innerhalb der deutschen Polizei als auch in der Polizeiforschung der aktuelle Stand der Rassismusforschung nicht zur Kenntnis genommen wird, insbesondere zu den Funktionsweisen von institutionellem und strukturellem Rassismus. Nur so ist es zu erklären, dass derselbe Rafael Behr davon spricht, dass „jeder und jede in eine Situation geraten [kann], in der er oder sie gegen die Standards der Polizei verstößt“ (ebd.) und dabei ausblendet, dass auch polizeiliche Standards rassistische Praxen umfassen. Oder Feltes/Plank von der Annahme ausgehen, „dass es keinen strukturellen Rassismus in der Polizei gibt“ (Feltes/Plank 2020: 1). Hier wird deutlich, dass sie Rassismus nicht als eine strukturelle Eigenschaft einer bestimmten sozialen Ordnung betrachten, sondern als subjektives Phänomen, bei dem eben einzelne gegen die Standards der Polizei verstoßen würden. Diese Sicht impliziert, dass polizeiliche Praxen, die im Einklang mit den Standards der Polizei sind, frei von Rassismus wären. Dabei zeigen die Problematik des Racial Profiling, die Ausgabe der Handreichung zu „Arabischen Familienclans“ oder diverse diskriminierende Benennungen von Ermittlungsgruppen (SoKo Bosporus, SoKo Casablanca), dass Rassismus auch in den normativen Standards der Polizei zu finden ist.

Auch die im Rahmen der Aufarbeitung des NSU-Komplex bekannt gewordene Operative Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg zeigte schon exemplarisch, wie institutioneller Rassismus funktioniert. Darin heißt es, dass die Täter*innen wahrscheinlich aus dem Ausland stammen, weil in „unserem Kulturkreis Tötungen tabuisiert sein“. Deshalb verwarf man Ermittlungen ins rechtsextreme Milieu (Fereidooni 2016:44 f.).
Die grundlegende Einsicht in das Wesen des institutionellen Rassismus, dass Institutionen diskriminierende Annahmen inkorporieren und dies diskriminierende Konsequenzen hat (Gomolla/Radtke 2009: 43), wird in der Polizei und der Polizeiforschung leider weitestgehend ignoriert. Dabei zeigt nicht zuletzt das Beispiel der erwähnten Broschüre zu „Arabischen Familienclans“, dass rassistischen Annahmen weiterhin polizeiliche Lagebilder, Fallanalysen oder Ermittlungsgruppen prägen können und Auswirkungen auf die polizeiliche Praxis haben.

Die Ursache für diesen blinden Fleck könnte im rassistischen common sense liegen (Essed 1991: 18-25). In der Regel funktioniert der rassistische common sense wie folgt: Es gibt eine moralische Ächtung des Rassismus und man ist der Überzeugung, man selbst oder die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, könne nicht rassistisch sein (Marz 2020: 15). Dieser common sense geht oft einher mit einem verkürzten Rassismusverständnis, welches Rassismus primär als sozial- und gruppenpsychologisches Phänomen begreift, und eben nicht macht- und herrschaftssoziologisch.

Hinzu kommt, dass der Rassismusbegriff in Deutschland in einem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht. Er ist mit den grausamsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit verknüpft und scheint deshalb für die Beschreibung von Alltagsphänomenen ungeeignet. Übersehen wird dabei jedoch, dass auch die Verbrechen des Nationalsozialismus sich auf eine breite Palette von Ausgrenzungspraxen stützten. Dazu gehörten auch all die alltäglichen Formen von Rassismus. Rassismus widerspricht dem positiven Selbstbild einer geläuterten, demokratischen Nachkriegsgesellschaft. Er wird deshalb in seiner Bedeutung heruntergespielt (Rommelspacher 2011: 33f.).

Erschwerend kommt bei der Auseinandersetzung mit Rassismus hinzu, dass historisch verschiedene Formen des Rassismus dadurch verbunden sind, dass jeder Rassismus ein projektive Konzeption ist, die soziale Differenzen, soziale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse affirmativ zu erklären versucht (Bojadžijev 2012: 25). Deshalb spricht man in der Rassismusforschung auch von diversen Formen von Rassismen, welche jeweils in ihren spezifischen Situationen und Konstellationen analysiert werden müssen.

