Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Dritte Welten

Ein aktueller Literaturbericht

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), 49-55

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schienen entwicklungspolitische Diskussionen zusehends an den Rand der Öffentlichkeit gedrängt. Zu groß waren offenbar die Umbrüche, die mit dem Untergang des Kommunismus, der deutschen Einheit und schließlich der NATO- und EU-Osterweiterung einhergingen, als da noch Platz war für die Nöte ferner Weltgegenden. Doch dieser oberflächliche Eindruck stimmt nur zum Teil: Unterhalb der medialen Reizschwelle großer nationaler Debatten entwickelte sich eine kaum zu übersehende Forschungslandschaft, mit zahllosen Institutionen, Konferenzen, Publikationen. Auch die Aktionen der Globalisierungskritiker in den letzten Jahren haben diesen Prozess unterstützt.

So wie sich die Dritte Welt ausdifferenziert hat und sich als einender Begriff für die Länder der südlichen Hemisphäre im Grunde kaum mehr halten kann, so hat sich auch die Forschung auf viele Teilaspekte spezialisiert. Doch der Grundannahme, dass das Verhalten im Norden auf die Gesellschaften der Entwicklungsländer in der globalisierten Welt noch stärkeren Einfluss als ehedem hat, folgen fast alle. In diesem Sinne kann also tatsächlich „jeder Biss eine Revolution” sein, wie es im diesjährigen Worldwatch-Bericht heißt:

Worldwatch Institute (Hg.) in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch: Zur Lage der Welt 2004. Die Welt des Konsums, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2004, 347 S., ISBN 3-89691-570-3; 19,90 Euro

Wer etwas über die Zusammenhänge zwischen Konsumverhalten hierzulande und gerechterer Weltwirtschaftsordnung wissen möchte, wird hier vielfach fündig. Der lange totgesagte Postmaterialismus feiert in dem Band fröhliche Urständ. Eingeleitet durch ein Grußwort von Renate Künast, beschäftigen sich die frei von Jargon gehaltenen Beiträge mit Möglichkeiten zum effizienteren Energieverbrauch, mit bewussterem Essen, mit dem Einfluss öffentlicher Investoren auf eine ökologisch ausgerichtete Produktpalette und vielen anderen Beispielen, wie sich der gigantische Ressourcenverbrauch im Norden beschränken und umlenken lässt. In Einschüben wird anhand ausgewählter Produkte (z.B. Plastiktüten, Baumoll-T-Shirts und Mobiltelefone) über deren Erzeugungsbedingungen berichtet — und durch diese Hintergrundinformationen weiß man dann auch, weshalb man im Interesse der Bauern in Ghana oder Brasilien Schokolade mit hohem Kakaoanteil kaufen sollte.

Das Neue Jahrbuch Dritte Welt 2003 stellt die konkreten Auswirkungen der Globalisierung auf die Entwicklungsländer in den Mittelpunkt:

Joachim Betz/Stefan Brüne (Hg.): Neues Jahrbuch Dritte Welt 2003. Globalisierung und Entwicklungsländer, Leske + Budrich: Opladen 2003, 164 S., ISBN 3-8100-3668-4; 12,90 Euro

Weniger kulturelle Identitäten oder Probleme von Nationalstaaten interessieren die Autoren, sondern es geht vor allem um wirtschaftliche und soziale Auswirkungen in den Entwicklungsländern. Die regionalen Unterschiede werden überdeutlich: So wie in einzelnen Schwellenländer Konzerne und Unternehmer von der zusammenwachsenden Welt profitieren (Taiwan, China, Indien), so gibt es andere Länder, vor allem in Afrika, die von den positiven Folgen der Globalisierung weitgehend abgeschnitten sind und in denen zudem vor allem die Eliten des jeweiligen Landes durch AIDS dezimiert werden. Keine Region wird in diesem Band ausgelassen: das macht ihn zu einer idealen Überblicklektüre für alle, die sich über den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre von Lateinamerika bis Südostasien informieren wollen.

In der diesjährigen Ausgabe beschäftigt sich das Jahrbuch mit einem Thema, von dem man in eurozentristischer Manier annehmen könnte, es werde nur hierzulande heftig debattiert:

Joachim Betz/Wolfgang Hein (Hg.): Neues Jahrbuch Dritte Welt 2004. Soziale Sicherung in Entwicklungsländern, Leske + Budrich: Opladen 2004, 284 S., ISBN 3-8100-4002-9; 12,90 Euro

Wiederum sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen groß (die wichtigen Ländergruppen bzw, einzelne Staaten werden in Überblicksartikeln fundiert porträtiert); ebenso wie die zumeist politisch erkämpften Fortschritte in vielen Ländern seit den 1970er Jahren. Gegenwärtige Probleme entstehen durch die rapide gestiegene Lebenserwartung, die die Alterssicherungssysteme belasten und auch zu anschwellenden Kosten für das Gesundheitssystem führen. Hier entstehen schon jetzt Friktionen in Ländern, die noch gar nicht über eine Sozialstaatstradition verfügen. Optimistisches lässt sich gleichwohl entdecken: Lars Kohlmorgen diagnostiziert eine globale Sozialpolitik, die auf mehreren Ebenen langsam und allmählich auch international zu einer Verfestigung sozialer Standards führt.

Seit 24 Jahren spiegelt die Zeitschrift Peripherie die zentralen entwicklungspolitische Debatten kritisch wieder und stellt Verbindungslinien zu scheinbar randständigen Fragen her:

Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 1980ff., vier Ausgaben jährlich mit je ca. 140 S., ISSN 0173-184X; 9,10 Euro (Doppelheft 18,20 Euro)

Im Themenheft „Tourismus” (Heft 89) erfährt man in einem schönen Überblicksartikel über die Genese der Tourismuskritik etwas über die „Tourismus-Theorie” des 29jährigen Hans Magnus Enzensberger, der in den reisenden Massen die „Kraft einer blinden, unartikulierten Auflehnung” zu sehen glaubte, eine Flucht, die wie jede Absetzbewegung das kritisiert, „wovon sie sich abwendet”. Aram Ziai analysiert in der „Neoliberalismus“-Ausgabe (Heft 90/91) den Entwicklungsdiskurs des Ministeriums von Heidemarie Wieczorek-Zeul und diagnostiziert einen „weichen” Neoliberalismus, der im Unterschied zum Marktradikalismus der frühen 1990er Jahre immerhin die Notwendigkeit von Armutsbekämpfung erkannt hätte, aber Interessengegensätze am liebsten in postulierten „Synenergieeffekten” auflösen würde. Das sehr zu empfehlende Heft 92 versucht das, was Michel Foucault nicht getan hat: es wendet seinen Begriff der „Gouvemementalität” auf die Dritte Welt und die Globalisierung an.

Entwicklungspolitik und Menschenrechte standen von Anbeginn an in einem Spannungsverhältnis. Auch wenn die Menschenrechte in den letzten Jahren an Bedeutung im Entwicklungsdiskurs gewonnen haben (vgl. den Beitrag von Gerhart Baum in diesem Heft), bleiben sie Daueraufgabe, wie der Band Ulla Selchow/Franz-Josef Hutter (Hg.): Menschenrechte und Entwicklungszusammenarbeit. Anspruch und politische Wirklichkeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2004, 304 5., ISBN 3-8100-3737-0; 19,90 Eurobelegt.

Häufig sind es Großprojekte in Entwicklungsländern (Staudämme, Erzabbau, Ölbohrungen), bei denen internationale Konzerne und nationale Regierungen unheilige Allianzen eingehen, wie Mathias John es beschreibt: es kommt zu gewaltsamen Vertreibungen von Menschen aus ihren Siedlungsgebieten, bei den Protesten dann zu Über-griffen und Verhaftungen. Durch OECD-Richtlinien, den Global Compact der UNO seit 2000, Arbeitsgruppen der UN-Menschenrechtskommission u.a. wird zumindest in jüngster Zeit die Verantwortung der Unternehmen stärker eingefordert. Henning Boekle kritisiert die Entwicklungspolitik der Bundesregierung, die zum Beispiel China regelmäßig umfangreiche Hilfe zukommen lässt oder die indonesische Suharto-Diktatur trotz massivster Menschenrechtsverletzungen unterstützte.