Leider werden rassismuskritische Analysen und Expertisen nur selten bis gar nicht angefragt, eine systematische Aufarbeitung rassistischer Strukturen, Einstellungen und Verlaufsformen in einer Einwanderungsgesellschaft wie der deutschen findet bisher kaum statt (Bojadžijev et al.  2019: 60). Das gilt insbesondere auch für die deutsche Polizeiforschung. Kritische Rassismusforschung geht davon aus, dass Rassismus nicht nur als Rechtsextremismus, als individuelle Eigenschaft oder subjektives Reaktionsmuster verstanden werden kann. Es handelt sich um ein dynamisches Feld, in dem politische Ideologien, Staatshandeln, institutionelle Regeln, kulturelles Codes, ökonomische Strategien, sozialpsychologische Einstellungen und verkörperte Routinen unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene zusammenfinden (ebd.: 61). Das Wissenschaftsfeld der Rassismusforschung ist darauf angelegt, die Zusammenhänge dieser Facetten, ihre Widersprüche und Transformationen zu analysieren und sollte auch endlich verstärkt in der deutschen Polizeiforschung Beachtung finden.

Fazit

Wie gezeigt werden konnte, unterscheidet sich die aktuelle Debatte über Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei dadurch, weil einerseits die vorangegangenen Diskussionen zu einer höheren Sensibilität für das Themenfeld geführt  und andererseits die gesellschaftlichen Umstände sich geändert haben. Nichtsdestotrotz ist wichtig genau zu unterscheiden: Wann geht es um Rechtsextremismus und wann um Rassismus? Wenn man beide Begriffe synonym benutzt, werden die analytischen Unterschiede nicht deutlich. Dies verhindert eine adäquate Problembearbeitung. Insbesondere bei der Bekämpfung von Rassismus in der Polizei sollten Erkenntnisse der Rassismusforschung mehr Beachtung finden. Wird Rassismus weiterhin primär sozial- und gruppenpsychologisch analysiert, bleiben vernünftige Rassismusanalysen aus. Probleme im Zusammenhang mit strukturellem und institutionellem Rassismus bei der Polizei bleiben so unsichtbar. Deshalb wäre ein finanziell gut ausgestattetes Forschungsprogramm zu „Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei“ wichtig, bei dem sich verschiedene Universitäten und Forschungsinstitute mit unterschiedlichen Forschungsdesigns bewerben können und mehrere Studien mit unterschiedlichen Perspektiven gefördert werden. Nur indem man sich den Polizeialltag rassismuskritisch aus verschiedenen Perspektiven und Disziplinen anschaut, können bestehenden blinde Flecken bei der Aufarbeitung sowie Analyse von Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei beseitigt werden. Zentral hierbei ist aber, dass insbesondere Polizei und Innenministerien ihre Blockadehaltung gegen solche Studien aufgeben und Wissenschaftler*innen vollumfänglichen Forschungszugang gewähren.

ALEXANDER BOSCH   hat an der Humboldt Universität zu Berlin (Master) und der Universität Osnabrück (Bachelor) Sozialwissenschaften studiert. Aktuell arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HWR Berlin zu polizeilichen Personenkontrollen. Er promoviert an der HU Berlin über rassistische Wissensbestände in der Polizei und ist Mitglied im unabhängigen Forschungsnetzwerk Sicherheit & Polizei. Vor seiner Zeit in der Wissenschaft hat er als Sozialarbeiter in einem sozialpädagogischen Fanprojekt, in der politischen Erwachsenenbildung und als Referent für Amnesty International Deutschland gearbeitet.

Literaturverzeichnis

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Anmerkungen:

1 S. Bürgerrechte & Polizei (CILIP), Heft 33 (2/1989): 70 ff.

2 https://www.n-tv.de/politik/Uniter-verliert-Gemeinnuetzigkeit-article21610112.html (aufgerufen am 13.11.2020).

3 https://www.tagesschau.de/inland/rechtsextremismus-sicherheitsbehoerden-101.html (aufgerufen am 01.11.2020).

4 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-ministerium-verzoegert-weitererassismusstudie-zur-polizei-a-f5539bb8-b552-42e7-a8c9-35b6cecd4806 (Aufgerufen am 25.10.2020).

5 https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2020/_07/_06/Petition_113349.nc.html (aufgerufen am 25.10.2020).

6 https://www.spiegel.de/panorama/justiz/berlin-polizei-geht-wegen-rechtsextremismusverdachts-gegen-dutzende-kollegen-vor-a-48029f19-74ec-4383-845a-88294364b600 (aufgerufen am 03.11.2020).

7 § 22 Abs. 1 a BPolG erlaubt es der Bundespolizei jede Person kurzfristig anzuhalten, zu befragen und deren Ausweispapiere in Augenschein zu nehmen, von der sie annimmt, dass diese sich unerlaubt auf dem Bundesgebiet aufhält (dazu umfassend: Cremer 2013).

8 https://www.welt.de/politik/deutschland/plus216341404/Polizei-in-NRW-Eine-bemerkenswerte-Broschuere-zu-Clans.html (aufgerufen am 08.11.2020).

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