Wer sich rasch über ldee und Geschichte der Menschenrechte informieren möchte, kann das mit Hilfe der kleinen Einführung von
Brigitte Hamm: Menschenrechte. Ein Grundlagenbuch, Leske + Budrich: Opladen 2003, 177 5., ISBN 3-8100-2338-1$;12,90 Euro
tun. In elf Kapiteln stellt die Autorin die ideengeschichtliche Begründung und die verschiedene Definitionen von Menschenrechten vor. Sie verfolgt, wie die Vereinten Nationen sich zu deren Anwalt machten, wie die Frauen um Teilhabe weltweit kämpften und kämpfen, wie Wirtschaft, Staaten und Nichtregierungsorganisationen mit dem Thema umgehen und wie die deutsche Menschenrechtspolitik hierzulande zu bewerten ist. Ein nützlicher Anhang mit Auszügen aus den einschlägigen Dokumenten rundet dieses ebenso hilfreiche wie informative Buch ab.

„Ich hatte eine Farm in Afrika”: von Tania Blixens kolonial romantischer Afrikaschwärmerei ist nicht mehr viel übriggeblieben. Der Kontinent ist in der öffentlichen Wahrnehmung auf Geiselentführungen in der Sahara, Genozid und Bürgerkriegen in Somalia, Sudan oder Ruanda und grassierende AIDS-Epidemien im Osten und Süden reduziert. Immerhin drei Seiten zum Thema HIV/AIDS bietet auch ein ausgezeichnetes Afrika-Lexikon:

Rolf Hofineier/Andreas Mehler (Hg.): Kleines Afrika-Lexikon. Politik — Wirtschaft — Kultur, C.H.Beck: München 2004, 359 S., ISBN 3-406-51071-X; 14,90 Euro

Das auf das subsaharische Afrika beschränkte Nachschlagewerk wendet sich an den interessierten Nicht-Fachmann, die Einträge wurden von renommierten Spezialisten verfasst und sind mit weiterführender Literatur versehen. Es gibt Einführungsartikel zu je-dem afrikanischen Staat; aber auch übergreifende Fragen werden auf knappem Raum beantwortet, wie z.B. die nach den Familien- und Geschlechterverhältnissen. Hier er-fährt man, dass schon 1905 der erste Film in Afrika gezeigt wurde und dass ein Drittel aller menschlichen Sprachen in Afrika gesprochen wird.

Eine Hamburger politikwissenschaftliche Dissertation untersucht am Beispiel Namibias und Botswanas die Rolle von Parteien in afrikanischen Gesellschaften:

Christoph Emminghaus: Politische Parteien im Demokratisierungsprozess. Struktur und Funktion afrikanischer Parteiensysteme, Leske + Budrich: Opladen 2003, 294 S., ISBN 3-8100-3480-0; 29,90 Euro

Ein Drittel der Arbeit widmet sich der theoretisch-methodologischen Erarbeitung eines Analyserahmens, der dann auf den verbleibenden 150 Seiten empirisch fruchtbar gemacht wird. Lediglich vier parlamentarische Regierungssysteme existieren in Afrika (Botswana, Mauritius, Äthiopien, Lesotho); die meisten anderen Staaten werden präsidentiell oder in Mischformen regiert. Für Botswana und Namibia untersucht der Autor Programmatik der in den Parlamenten vertretenen Parteien, deren Wählerschaften, die parteipolitische Praxis und die Personalauswahl. Parteipolitik bleibt in beiden Ländern Angelegenheit einer kleinen hauptstadtnahen Elite; undemokratische Tendenzen in den Parteien befördern autokratische Führungsfiguren. Parteien sind jedoch in beiden Ländern ein wichtiges strukturgebendes Element. Der Autor zeigt in seiner sehr gelehrten Studie, dass trotz aller funktionalen Unterschiede einzelne Modelle der europäischen Parteienforschung erstaunlicherweise offen für die Übertragung auf andere Kulturräume sind — vielleicht wird es künftig noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Parteiensystemen hier und dort geben?

Zehn Jahre ist es her, dass die Weltöffentlichkeit mit Schaudern vom Genozid in Ruanda hörte. Auf tausend Seiten hat die Historikerin Alison Des Forges, Senior Adviser in der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch, eines der großen Menschheitsverbrechen nachgezeichnet:

Alison Des Forges: Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburger Edition: Hamburg 2003, 947 S., ISBN 3-930908-80-0; 40 Euro

Nach der Vorgeschichte des Konflikts zwischen den Tutsi und Hutu-Volksgruppen schildert sie minutiös den Ausbruch der Gewalt, benennt die Verantwortlichen, zeigt, wie die UN-Blauhelme zu schwach waren, sich durchzusetzen, wie vor Ort die Massaker durchgeführt wurden, wie sich Flüchtlinge an „gute” Straßensperren erinnerten — solche, an denen man nicht vergewaltigt oder erschossen wurde. „Die Überlebenden tragen Narben, die besser als Worte zeigen, mit welcher Brutalität man gegen sie vorgegangen ist.” Es ist ein Panorama das Grauens, das die Autorin ausbreitet und an jeder Stelle belegen kann, oft mit Hilfe von faksimilierten Dokumenten. Das Versagen der westlichen Staatengemeinschaft wird ebenfalls detailliert beschrieben: die Angst der Amerikaner vor einem zweiten Somalia, die Furcht Mitterands, sich in den Unübersichtlichkeiten afrikanischer Konflikte zu verstricken, die Furcht vor dem Wort „Völkermord”, das Verpflichtungen bedeutet hätte, die man nicht eingehen wollte usw. Dieses Buch ist ein erdrückendes Dokument westlichen Versagens.

Wie sehen regionale Antworten in der Dritten Welt auf die Herausforderung der Globalisierung aus? Dieser Frage geht der Sammelband Peter Birle u.a. (Hg.): Globalisierung und Regionalismus. Bewährungsproben für Staat und Demokratie in Asien und Lateinamerika, Leske + Budrich: Opladen 2002, ISBN 3-8100-3134-8; 33 Euro

nach, konzentriert auf Lateinamerika und Asien. Hans-Jürgen Puhle glaubt daran, dass europäische Muster und Werte durch Kolonialismus, Imperialismus, Migration und Bildungstransfer universelle Gültigkeit erlangt haben; Aurel Croissant untersucht die Demokratiefähigkeit asiatischer Staaten und kommt zu optimistischen Prognosen. Verschiedene Beiträge beschäftigen sich mit regionalen Kooperationen, Freihandelszonen und Staatengemeinschaften und deren Problemlösungskompetenzen. Insgesamt bietet der Band ein facettenreiches Bild, dem jedoch ein besser erkennbarer roter Faden zu wünschen gewesen wäre.

„Frauen, geht online!” Diesen Rat und viele andere praktische Beispiele bekommt man im Band von Christa Randzio-Plath (Hg.): Frauen und Globalisierung. Zur Geschlechtergerechtigkeit in der Dritten Welt, Dietz: Bonn 2004, 258 S., ISBN 3-8012-0344-1;12,80 Euro

In 56 Beiträgen teils prominenter Autorinnen, so von Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bischöfin Maria Jepsen, Gewerkschafterin Ursula Engelen-Kefer, Monika Griefahn und von der Generalsekretärin der deutschen amnesty-Sektion, Barbara Lochbihler, wird die Situation von Frauen in der Dritten Welt thematisiert. Von Teenagermüttern in Jamaika und Tansania, Kaffeebäuerinnen in Honduras u.v.m, wird in kurzen Texten erzählt, immer auf Anschaulichkeit setzend, ohne Anspruch auf allzu große Wissenschaftlichkeit und oft unterhaltend. Der Feminismus in Nicaragua interessiert dabei ebenso wie frauenfördernde Kulturpolitik im Iran, alltägliche Gewalt gegen Frauen. Es ist eine Bestandsaufnahme in Form eines mutmachenden Potpourris geworden.

Mut hatten zweifellos auch die philippinische Frauen, die sich zu einer Ehe mit Männern aus einem anderen, westlichen Kulturkreis entschlossen. Andrea Lauser präsentiert sie in einer sehr schön lesbaren ethnographischen Arbeit:

Andrea Lauser: „Ein guter Mann ist harte Arbeit”. Eine ethnographische Studie zu philippinischen Heiratsmigrantinnen, transcript Verlag: Bielefeld 2004, 340 S., ISBN 3-89942-218-X; 28,80 Euro

Überzeugend gelingt ihr die Verknüpfung von Makroperspektiven mit individuellen Personen und Erfahrungen. Heiratsmigration basiert immer auf der Hoffnung nach sozialem und ökonomischem Aufstieg für die gesamte Herkunftsfamilie, die in Schritten nachgeholt worden sind. Sie ist häufig die letzte Stufe von gestaffelten Migrationsschritten, die mit Arbeitsmigration beginnt (vgl. den Beitrag von Nicole Weber in diesem Heft) – immer beschrieben als aktiv gestalteter Lebensschritt mit selbstbewussten Entscheidungen und Motiven. Die Autorin, lange Jahre in den Philippinen lebend und arbeitend, berichtet auch über die dortigen Ehe- und Geschlechtervorstellungen und wendet sich gegen eine simplifizierende Deutung von Heiratsmigrantinnen als bloße Opfer. Plastisch wird ihre Studie durch die Fülle an Einzelschicksalen, mit denen die Autorin ihre Untersuchung anschaulich und farbig untermauern kann.

Wie haben theoretische Gerechtigkeitsdiskussionen die entwicklungspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte geprägt? Thomas Kesselring entfaltet ein philosophisches Panorama mit John Rawls, Amartya Sen, Martha Nussbaum und vielen anderen:

Thomas Kesselring: Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung, C.H.Beck: München 2003, 323 S., ISBN 3-406-50920-7; 24,90 Euro

Der Autor verliert jedoch über dem intellektuellen Höhenkamm die praktischen Konsequenzen des Denkens über Entwicklungsgerechtigkeit nicht aus dem Blick. Als entscheidend für Fortschritte in den Entwicklungsländern erachtet er die Internalisierung von Gemeinschaftsvorstellungen in diesen Ländern, die eine allgemein akzeptierte Ordnung zur Folge hat, nach der sich dann die jeweilige Gesellschaft entwickeln kann. Da-bei spielen die internationalen Akteure und Institutionen eine wichtige Rolle: Denn wenn die Verteilungsregeln festgelegt werden sollen, müssen auch globale Akteure wie WTO, IWF und Weltbank nicht zuletzt aus Gründen der Glaubwürdigkeit demokratisiert werden – vielleicht das wichtigste ethische Problem, vor dem die globalisierte Welt im Moment steht. Auf diese Weise erführe die demokratische Entwicklung vor Ort praktischen Anschauungsunterricht hinsichtlich Gleichberechtigung und Teilhabe auch der armen Länder am internationalen System.

Praktizierte Ethik verkörperte in vielerlei Hinsicht das Leben von Willi Hoss, KPD-Mitglied, Grünen-Mitbegründer und Bundestagsabgeordneter, Daimler-Betriebsrat, engagierter Entwicklungshelfer in Brasilien und Vater der Schauspielerin Nina Hoss. Sein Leben hat der im Jahr 2003 Verstorbene im Gespräch mit dem Herausgeber dem Ton-band anvertraut, aus dem ein schönes Buch mit vielen originellen Fotos entstanden ist:

Willi Hoss: „Komm ins Offene, Freund”. Autobiographie, hg. v. Peter Kammerer, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2004, 254 S., ISBN 3-89691-552-2; 19,90 Euro

1929 geboren, war Hoss in gewisser Weise ein Außenseiter in der die alte Bundesrepublik so entscheidend prägenden 1945er-Generation, als „echter” Arbeiter im linken Milieu der 1960er und 1970er Jahre. Der Vater war Mitbegründer der KPD nach 1945 im Rheinland, sechzehnjährig wird Hoss ebenfalls Mitglied der Partei, der er bis zu seinem Ausschluss 1970 angehört. Seit 1959 arbeitete er als Schweißer bei Daimler-Benz in Stuttgart, der 1968 spätabends die studentischen Flugblätter so umformulierte, dass die Arbeiter sie am nächsten Morgen verstanden, wenn Hoss um 7 Uhr seine Schicht begann. Ein Leben mit vielen Brüchen und Wandlungen, jedoch ausgestattet mit dem Optimismus derer, „die praktische Arbeit leisten und deren Früchte sehen und mit Händen greifen”, wie der Herausgeber über Hoss‘ spätes Wirken in Brasilien schreibt. 1984 reiste er als Bundestagsabgeordneter das erste Mal in das Land. Nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament 1990 engagierte er sich verstärkt vor Ort, brachte Daimler-Benz da-zu, Naturfasern aus brasilianischem Anbaü in den Kopfstützen von Autos zu verwenden, organisierte Trinkwasserprojekte in Amazonien und setzte sich für die Rechte der Indianer ein; der Ka’por-Stamm ernannte ihn gar zu seinem Ehrenhäuptling. Willi Hoss hat es vermocht, die Eine Welt zu einer beeindruckend konkreten Utopie werden zu lassen.

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